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Buchveröffentlichungen  









Annotation zum Buch

Frauenwut umgebaut

Lebensgeschichten elf ungewöhnlicher Europäerinnen

Hg.: Margit Stolzenburg

Autorinnen: Hanna Behrend, Hella Hertzfeldt, Mira Renka, Gisela Richter, Margit Stolzenburg

Elf europäische Frauen sehen am Ende des zweiten Jahrtausends auf ihr Leben im 20. Jahrhundert. Sie haben einen großen Teil davon miterlebt und –gestaltet, denn sie gehören den Jahrgängen 1917 bis 1935 an. Aus verschiedenen Ländern und Milieus kommend, spannen sie den Bogen von sich unterschiedlichen Autoritäten unterordnenden Wesen hin zu selbstbewussten, ihren Weg findenden engagierten Frauen mit eigenen Zukunftsvisionen. Sie sprechen nicht von dem Jahrhundert der Frauen, aber sie zeigen mit ihrem Beispiel auf, dass Frauen es sich nicht mehr nehmen lassen, diese Welt nach ihren eigenen Vorstellungen ganz selbstverständlich mitzugestalten.

Sie erzählen – manchmal auch mit Humor und der ihnen eigenen Fähigkeit zur Selbstironie - über das, was sie erlebt und reflektiert haben. So machen sie auf unterhaltsame Weise aus Frauensicht mit Blick auf die Welt ein facettenreiches Stück europäischer Geschichte sichtbar. In ihren Biografien werden die Zerrissenheit und die Chancen des vergangenen Jahrhunderts sichtbar – auch in den privaten Lebensbereichen. In ihren Zukunftsvisionen machen sie deutlich, welch große Anstrengungen sie für notwendig erachten, um auf unserem Planeten zu einem für alle lebbaren Leben zu kommen.

Die Gespräche wurden aufgezeichnet von einer Autorinnengruppe, die dem Forum „Ökonomie & Arbeit“ angehören, einer international vernetzten autonomen Gruppe engagierter Frauen, die auf der Suche ist nach gesellschaftlichen Alternativen für eine nachhaltige, emanzipatorische Entwicklung. Die Interviewerinnen Hanna Behrend, Hella Hertzfeldt, Mira Renka, Gisela Richter und Margit Stolzenburg konnten ihre unterschiedlichen Sprachkenntnisse nutzen, um die Gespräche zu führen, aufzuzeichnen und zu übersetzen.

Nachfolgend werden die interviewten Frauen jeweils in einem Kurzporträt vorgestellt.


Hedda Jullien, Jahrgang 1921, Frankreich:

Am Ende ihres Lebens im siebten Jahrzehnt resümierte Hedda Jullien: „Ich begriff: ‚Ich bin überall die Andere. Bei den Franzosen bin ich die Andere, bei den Juden bin ich die Andere. Nur bei den Frauen bin ich nicht die Andere. Da gehöre ich dazu. Da ist mir meine Identität bewusst geworden. Meine Heimat, das sind die Frauen.’“

An ihrem Sarg auf dem Pariser Friedhof Montparnasse trauerten unzählige Frauen. In Gedanken dabei waren vor allem Frauen aus vielen Ländern, die sie gekannt haben. Hedda Jullien ist eine Welt-Frau. Sie ist in unseren Herzen eine Mitstreiterin geblieben.

Als 11jährige hat sie gemeinsam mit ihren Geschwistern und Eltern 1933 ihre Heimatstadt Berlin verlassen müssen, weil sie Juden sind und findet in Frankreich ein neues Zuhause.

In der Emigration durchlebt sie die Schmach, als unbescholtene Familie stets um das Leben fürchten und auf der Flucht sein zu müssen, woran ihr Vater, ein ehemals politischer und stolzer Mensch, zerbricht. In den Auffanglagern lernte sie, die weder eine Beziehung zur jüdischen Religion noch zum jüdischen Volk hatte, die jüdische Kultur, die jiddische Sprache und die jiddischen Volkslieder kennen und lieben.

In Paris baut sich Hedda nach dem Krieg ein neues Leben auf. Sie lernt ihren Ehemann kennen, einen sensiblen „Anarchisten“, der vom Modell der kubanischen Revolution träumt.

Als der Elan der 68er im Alltag versickert ist, verzweifelt er am Leben. Heddas unbeirrte Entwicklung zu einer politisch selbständig denkenden selbstbewussten Frau mag das Ihre dazu beigetragen haben.

Als sprachkundige und engagierte Mitarbeiterin der Internationalen Vereinigung der Widerstandskämpfer und Deportierten, welche die Anspruchsberechtigten nach dem deutschen Bundesentschädigungsgesetz vertritt, wird sie – mit den vielen persönlichen Dimensionen faschistischer Barbarei und dem zähen Kampf um ein wenig Wiedergutmachung konfrontiert – noch Jahre nach dem Krieg oft bis an den Rand ihres physischen und psychischen Fassungsvermögens gefordert.

Nach dem Krieg diskutierte Fragen nach der Kollektiverantwortung der Deutschen für den Holocaust, auch nach persönlicher Verantwortung, begründen ihre große Sensibilität gegen jedwede Bevormundung und Befehle „von oben“. Es wird ihr Credo: “Was ich mache, muss ich verantworten können. Wenn ich das nicht kann, dann mache ich es nicht.“

Zunehmend bekommt die politisch immer selbstbewusster denkende und auftretende Frau Ärger in den männlich dominierten Parteistrukturen. Folgerichtig bringt sie sich in die aufblühende Frauenbewegung ein. Als ehrenamtliche Beraterin für misshandelte Frauen im vom Frauen geschaffenen Pariser Frauenzentrum lernt sie deren tiefe Not und das Ausmaß von Frauendiskriminierung in der Gesellschaft kennen. Sie verschreibt sich dem Kampf für die Emanzipation der Frauen, sucht im Rahmen von Frauenstrukturen neue Wege gesellschaftlicher Organisierung und der Vernetzung von Frauen.

Als mit Francois Mitterand die Sozialisten an die Regierung kommen, verzeichnet Hedda Jullien die ersten Rückschläge für die Frauenbewegung. Zu sehr haben auch die Frauen dem emanzipatorischen Image der Sozialisten vertraut. Mit dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des Ostens verstärkt sich der weltweite neokonservative Kurs, bei dem emanzipatorische Gedanken nur noch eine Alibifunktion haben. Obwohl die Frauen aus dem Osten die Frauenbewegung zahlenmäßig stärken, zerfällt diese mehr und mehr. Unbeirrt bleibt Hedda für die Vernetzung von Frauen aktiv. Sie arbeitet mit in der Redaktionsgruppe des Pariser Informationsbulletins für Frauen, wird aktives Mitglied der ENOW, des Europäischen Frauennetzwerkes für die Rechte der Frauen.

Ein gesundheitlicher Schaden aus der Zeit, nachdem ihr Mann den Freitod gewählt hatte, holte sie früh ein. Am Ende ihres Lebens erlebt sie noch einmal persönlich die Sorge und die Solidarität der Frauen. Wohl wissend darum, dass die Frauenbewegung nicht gerade ihre Blütezeit erlebt, sagt sie voller Hoffnung auf neu entstehende Kraft: „Wenn unsere Netze auch nur einer einzigen Frau geholfen haben zu leben, dann hat sich alles tausendmal gelohnt.“


Ágnes Ságvári, Jahrgang 1928, Ungarn

Die ungarische Historikerin Professor Ágnes Ságvári nimmt als Schwester des bekannten ungarischen Revolutionärs Ándrás Ságvári ihre Entwicklung „von einem gut erzogenen Mädchen aus bürgerlichem Haus zu einer überzeugten, kämpferischen Kommunistin und schließlich zu einer Tochter Europas.

Bis 1998 hatte sie an der Budapester Universität noch den Lehrstuhl für Verwaltungsgeschichte und vergleichende Geschichte des 20. Jahrhunderts inne. Ihren Studenten konnte sie viel Zeitgeschichte sehr persönlich vermitteln, denn sie hatte beispielsweise die erste Generation der ungarischen Räterepublik kennen gelernt. Sie hatte noch persönliche Kontakte zu Volkskommissaren von 1919 und konnte den Studenten über ihr 1956, über ihr Europa und seine Verwaltungsgeschichte, erzählen.

Sie hatte ein bewegtes berufliches Leben und ein breites wissenschaftliches Betätigungsfeld. Ihre Lebensgeschichte, zunächst von viel Idealismus getragen, war verbunden mit vielen – manchmal auch bitteren – Erkenntnissen, die sie auf ihrem Weg vorwärts brachten.

Als junge Parteifunktionärin macht sie in der Zeit des Stalinismus die Erfahrung, dass selbst Menschen, die schon zu Unrecht verurteilt waren, sich noch für die Sache eingesetzt haben, und sie fragt später: Was ist „die Sache“? Die Sache war für sie die Partei, und das war für sie das Wichtigste. Sie kommt zu der bitteren Erkenntnis: „So kannst du die Genossen und alle Menschen für „die Sache“ opfern. Letzten Endes wirst auch du geopfert. Dann sagen die anderen, es sei notwendig für „die Sache“.

1956, als sie an einem einzigen Tag graue Haare bekommt, begreift sie, wie wichtig es ist, seinen eigenen Weg zu finden und sich selber treu zu bleiben.

Als das Niederschlagen des „Prager Frühlings“ auch mit einer persönlichen Lebenskrise einhergeht, zieht sie sich mehr und mehr aus politischem Engagement heraus.

Als Direktorin des Budapester Archivs für Stadtgeschichte widmet sie sich fortan vor allem der Beschäftigung mit Dokumenten und ihrer ungekürzten Veröffentlichung, um so kommenden Generationen bei der Bewertung der Historie zu helfen. Mehr und mehr wendet sie sich der europäischen Geschichte und der Alltagsgeschichte zu und gewinnt wichtige Erkenntnisse für das Zusammenwachsen Europas.

Als kommunistisch geprägte Osteuropäerin mit einer für die westeuropäische Wissenschaftselite untypischen Karriere, dazu noch als Frau, wird es ihr zunächst schwer gemacht, wissenschaftliche Anerkennung zu finden. Doch sie setzt sich durch.

Ein besonderes Anliegen ist für sie stets die Erforschung der ungarischen Holocaust-Geschichte. Es ist zu jeder Zeit ein unliebsames Thema, das ihr viele Schwierigkeiten einbringt. Doch sie bleibt dabei. Sie findet heraus, dass es einen ganz spezifischen Holocaust ungarischer Art gab, wenn auch nicht mit der Konsequenz der „Endlösung“. Sie erarbeitet damit am Beispiel Ungarns eine wissenschaftliche Dokumentation und Begründung der Interessen der osteuropäischen Länder am Holocaust, die von Kapital- und Machtinteressen gegen Bevölkerungsgruppen geleitet wurden.

Die Wende Ende der 80er Jahre bringt für die reformorientierte Kommunistin neue bittere Erfahrungen. Diejenigen, die sie vorher für ihren Mut gelobt hatten, verfolgten sie nun.

Sie trennt sich von ihrem Ehemann, der – ehemals im ungarischen diplomatischen Dienst – nun Karriere bei den National-Konservativen und Rechtsradikalen macht.

Und immer wieder ist sie – unerbittlich gegen sich selbst – als Forscherin, begleitet sie als Wissenschaftlerin gesellschaftspolitische Entwicklungen.

Ausgehend von ihren politischen Erfahrungen setzt sie zukünftig mehr auf kleinere fachliche oder kommunale Gruppen bzw. Interessenvertretungen als auf Parteien.

Auf die Frage, was die Zukunft bringen wird, hat sie selbst mehr Fragen als Antworten.

Ágnes Ságvári war, als wir das Interview mit ihr führten, schwer krank. Mit bewundernswert großer Selbstdisziplin hat sie bis zuletzt mit uns die Arbeit geleistet, wichtige Lebenserkenntnisse einer Wissenschaftlerin des 20. Jahrhunderts festzuhalten.

Im Juni des Jahres 2000 ist sie gestorben.


Hilkka Pietilä, Jahrgang 1931, Finnland

Hilka Pietilä schaut auf die miterlebte Entwicklung Finnlands von einem Agrarland in den 30er Jahren zu einem Industrieland bis hin zu einem postindustriell durchstrukturierten Land. Der Zweite Weltkrieg gehört zu ihren prägenden Kindheitserinnerungen. Zwei Onkel und fünf Vetter sind im Krieg gefallen. Ihre Familie nimmt leidgeprüfte karelische Flüchtlinge auf. Und sie erlebt den für die Finnen schmerzensreichen Friedensschluss nach dem sowjetisch-finnischen Winterkrieg mit sowie das große Gemeinschaftsgefühl der Finnen.

Die Liebe zum Buch hat sie wohl von ihrer Großmutter mitbekommen, die sich bei ihrer Lektüre im Sessel auch nicht von ihren zehn Kindern stören ließ. Weihnachten auf dem Land stand in der Familie immer im Zeichen einer lebhaften literarischen Diskussion.

Mit der eigenen Entscheidung, die Oberschule zu besuchen, stellt sie für sich die Lebensweichen. Obwohl sie an der landwirtschaftlichen Fakultät der Universität in Helsinki das Fach Ernährungswissenschaften/Ernährung studiert, erfährt sie erst durch ihre vielfältigen Kontakte zu internationalen Organisationen über die Ausmaße des Weltproblems Hunger, Mangel- und Unternährung. Es ist für sie eine unerträgliche Vorstellung, dass diese grundlegenden Weltprobleme in ihrem sechsjährigen Studium keine Rolle gespielt hatten.

Sie engagiert sich zunehmend in Nichtregierungsorganisationen (NGO) und widmet sich der Verbreitung von Informationen über die UNO, deren Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit und Hilfsprogramme sowie allgemeiner internationaler Probleme.

1963 wird sie Generalsekretärin für die finnische Liga der Vereinten Nationen. Damit beginnt für sie eine dreißigjährige Zeit, von der sie sagt, dass sie mit der UNO verheiratet war und eine glückliche Ehe hatte – sehr bereichernd, herzlich und voll von spannenden Momenten.

1963 veröffentlicht sie auch ihr erstes Buch „Eat für your living“- eines der ersten Bücher in Finnland, in dem auch die Atomproblematik und ihre Auswirkungen auf die Ernährung behandelt werden.

In ihrer Funktion trägt sie engagiert zur kritischen öffentlichen Meinungsbildung in Bezug auf die Welt/UNO-Probleme bei. Sie bringt sich aktiv ein in die in den 70er Jahren erstarkende Frauenbewegung und die Friedensbewegung der Frauen. 1981 organisiert sie den Friedensmarsch von Kopenhagen nach Paris mit. 1982 kann er von Stockholm über Helsinki, Leningrad, Moskau bis nach Minsk durchgeführt werden. 1983 findet er von Oslo nach New York statt. Die Friedensmärsche der Frauen gegen die drohende Kriegsgefahr motivieren auch die britischen Frauen zu ihrem einzigartigen Frauenfriedenscamp an der Raketenabschussbasis Greenham Common. Die Frauen bleiben dort und stören die Militärs immer wieder, bis 1993 die Pershing Raketen abgebaut werden.

Nach einer schaffensreichen Zeit sagt sie sich, da sie weniger Jahre vor sich sieht als sie hinter sich hat, dass sie die verbleibende kostbare Zeit so nutzen will, dass sie ganz allein darüber entscheidet, wofür sie ihre Zeit und Kraft gibt. Sie tritt aus dem Erwerbsleben heraus, doch sie ist nicht minder engagiert.

Auf ihren Vorschlag hin wird an der Universität ein gut besuchter Kurs für Entwicklungspolitik eingeführt, den sie leitet. Sie nimmt Kontakte zu Schulen auf, um den Kindern Wissen über internationale Problem nahe zu bringen und gibt ein Handbuch über die UNO-Arbeit heraus.

Als es in den 90er Jahren in der öffentlichen Debatte um den EU-Beitritt Finnlands geht, sieht sie große Gefahren für die in Finnland tief verwurzelte und im sozialen Bewusstsein verankerte Demokratie und warnt vor der Art und Weise, wie diese europäische Vereinigung vonstatten geht. Als 1994 das finnische Referendum zwar sehr knapp, aber doch für dieses Modell der EU ausgeht, ist sie enttäuscht und zunächst wie gelähmt.

Dann beginnt sie nach Alternativen zu suchen zur Globalisierung unter ökonomischem Diktat sowie zum Prinzip der totalen Marktwirtschaft und der wachsenden Übermacht des Geldes. Gemeinsam mit anderen Aktiven besinnt sie sich u.a. auf Erfahrungen von lokalen Bewegungen, von Haushaltseinheiten auf der Basis unbezahlter Arbeit und befördert entsprechende Initiativen. Wenn einer durch Verlust seiner Erwerbsarbeit aus dem sich ewig drehenden Hamsterrad vom Verkauf der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zum Kauf der lebensnotwendigen Dinge mittels des Lohnes herausgefallen ist, könnte er versuchen, daraus etwas zu machen. Er könnte selber mehr produzieren, statt alles zu kaufen. Damit würde er mehr Souveränität und Unabhängigkeit gewinnen. Das ist ihr Credo. Sie beruft sich darauf: Ein Mann oder eine Frau ist so reich und frei wie die Anzahl der Dinge, ohne die er/sie auskommen kann (Henry David Thoreau). So will sie, sich selbst treu, weiterhin gegen die Verschwendung der Ressourcen in dieser Welt kämpfen.


Soja Wassiljewna Sarubina, Jahrgang 1920, Russland

Auf ihre Kindheit und Jugend zurückblickend, resümiert sie, dass sie glücklich ist, in solch einer Zeit bemerkenswert großer Ideale aufgewachsen zu sein, in welcher die Begeisterung, der Enthusiasmus und der Wunsch herausgebildet wurden, für ihr Land tätig zu sein. Sie wollte – wie viele ihrer Altersgefährten – ein aktives Mitglied der Gesellschaft sein und beim Aufbau einer utopischen Gesellschaft helfen, in der alle gleichberechtigt sind. Dem ist sie ein Leben lang treu geblieben, auch als ihr Stiefvater, der dem Land ebenfalls ergeben war, in der Stalin-Ära 12 Jahre lang im Gefängnis war. Erst 1992 wurde er rehabilitiert – 10 Jahre nach seinem Tod. Diese Zeit existentieller Not, denn Soja und ihre Schwester, auch deren Mann, hatten als Angehörige eines „Volksfeindes“ und Juden ebenfalls ihre Arbeit verloren, kommentiert sie ohne Klage: „Das war die harte Wahrheit und Tragödie in meinem Land zu jener Zeit.“

Als Kind war sie mit ihren Eltern jeweils drei Jahre lang in China und in der Türkei, wo der Vater an den Botschaften arbeitete. Die hier erlernten Fremdsprachen Englisch, Deutsch und Französisch wurden für sie lebensbestimmend.

Sie beendet die Schule – eine glückliche und anregende Zeit, in der sie auch ihren späteren Mann kennen lernt – 1939. In diesem Jahr werden die Jungen gleich in den finnisch-sowjetischen Krieg eingezogen. Danach beginnt der Große Vaterländische Krieg gegen Deutschland. Soja nimmt ein Studium an der Historischen Fakultät des Moskauer Staatlichen Instituts für Philosophie, Geschichte und Literatur auf und heiratet 1940. 1941 bringt sie eine Tochter zur Welt. Zur gleichen Zeit fällt ihr Mann im Krieg. Sportlich durchtrainiert will sie zu den Partisanen. Das geht nicht, da sie noch stillen muss. So arbeitet sie vorerst freiwillig in einem Krankenhaus. An den Abenden übersetzt sie kriegswichtige Dokumente. Nach einem Jahr vertraut sie die Tochter der Mutter an und geht an die Front. Aber sehr bald werden ihre Sprachkenntnisse für die Aufklärung gebraucht, wo sie bis zu dem Tag arbeitet, da ihr Stiefvater ins Gefängnis kommt und sie sich nicht – wie empfohlen – von ihm lossagt.

Im Fernstudium erwirbt sie das Diplom als Lehrerin der englischen, deutschen und französischen Sprache und ist am Moskauer Institut für Fremdsprachen 20 Jahre lang tätig, zuletzt als Dekanin der Pädagogischen Fakultät für englische Sprache. Hier baut sie die ersten und weltweit einzigen Kurse für UNO-Dolmetscher auf und wird Direktorin dieser Kurse. Von 1970 an arbeitet sie an der Diplomatenakademie des Außenministeriums der Russischen Föderation. Dort ist sie u.a. am Lehrstuhl für Politologie tätig und führt Lehrveranstaltungen durch, die sich mit sozialen und gesellschaftlichen Erscheinungen in Europa beschäftigen.

Soja wird eine der führenden Synchrondolmetscherinnen auf allen großen internationalen Beratungen und Treffen. Zehn Jahre lang arbeitet sie als leitende Dolmetscherin der sowjetischen Delegation bei allen im Zusammenhang mit dem Helsinki-Abkommen stattfindenden Begegnungen.

Es ist fast unmöglich, alle Organisationen aufzuzählen, in denen sie sich aktiv engagiert. Einige seien hier exemplarisch genannt:

Sie ist Aktivistin der „Union der Frauen Russlands“. In den 80er Jahren wird sie Mitglied und Ehrenmitglied der Organisation „Großmütter für den Frieden“.

Seit 1988 ist sie in der gegründeten Berufsorganisation „Pädagogen für Frieden und gegenseitiges Verständnis“. Sie wird Ehrenpräsidentin der „Organisation für Kultur und Bildung der Welt“ Sie ist Mitglied des Rates der Veteranen der Diplomatenakademie usw.

Sie setzt sich ein für tschetschenische Kinder, die unter den Folgen der Verminung im Krieg leiden, sorgt dafür, dass sie Ferientage in Moskau verbringen können. Ihr schönster Lohn die Feststellung: Sie fuhren völlig verändert nach Hause – mit unserer aller Liebe und Wärme im Herzen und nicht mit Hass auf die Russen.

Da sie unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen in Russland von ihrer geringen Pension nicht leben kann, ist sie gezwungen, sich neben ihrem sozialen und politischen Engagement noch Geld zu verdienen. So ist sie im Sommer auf den Wolga-Kreuzfahrtlinienschiffen zwischen Moskau und St. Petersburg als Fremdenführerin unterwegs. Sie berichtet, was im Lande vor sich geht und wie die russischen Menschen leben. Sie erzählt über ihre gemeinnützige wohltätige Arbeit und findet Resonanz bei Menschen, die gern helfen wollen.

1999 gibt sie in den USA unter dem Titel „Insid Russia“ ihre Memoiren heraus.

Als eine von Millionen Frauen in der Sowjetunion, die in den Kriegen und unter dem Stalin-Regime ihre Männer verloren haben und als eine Frau, die wachen Auges auf das Leben in vielen Familien sieht, meint sie, dass in diesem Jahrhundert alles auf die Frauen abgeladen wurde. Und auch jetzt befindet sich ihrer Meinung nach die Frau im Zentrum des Chaos. Sie ist zu Hause die stabilisierende Kraft sowohl für die Kinder und für den Mann. Viele Männer sind arbeitslos, die Frau arbeitet und soll auch noch all die anderen Funktionen ausüben. Für sie wird es politische Veränderungen im Land erst geben, wenn die Frauen ihre Rolle in der Gesellschaft erkennen. Sie müssen zielstrebig eine starke Frauen-Lobby aufbauen.

Immer wieder ergreift auch Soja Partei für die Kinder. Sie kann es nicht ertragen, dass gerade sie es sind, die vor allem unter der desolaten Situation des Landes leiden müssen.

Als eine Frau, die ihr Russland liebt, zielen ihre Träume drauf ab, dass „unser Volk endlich jene Regierung bekommt, die es auch wirklich verdient.“ Sie meint: „Das russische Volk kann viel Leid ertragen. Es ist talentiert, fähig, ein wunderbares Volk mit einer großen Seele, mit musikalischen Menschen.“ Der Weg dahin führt für sie über das Tätigsein eines jeden für die Gesellschaft – über die Herausbildung einer wirklichen Zivilgesellschaft.


Ruth Frow, Jahrgang 1922, Großbritannien

Ruth Frows Vater war Jude, die Mutter eine irische Katholikin, die zum Judentum übertrat. Während des Zweiten Weltkrieges meldet sie sich freiwillig zur Frauenabteilung der Luftstreitkräfte und dient bei der Radar-Flugabwehr. Durch die Kriegsunbilden hat sie eine Totgeburt. Ruth wird niemals mehr ein Kind haben können.

1945 tritt sie gemeinsam mit ihrem Mann Dennis in die Kommunistische Partei Großbritanniens ein. Als er sich beruflich etabliert hat, tritt er aus. Am 8. März 1953, dem Internationalen Frauentag, verlässt sie ihn, weil ihre Vorstellungen über das Leben zu weit auseinander gehen. Sie nimmt ein Lehrerstudium auf, weil sie die gesellschaftlich nützliche Aufgabe, Kinder zu erziehen, begeistert. Bis zu ihrer Pensionierung bliebt sie eine besonders für benachteiligte Mädchen und Jungen engagierte Pädagogin.

1953 lernt sie an einer Sommerschule der Kommunistischen Partei ihren Eddie kennen. Er lebt damals in Scheidung. 8 ½ Jahre lang müssen beide warten, ehe ihnen die Partei moralisch „erlaubt“ zu heiraten. Beide sind in verschiedensten leitenden politischen Funktionen tätig. Ruth ist u.a. Generalsekretärin der Vereinigung der Lehrer für den Frieden und leitet in Liverpool die Anti-Atombombenkampagne.

Beide haben eine Leidenschaft für Bücher. Als ihrer beider umfangreichen Bibliotheken zusammenkommen, gründen sie eine gemeinnützige Bildungsstiftung. Ihr Haus wird besonders für alle diejenigen, die sich mit Büchern und Schriftgut der englischen, walisischen, schottischen und irischen Arbeiterbewegung befassen wollen, zu einem gastlichen Hort. Zu ihrer Sammlung gehören auch im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung stehende Banner, Porzellan- und Keramikgegenstände, Fahnen, Abzeichen usw. Beide trugen dies in den Jahrzehnten ihrer Gemeinsamkeit zusammen oder es wurde ihnen ins Haus gebracht.

Ruth hat sich immer als Feministin verstanden, würde aber nie Mitglied einer reinen Frauenorganisation werden, die Männer ausschließt. Sie hält reine Frauengruppen in Parteien für frauendiskriminierend und weigert sich, die damit verbundene Doppelbelastung zu akzeptieren. Sie meint, dass damit nicht das Selbstbewusstsein der Frauen erhöht wird. Trotzdem hat ihrer Meinung nach die neue Frauenbewegung wesentlich dazu beigetragen, das öffentliche Bewusstsein zu verändern und Frauendiskriminierung zum Thema zu machen.

Ruth entwirft ein Zukunftsmodell, in dem die heutigen Industrieländer nicht mehr den Mittelpunkt der industriellen Welt darstellen werden. Die Länder der Dritten Welt sind im Kommen und eine neue Kultur der Schlichtheit und Bescheidenheit wird die heute herrschende Kultur der Habgier und der High Technology ablösen müssen. Sie setzt ihre Hoffnung auf die Entwicklung der Demokratie, glaubt aber nicht, dass sie selbst einen demokratischen Aufschwung noch erleben wird.


Andjelka Tomac-Sragalj, Jahrgang 1925, Kroatien

In ihrem Gespräch spannen Interviewpartnerinnen und Landsmänninnen Andjelka und Mira den Bogen vom faschistischen Weltbrand bis hin zu dem, was heute ihrer Heimat, dem ehemaligen föderativen Jugoslawien passiert. Sie ziehen eine traurige Bilanz: Bis auf Slowenien, welches der geopolitischen Lage und der ethnischen Homogenität wegen ein glücklicheres Los gezogen hat, ist kein einziger Nachfolgestaat ein selbstbestimmtes Gemeinwesen. Die Menschen im ehemaligen Jugoslawien bezahlen die Zeche. Aber es gibt auch die, die davon unerhört profitieren. „Kapitalismus ist“, so sagt Andjelka, „dass die einen nicht wissen, wohin mit dem Reichtum, die anderen leben unter dem Existenzminimum.“

Andjelka gehört zu denjenigen, die sich mit ihrer ganzen Kraft in die breite Widerstandsbewegung des jugoslawischen Volkes gegen den Faschismus und für die nationale Befreiung eingesetzt hat.

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges fängt sie eine Lehrerausbildung an. Die hierbei erworbenen italienischen Sprachkenntnisse muss sie gleich während der Okkupation durch die Italiener praktisch anwenden. Andjelka wird Mitglied des Bundes der Kommunistischen Jugend Jugoslawiens.

Nachdem die Italiener 1943 kapitulieren, kann der Schulbetrieb wieder aufgenommen werden. Unter schwierigsten materiellen Bedingungen lehrt Andjelka Kinder das Lesen und Schreiben. Dann kommen die Deutschen. Wieder muss der Unterricht für einige Monate unterbrochen werden. Andjelka engagiert sich im Lager für die Zivilbevölkerung, schafft mit der Arbeitskolonne von Jugendlichen Lebensmittel und Wasser heran, versorgt die Partisanen mit Informationen. Dann sucht sie wieder Weideplätze auf, um die Kinder von der Arbeit zur Schule zu holen. Sie unterrichtet vier Klassen auf einmal, zieht mit ihren Kindern in den Wald, hebt mit ihnen Splittergräben aus, um sich vor feindlichen Luftangriffen zu schützen. Als nach dem Krieg anhand des Bildungsstandes der Kinder eingeschätzt wird, dass ihre Schule zu den besten des Kreises gehört, ist sie sehr stolz.

Und immer ist sie über ihre Arbeit als Lehrerin hinaus mit ihrer ganzen Kraft beim Aufbau des Landes dabei. Sie ist Sekretärin des Gemeindevorstandes des Bundes der Kommunistischen Jugend, Leiterin des Arbeitsbataillons der Jugend, welches den Partisanenfamilien bei der Heu- und Kartoffelernte und anderen Feldarbeiten hilft, bringt das kulturelle Leben in Schwung, hilft, Lebensmittel für das Krankenhaus zu sammeln, wäscht dort Wäsche und besucht verwundete Kämpfer und Kämpferinnen.

1945 lernt sie ihren späteren Mann kennen. Sie folgt dem beruflichen Weg des Fliegeroffiziers: Sarajewo, Moslar, Kragujevac, Belgrad, Obrenovac werden ihre Lebensstationen. Nirgends erlebt sie damals nationalistisches Verhalten.

1956 lässt sie sich scheiden, weil die Lebensvorstellungen des Paares zu sehr auseinander gehen. Sie bleibt mit ihrer vierjährigen Tochter allein. Andjelka, die erst wegen des Krieges, dann wegen der Familie ihre Ausbildung als Lehrerin nicht beenden konnte, muss als nichtqualifizierte Kraft in der Verwaltung arbeiten. Sie ist weiter gesellschaftlich aktiv, ist in der antifaschistischen Frauenfront, hilft beim Straßenbau, verlegt Einsenbahnschwellen mit, ist beim Bau von Staudämmen dabei. Später ist sie gewählte Vertreterin im Gemeindeparlament, Touristikverein-Geschäftsführerin und Schöffin. Als man ihr aber den Vorsitz der Antifaschistischen Frauenfront im Kreis anbietet, hält sie sich für nicht geeignet. Sie könne nur arbeiten.

Andjelka erklärt ihre Zurückhaltung: „Dafür muss man sich einiges angeeignet haben, man muss gebildet sein, muss etwas gelesen haben, um der Funktion gerecht zu werden. Nur sehr wenige Frauen gelangten auf hohe Positionen. Viele jedoch waren aktive Propagandistinnen, sind unter die Leute gegangen, haben Zusammenhänge erklärt, Wahlkampagnen organisiert, für die Politik der Kommunistischen Partei geworben. Es war eine schwierige Arbeit. Wie willst du den einfachen Leuten erklären, was die Rote Armee, was Kapitalismus, Faschismus usw. bedeuten? Ja, aktiv und mit der Waffe in der Hand haben sie gekämpft. Eine Verwandte von mir war Soldatin. Was nützt ihr ihr Kampf? Sie war verheiratet, hatte später einen Sohn, der heute noch ein hoher Funktionär ist. Auch ihr Mann hatte einen hohen Posten inne. Sie wurde Hausfrau. Eines Tages versagte ihrem Mann das Herz. Sie blieb allein mit dem Kind und suchte sich eine Arbeit als Verkäuferin, weil sie keinen Beruf gelernt hatte. Ich denke, dass es bei den meisten so gelaufen ist...Den ganzen Aufbau nach dem Krieg mussten sie mit leisten, die Hauptarbeit im Haushalt und für die Familie bewältigen. Sie hatten einfach keine Zeit und keine Kraft mehr, um sich gesellschaftlich zu engagieren, nach politischen Posten zu streben oder gar eine Berufsausbildung anzufangen. Ich denke, dass dies die wichtigsten Gründe waren. Nicht weil sie es nicht gewollt haben oder weil sie nicht in der Lage dazu gewesen wären. Nein, es gab Grundsätzliches, was vor allem geleistet werden musste: die Kinder mussten versorgt, Häuser instand gesetzt, Tierställe renoviert werden, weil der Tierbestand zum Teil erhalten geblieben war, Lebensmittel mussten beschafft werde usw.“.

Andjelka offenbart hier sehr eindrücklich die Tragik vieler Frauen, aber auch die unserer Gesellschaften. Die eigentlichen Lebensträgerinnen überlassen – ihrer weitreichenden sozialen Kompetenz misstrauend – anderen die politischen Funktionen und damit die politische Macht, die viele – wie die jüngste Geschichte zeigt – missbraucht haben.

Heute lebt Andjelka zurückgezogen. „Man muss auch loslassen können“, sagt sie. Aber sie meint auch: „ Ich bin nicht zu reformieren. In meinem Geiste bin ich immer dieselbe. Ich schätze den Menschen, die Anständigkeit, die Arbeit.“


Zita Termeer, Jahrgang 1918, Bundesrepublik Deutschland (alte Bundesländer)

Am 8. November 1918 als Kind der Revolution geboren, welche den Ersten Weltkrieg beendete, erlebt sie trotz aller finanzieller Not der Familie eine Kindheit, in der sie ihre Liebe zur Literatur und Poesie sowie zur Natur ausbilden kann. In der Zeit des aufkeimenden Nationalsozialismus verkennt die „unpolitische“ Familie die Gefahren. Wie viele andere zieht auch Zita das Gemeinschaftserlebnis in der Hitlerjugend und beim Bund Deutscher Mädel an.

Die literaturbegeisterte Schülerin verliebt sich in ihren 10 Jahre älteren Deutschlehrer. Als sie sich verloben ist sie 17 Jahre alt. Ihr Leben ist nur noch auf ihre Liebe gerichtet. Alles andere verliert an Bedeutung. Gleich nach dem Abitur heiratet sie. Ein Jahr später wird Tochter Zita geboren. Ihr glückliches Miteinander als Familie währt nur kurz. Es beginnt der Zweite Weltkrieg mit Verbrechen, Mord und Not in unvorstellbarem Ausmaß. Als Zitas Mann zum Kriegsdienst eingezogen wird, ist ihre zweite Tochter sieben Monate alt. Zita ist verzweifelt, als sie mit 14 Monaten an Lungenentzündung stirbt. Voller Sehnsucht wartet sie immer auf den Urlaub ihres Mannes. Alle Kriegsurlaube sind gefärbt von der Intensität des Augenblicks und vom Kindersegen, der auf dem Fuße folgt. Ihr Leben dreht sich um Kinder, Haushalt und die Pflege ihrer kranken, eifersüchtigen Schwiegermutter. In dieser Verantwortung erlebt sie in den letzten Kriegsmonaten das Inferno der Bombardements. Ihr Mann bringt sie auf einen Gutshof in Schleswig-Holstein, wo die Familie endlich etwas Ruhe und Sicherheit finden kann. Noch vor Beendigung des Krieges verlässt er seinen Standort.

Es beginnt die Zeit des Überlebenskampfes nach dem Krieg. Als sich die Lage entspannt und endlich Hoffnung auf ein schönes Familienleben bestehen kann, wird der Mann schwer krank. So bleiben die folgenden Jahre von Krankheit geprägt. Auch die Schwiegermutter ist ständig krank, die Kinder immer wieder – oft auch gemeinsam. Dazu hat Zita noch ein Baby zu versorgen. Dann bekommt sie Zwillinge. Zita hat nunmehr für einen Neunpersonen-Haushalt zu sorgen. Dazu erschwert die Schwiegermutter die Erziehung der Töchter. Zitas Mann hält sich heraus und meint: „Die Erziehung von Mädchen ist Frauensache.“ Als sie erneut schwanger ist, stirbt das Kind bei der Geburt. Fast wäre auch sie gestorben.

Nachdem die große Familie in ein eigenes Haus mit Garten zieht, erlebt sie eine Zeit des Aufatmens. Eine Zeit, in der neben all der Arbeit auch Theater-, Konzert- und Museumsbesuche möglich sind. An den Abenden diskutieren sie über die neuesten Werke ihre Mannes. All diese Erlebnisse vertiefen das geistige Band zwischen ihnen. Da hat ihr Mann eine Affäre. Zita ist tief verletzt. In den Volkshochschulkursen, bei denen sie ihrem Mann assistiert, lernt sie einen jungen Mann kennen, bei dem sie zum ersten Mal in ihrem Leben merkt, dass jemand da ist, dem es Freude bereitet, ihr zu helfen. Seine Menschenkenntnis und die Fähigkeit, sein Wissen und seine Erfahrungen lebendig zu vermitteln, begeistern und bereichern sie. Sie verlieben sich ineinander. Zita erlebt eine zweite Jugend.

Es ist auch die Zeit der 68er Studentenbewegung, die Zeit des politischen Aufbruchs und einer neuen Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. In Zitas Familie gibt es heftige Diskussionen über die Vergangenheit im Nationalsozialismus. Zitas Mann weist jedes Gefühl der Mitschuld von sich. Zita sieht es anders. Sie überdenkt ebenfalls die Kritik ihrer Töchter hinsichtlich ihrer Erziehung, stellt ihre bisherigen Werte in Frage und verändert sich. Daraus ergibt sich für sie eine neue Form von Verbundenheit als Mutter und Freundin. Doch sie entfernt sich damit geistig von ihrem Mann. So will sie nicht mehr leben. Mit fast 52 Jahren geht sie nach Westberlin und beginnt dort ein Studium an der Freien Universität. Es wird für sie eine intensive Zeit des Aufbruchs, der Erneuerung und Erweiterung des Horizonts.

Aus der studentischen Bewegung heraus entwickelt sich die Frauenbewegung. Zita wird deutlich, dass es nicht nur Klassen- und Rassenprobleme in der Welt gibt, sondern auch die Geschlechterproblematik. Dann wird sie auf die atomare Bedrohung aufmerksam. Sie träumt davon, in einem Anti-Atom-Bus durch Städte und Dörfer zu fahren und die Menschen darüber zu informieren.

Mit 59 Jahren bricht sie das Studium ab und geht nach Köln. Damit beginnt für sie eine politisch aktive Zeit, die von Mitwirken in Bürger- und Fraueninitiativen geprägt ist.

Im September 1979 bildet die Kölner Konferenz „Frauen gegen Atom und Militär“ für Zita den Auftakt zu einer Vielzahl von Anti-Atom-Aktionen.

Der Gau des Atomreaktors am 28. April 1986 in Tschernobyl und die Unwilligkeit, die Atompolitik radikal zu ändern, enttäuscht sie. Sie braucht Zeit, bis sie wieder Kraft und neuen Lebensmut gewinnt.

Aus der Anti-Atom, Frauen- und Friedensbewegung haben sich Frauenprojekte, frauenpolitische Studien und Frauenforschung an Universitäten entwickelt. AKW-GegnerInnen und Bürgerinitiativen wehren sich in phantasievollen und für sie auch gefährlichen Aktionen gegen die Castor-Transporte. Es bilden sich viele Ökologiegruppen, die sich auf vielfältige Art und Weise für den Schutz der Umwelt einsetzen.

Zita begegnet Menschen, die auf der Suche sind nach neuen Werten und Sinnzusammenhängen. Sie engagiert sich für ein selbstbestimmtes Leben in Verbindung mit einem Gemeinschaftsleben und für autofreie Wohnorte. Sie bleibt weiterhin politisch aufmerksam und engagiert sich an der Seite von Maria Mies in einem weltweiten Netzwerk gegen das Bestreben multilateraler Konzerne, an der Öffentlichkeit vorbei auf Kosten der Länder ihre Wirtschaftsmacht weiter auszubauen.

Als Mitglied einer Genossenschaft zum Bau eines Ökodorfes träumt sie davon, einmal dort leben zu können. „Inmitten von Menschen zu leben, die mir nahe stehen und wenn die Zeit gekommen ist, in Frieden von dieser Welt Abschied zu nehmen, das wünsche ich mir.“


Elfriede B., Jahrgang 1933, Bundesrepublik Deutschland (neue Bundesländer)

Elfried B. wollte nicht ihren vollen Namen nennen. So tief sind noch die Verletzungen, die ihr nach der Wende in den 90er Jahren zugefügt wurden.

Viele ihrer interessanten Forschungsarbeiten und Artikel entstanden am Küchentisch ihrer kleinen Wohnung, in der die Familie um sie herum sprudelte. Wenn von einem ganzheitlichen Leben gesprochen wird, dann ist Elfriede, die mit ihren drei Kindern und ohne Haushaltshilfe habilitierte und auch heute ihren Kindern und Enkeln eine sorgende Mutter und Oma ist, ein Sinnbild dafür. (Nur sich selbst vergaß und vergisst sie manchmal darüber.) Sie konnte das dank der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR. Diese prägten ihr Leben.

Elfriede bewertet heute ihr Leben selbstkritisch und selbstbewusst. Sie ist zu einer Vordenkerin zu solchen Fragen geworden, wie die freie Zeit aus den Fesseln patriarchaler Warenwirtschaft befreit und für den Erhalt der Lebensgrundlagen eingesetzt werden kann. So bleibt sie ihrem Grundsatz treu, sich mit ihrem ganzen Leben den folgenden Generationen verpflichtet zu fühlen.

Im ländlichen Milieu aufgewachsen, ist sie zwölf Jahre als, als der Krieg zu Ende ist. Aus dieser Zeit ist ihr sehr bewusst, wie gesellschaftlichen Bedingungen das private Leben prägen. Sie lernt: selbständig denken ist wichtig. Nicht allein auf Worte hören, sondern es sind die Taten, die zählen. Aus dieser Zeit stammt auch ihr Lebensgrundsatz, den sie mit Millionen von Menschen ihrer Generation teilt: “Lieber trocken Brot essen als wieder Krieg zu erleben.“ Später wird sie gerade damit diszipliniert. Auch zur Dankbarkeit dem Staat gegenüber wird sie erzogen, der ihr bei allen Schwierigkeiten aber doch eine umfassende Bildung ermöglicht und ihr damit völlig neue Lebenschancen eröffnet.

Sie studiert in Berlin Wirtschaftswissenschaften. Als ein Auslandsstudium in Aussicht steht, kann sie es nicht antreten, da sie nicht Mitglied der Partei ist. Dabei tritt sie nur nicht ein, weil sie sich persönlich den „Anforderungen“ nicht gewachsen fühlt, womit andere weit weniger Probleme haben. Später geht es um eine Aspirantur in der UdSSR. Wieder kann sie nicht fahren, da diesmal ein naher Verwandter die DDR illegal verlassen hat. Sie tröstet sich mit der Tatsache, dass sie bei ihrer sozialen Herkunft überhaupt studieren kann.

Nach dem Studium des Marxismus-Leninismus mit seiner Philosophie und der politischen Ökonomie tritt sie aus Überzeugung in die Partei ein.

Während des Studiums wird sie zum kollektiven Wir-Gefühl erzogen. Sie fühlt sich für alles mitverantwortlich, was passiert. Sie erkennt die Problematik und versucht das aus ihrer heutigen Sicht irreale Denken wieder etwas zurückzudrängen.

Ihre Assistentenzeit nach dem Studium verbringt sie in Dresden. Sie kommt mit Mann und drei Kindern nach Berlin zurück. In der Zeit des noch vorhandenen Mangels an Unterbringungsmöglichkeiten für Kleinkinder hat sie Schwierigkeiten, Krippenplätze für ihre drei Kinder zu bekommen. Das bedeutet für sie, zeitweilig in der wissenschaftlichen Arbeit zurückzustecken, nach flexiblen oder informellen Wegen zu suchen, um dennoch wenigsten annähernd den Anschluss in der Wissenschaft zu halten.

Voller Elan analysiert sie in der Zeit des „Neuen Ökonomischen Systems“ (NÖS) von Walter Ulbricht interessante neue Entwicklungen. Sehr bald erkennt sie seine Grenzen und konstatiert: Im Sinne der nachholenden Entwicklung war das NÖS ein Umbruch. Aber im Sinne einer Entwicklung zum Sozialismus, zu einer wirklichen kapitalistischen Alternative, ist es eine Enttäuschung.

Idealismus, gepaart mit – wie sie heute sagt – Naivität, helfen ihr , mit den immer wieder auftauchenden Konflikten zu leben. Heute sagt sie: „Es hätte damals eine Öffnung zur Demokratisierung geben müssen.

Anfang der 70er Jahre gibt es für sie eine Zäsur. Aus der Statistik sieht sie, dass Walter Ulbricht bereits 1969 mit dem großen Schuldenmachen angefangen hatte, weil im Wettlauf mit dem kapitalistischen System etwas vorgezeigt werden sollte. Aber sie denkt gleich wieder in der Dimension von Krieg und Frieden. Für sie steht die Frage: Wenn die DDR wirtschaftlich zugrunde geht, dann wird es wohl Krieg geben? Es bewegt sie: Was wird aus den Kindern? Sie weiß nicht, mit wem sie über ihre Sorgen sprechen kann. Stets werden sie vom Tisch gewischt. Eine Alternative sieht sie auch nicht. Der Westen ist es für sie nicht, denn dort sieht sie mit ihren drei Kindern keine Chance für sich. So lebt sie „mit der Bombe“. Die Warnungen der Mutter werden auch von den Kindern ignoriert.

Sie versucht, sich neue Arbeitsfelder zu erschließen, in denen sie auf die gesellschaftliche Entwicklung Einfluss nehmen kann. Auf ihre Warnungen hin bekommt sie immer wieder die Weisung: Ihr sollt nicht sagen, dass es so nicht geht, sondern aufzeigen, wie es geht.“ Es ist für sie eine Gratwanderung zwischen Wissen und Zweifel. Sie lernt allmählich, mit welchen Aussagen sie an Barrieren kommt, will aber weiter wissenschaftlich arbeiten und auch ehrlich sein. Sie sucht sich Nischen. Sie versucht, Zwischenergebnisse zur Diskussion zu stellen, sieht sich aber bald in der Zwickmühle, ihre Arbeitsergebnisse amputiert zu veröffentlichen oder in die innere Emigration zu gehen. Wie so viele Intellektuelle in der DDR geht sie den Weg, ihre Wahrheiten versteckt hineinzuformulieren.

In den 70er und 80er Jahren wird für sie die Informationslage immer schwieriger. Sie bekommt kein offizielles Zahlenmaterial mehr. Immer weniger geht es um die Analyse der Probleme, sondern darum, die Materialien „leitergerecht“ – ein DDR-Unwort – zu formulieren.

Als in der Sowjetunion die Perestroika beginnt, bekommt sie Hoffnung. Es scheint, als ob auch in der DDR die Menschen wieder lebendig werden. Doch bald merkt sie, die Perestroika kommt in der UdSSR nicht bei der Bevölkerung an.

Erst 1989 ringt sie sich zu der Erkenntnis durch, dass die DDR-Führung jeden realen Bezug verloren hat. Hätte sie dies früher bei sich zugelassen, dann hätte es bedeutet: Auf diese Weise wird es keine Zukunft geben. Das will sie sich nicht eingestehen. Sie fällt in ein moralisches Loch. Als eine mögliche Konföderation beider deutscher Staaten diskutiert wird, bekommt sie wieder Halt. Sie sieht es als Aufgabe.

In den Institutionen beginnt die Zeit des „Abwickelns“. In vorauseilendem Gehorsam werden – um eigenen Positionen zu retten – alle, die über 55 Jahre alt sind, in den Vorruhestand genötigt. Eine ehemals versprochene Beschäftigung auf Honorarbasis wird nie ermöglicht. 1.100 DM Abfindung bekommt die renommierte Wissenschaftlerin nach 15 Jahren Institutszugehörigkeit in dieser gesetzlosen Zeit.

Elfried sucht für sich verschiedene Möglichkeiten, den gesellschaftlichen Umbruch aktiv mitzugestalten. Sie pendelt zwischen wissenschaftlicher Arbeit und gesellschaftspolitischem Engagement. Sie macht die Erfahrung, dass so manches, was in der Wendezeit an demokratischen Mitwirkungsformen entstanden ist, wieder zerfällt, weil alle mit ihren alltäglichen Existenzsorgen beschäftigt sind. Sie will auch helfen, dass ein richtiges Bild der DDR bleibt, dass man sie weder verklärt noch ungerecht verteufelt, sondern versucht, sie differenziert zu sehen und zu erklären: Was hat diese Erfahrung gebracht, warum scheiterte das Experiment?

Trotz aller Rückschläge ist sie der Meinung, dass der Basisdemokratie die Zukunft gehört. Die Parteiendemokratie hält sie für überlebt. Sie stellt sich vor, dass sich soziale Bewegungen, das heißt Frauen-, Umwelt-, Friedens-, Konfliktlösungsgruppen, entwicklungspolitische Vereinigungen usw. für das einigende Ziel zusammenschließen, die Lebensgrundlagen zu erhalten. Sie sieht auf die Dinge, die sich fern der Medienpräsens entwickeln. Neue, nichtmarktwirtschaftliche, nichtpatriarchale Beziehungen müssen für sie von unten her wachsen. Darüber müsste ihrer Meinung nach ein viel größerer gesellschaftlicher Streit entbrennen, müsste ein Diskurs geführt und Konsenskultur gelebt werden. Für sie hat das Konzept der Zivilgesellschaft vom Grundsatz her Zukunft.


Maria Elena Correia, Jahrgang 1932, Portugal

Am Ende des Interview sagt Maria Elena auf ihr Leben zurückblickend: „Ich bin das Produkt einer Familie, einer Generation, meines Landes und dessen, was ich gelernt habe mit denen, die ich gekannt, geliebt und nicht geliebt habe. Ich bin eine leidenschaftliche Frau. Ich liebe die Menschen. Leben heißt lieben und lernen. Ich liebe das Leben. Wenn altern bedeutet, das weiter zu machen, was mich interessiert, dann habe ich damit kein Problem. Jetzt betrachte ich die Vergangenheit mit Gelassenheit. Die Ängste der Jugendzeit sind verschwunden. Und dennoch glaube ich, wir müssen weiterhin um unsere Freiheit kämpfen.“

Frei und unabhängig zu sein in ihren Entscheidungen und Handlungen ist für Maria Elena, die eine zerrissene und repressive Kindheit und Jugend erlebte und lange brauchte, um sich von allem Druck zu befreien zu ihrem entscheidenden Lebensgrundsatz geworden.

Als sie zwei Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter. Bis zu ihrem fünften Lebensjahr kann sie bei den Großeltern und in der großen Familie der Mutter auf dem Landsitz im Umland von Lissabon leben. Sie genießt den Schutz und die große Liebe der Großmutter. Sie genießt die Gerüche des Landes, die lebendigen und starken Gefühle. Dann holt sie der Vater, der schnell wieder geheiratet hatte, zu seiner neuen Familie in die Stadt. Maria Elena fühlt sich in der Stadtwohnung eingesperrt, sie hasst die ihr fremde Familie, die ihr zunächst verbietet, Kontakt zur Großmutter zu haben. Als sie 12 Jahre alt ist, stirbt die Großmutter. Damit endet für Maria Elena die Kindheit.

Der Vater lässt sie oft die Schule wechseln. Als schüchternes und sensibles Kind fällt es ihr immer wieder schwer, sich einzugewöhnen. Nur in den sprachlichen und künstlerischen Fächern hat sie stets gute Noten.

Maria Elena wächst in der Zeit der Salazar-Diktatur auf. Es gibt große soziale und Klassenunterschiede, die Zensur herrscht im Lande. Zu Beginn ihrer Schulzeit herrscht in Spanien der Bürgerkrieg gegen den Francoputsch und die deutsch-italienische Intervention. Dann beginnt der Zweite Weltkrieg. Obwohl Maria Elena den Krieg nicht direkt erlebt, spürt sie doch die allgemeine Angst; es gibt wenig zu essen und viele Einschränkungen.

Als Maria Elena die weiterführende Schule besuchen will, um später studieren zu können, gibt es einen Familienkrach. Der Vater meint, als Mädchen solle sie zu Hause bleiben. Am Ende studiert sie doch Musik und Literaturwissenschaft. Diese Zeit erweitert den Horizont der jungen Frau, die bis zu ihrem 20. Lebensjahr zu Hause sehr zurückgezogen leben musste und ihr Wissen vornehmlich aus Büchern schöpft, ungemein. Musik wird ihre große Leidenschaft. Sie studiert am Nationalkonservatorium in Lissabon Musikgeschichte und Komposition. Ihr Instrument ist das Klavier. Weiterhin beschäftigt sie sich mit Philosophie und Geschichte, Skulptur sowie kreativen und modernen Tänzen.

Bei ihrem streng katholischen Großvater väterlicherseits macht sie sich in den Ferien mit dem Alten Testament auf Portugiesisch, Französisch und Latein vertraut. Sie beschäftigt sich mit Katechismus und Religion und entwickelt bis zum ihrem 19. Lebensjahr eine starke religiöse Bindung.

Bücher sind in der Zeit ihrer sozialen Isolation ihre engsten Freunde. Sie liest alles, was sie bekommt – portugiesische, spanische und französische Bücher. Die Lektüre aller Humanisten aller Zeiten und Länder wird zu ihrer wichtigsten Universität.

Als sie 21 Jahre alt und volljährig ist, kann sie das Erbe ihrer Mutter antreten und damit ihr Leben selbst gestalten. Sie macht ihre ersten Auslandsreisen – nach Italien und Frankreich.

Mit 24 Jahren heiratet sie einen jungen Argentinier. Sie lernt mit seiner lateinamerikanischen Familie offene und kommunikative Menschen kennen, denen sie ein Leben lang verbunden bleibt. Sehr bald muss sie allerdings die Entdeckung machen, dass ihr Mann wenig von Arbeit hält, sondern lieber vom Erbe der Familie leben will.

Maria Elena beginnt, sich mit Politik zu befassen. Als Studenten schreiben sie Aufrufe gegen die Salazar-Regierung. Sie nimmt teil an der Bewegung für die ersten demokratischen Wahlen. Sie beginnt erneut zu studieren, um die Lehrberechtigung im Fach Musik zu erlangen.

Ihre beiden ersten Kinder sind geboren, als sie an einer Stiftung für portugiesische Erziehungskultur eine Weiterbildung beginnt. In dieser Stiftung, in der viele links eingestellte Menschen die Möglichkeit erhalten zu arbeiten, zu forschen und zu publizieren, hat sie viele anregende Begegnungen. Sie nimmt teil an Experimenten und Überlegungen, wie man Kinder dazu bringen kann, Musik besser zu verstehen, wie man eine universelle Bildung vermitteln kann.

Ab 1967 beginnt sie – zunächst unentgeltlich - direkt mit Kindern zu arbeiten.

1970 trennt sie sich als Mutter von drei Kindern von ihrem Mann. Fast zehn Jahre lang werden sich die Auseinandersetzungen um die Scheidung hinziehen. Besonders in der Zeit nach der Trennung findet Maria Elena sehr schnell heraus, wer ihre wahren Freunde sind. Es fällt ihr schwer, allein zu sein, aber sie hat an Freiheit gewonnen.

Am Anfang hat sie vor sehr vielen Dingen Angst. Sie begreift aber sehr bald, dass man keine Angst haben darf, wenn man frei sein will. Sie richtet sich ihr neues Leben ein, wählt Freunde gut aus. Sie bildet eine Gruppe alleinstehender Frauen, die sich untereinander helfen.

So bekommt die Politik in ihrem Leben immer mehr an Bedeutung. Sie organisiert ihr Leben zwischen Familie, Kindern, Vereinstätigkeiten und Unterricht. Vor dem Ende der Diktatur nimmt sie manchmal an geheimen Versammlungen der Opposition teil.

Im Jahr 1974, dem Jahr der „Nelkenrevolution“ tritt sie in die Sozialistische Partei ein. Die Jahre der Revolution sind für sie eine bewegte Zeit. Sie ist aktiv, entwickelt die Fähigkeit, vor Menschen zu sprechen, gewinnt an Selbstbewusstsein. Als die Sozialistische Partei an der Regierung ist, arbeitet Maria Elena im Erziehungsministerium. Später lehrt sie an der Schule wieder Musik und Kunst. Sie ist eine der Gründerinnen von Frauengruppen in der Sozialistischen Partei. Obwohl in der neuen portugiesischen Verfassung die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern festgeschrieben wurde, stellen die Frauen sehr bald fest, dass die Partei sich niemals zu Fragen äußert, welche Frauen betreffen. Sie wenden sich der Frauenbewegung zu. Maria Elena wird u.a. Präsidentin des Vereins der Sozialistischen Frauen, einer autonomen Vereinigung, die sich dem Nationalen Frauenrat und den anderen Nichtregierungsorganisationen anschließt und internationale Kontakte aufnimmt.

Bei aller politischer Engagiertheit sorgt sie als musische Frau auch stets dafür, dass sich Frauen bei Kulturprogrammen entspannen und mit sich selbst in Einklang leben lernen, dass sie neue Lebensenergien schöpfen.

Maria Elena hat die Vision von einer neuen Gesellschaft, in der die Frauen ihren Platz haben, nicht um gegen die Männer Krieg zu führen, sondern um Vernunft und das Recht auf Gleichheit durchzusetzen. Das wird auch gut sein für ihre Lebensgefährten und Kinder. Sie setzt darauf, dass die Menschheit im Informationszeitalter verantwortlicher und nicht mehr so manipulierbar sein wird.


Henriette Kraemer, Jahrgang 1932, Holland

„Ich bin in Indonesien am 6. Dezember 1932 geboren. Ich war verheiratet. 1966, damals hatte ich zwei Kinder, habe ich mich scheiden lassen. Viele Jahre später, 1981, habe ich mich ein zweites Mal für einen Mann entschieden, und das bleibt auch so. Die Kinder sind jetzt 33 (der Sohn) und 37 Jahre (die Tochter) alt, und meine Tochter hat selber eine sechsjährige Tochter. Ich lebe seit 1971 wieder permanent in Holland.“

So beginnt Henriette Kraemer ihren Lebensbericht. Sie ist stark geprägt durch ihren Vater, Hendrik Kraemer, dem engagierten Christen und Humanisten, der u.a. anlässlich einer internationalen Missionskonferenz ein Buch schrieb „A Christian Messager for a Non-Christian World“, in dem er sich für das Respektieren der verschiedenen Religionen einsetzte und das damals in der institutionalisierten Missionswelt einer Revolution gleichkam.

In Indonesien geboren, lebt Henriette nach dem Zweiten Weltkrieg wieder im Ausland. 1948 geht die Familie in die Schweiz, wo der Vater beim Weltkirchenrat Direktor des Ökumenischen Instituts in Bossey wird. Später hält sie sich ein Jahr in England auf. Als sie in Paris studieren will, rät der Vater, dies in Holland zu tun, um hier ihre Wurzeln wiederzufinden. Sie beginnt ein Studium der Sozialpädagogik, das sie ihrem späteren Mann zuliebe nicht beendet. Gemeinsam gehen sie für vier Jahre nach Amerika. Dort wird ihre Tochter geboren.

Als der Mann an der amerikanischen Universität in Kairo eine Stelle als Dozent für Ökonomie bekommt, geht die Familie nach Ägypten. Dort lebt die Familie fünf Jahre lang, und es kommt ihr Sohn zur Welt.

Sie durchlebt den Widerspruch zwischen ihrem Leben als privilegierte Europäerin in Ägypten und den tiefen sozialen Gegensätzen im Land und will sich wieder stärker auf ihre holländischen Wurzeln besinnen.

1966 verlässt sie mit ihren Kindern mittellos ihren Mann und kehrt nach Holland zurück. Dort ist sie allein, hat kein Diplom, mit dem sie Arbeit bekommen könnte, findet auch keine Wohnung. Im Nachhinein denkt sie, es war gut, denn man braucht einen Bruch mit dem geschützten Leben, um zu verstehen, wer man ist. Sie bittet aber doch wieder eine Freundin im Ausland – in Paris – ihr zu helfen. So findet sie dort Arbeit und eine Wohnung. Ihre Aufgabe bei einer ökumenischen Hilfsorganisation ist es, sich besonders um Flüchtlinge aus der Dritten Welt zu kümmern. Sie nimmt auch ein Studium auf und schließt mit dem Diplom als Französisch-Lehrerin ab.

Nach vier Jahren überlegt sie: „Will ich in Frankreich bleiben? Dann sollte ich auch Französin werden, damit ich mich auch politisch engagieren kann.“ Sie entscheidet sich, nach Holland zurückzukehren und findet diesmal Arbeit und ein Unterkommen. Trotzdem fällt ihr diese zweite Rückkehr schwer. Die Kinder müssen sich umstellen, und sie empfindet im eigenen Land, wo sie die Nuancen besser versteht, die Lage der Frauen schmerzvoller. Nach vier Jahren kann sie endlich in ihrem Beruf als Lehrerin arbeiten. Die Freude währt jedoch nur kurz, denn sie muss in der Klasse auch gleichzeitig Polizistin sein. Sie verlässt die Schule und findet Arbeit in einem Migrantenbüro. Später arbeitet sie in der Entwicklungshilfe.

Als sie ihren neuen Mann kennen lernt, steht wieder die Frage, ob sie mit ihm in die Schweiz geht. Sie beschließt, mit ihren Kindern nicht wieder fortzugehen, sondern die Rollen zu tauschen. Es muss nicht immer die Frau sein, die dem Mann folgt.

In der entwicklungspolitischen Arbeit setzt sie sich mit der gängigen Praxis auseinander, auf die Zahl der Projekte zu setzen, weniger auf ihre Qualität und die guten Beziehungen, die dabei aufgebaut werden. Sie bleibt konsequent und setzt sich erfolgreich durch. Ende der 70er Jahre gründet sie gemeinsam mit anderen Frauen den Frauenverband für Entwicklungshilfe. Sie setzt sich in ihrer Organisation dafür ein, dass eine spezielle Stelle für Frauenangelegenheiten geschaffen wird. Es ist ein großer und schwieriger Kampf unter Einsatz von viel Taktik und Strategie. Sie fordert: In allen Projekten sollen die Geschlechterverhältnisse mehr Beachtung finden.

Ihr Mann stellt zu Hause fest: „Du bist immer wütend.“ Sie stellt fest: „Meine Wut ist verlorene Energie. Ich muss sie umbauen. Am Ende hat sie sich durchgesetzt.

Als die Machtkämpfe wieder zunehmen und sie ständig gegen den Strom schwimmen muss, von dem sie weiß, dass er zu kräftig ist und sie zerstören wird, denkt sie: „Irgendwann wird sich das Richtige durchsetzen, jetzt kann ich aber nicht siegen.“ Sie beschließt, mit 60 Jahren in Rente zu gehen. Sie hat auch Angst vor dieser Entscheidung, denkt, dass sie dann nicht mehr ernst genommen wird und sie aus allen Kreisen herausfällt.

Inzwischen gibt es engagierte Kollegen, die ihre Vorschläge aufgegriffen und weitergemacht haben.

Sie bekommt Aufträge, weil viele sie kennen. Sie beschäftigt sich weiter mit der Palästina-Problematik; auch die Frauenfrage hat sie nie aufgegeben. Gemeinsam mit einem Kollegen schreibt sie ein Buch „Glauben im mittleren Osten“. Sie sieht noch viel zu tun für die Entwicklung der Gesellschaft und der Demokratie.

Sie freut sich, Zeit zum Nachdenken zu haben, Artikel zu schreiben und Vorträge zu halten. Außerdem genießt sie die kleinen Freunden und Probleme des Alltags in der Familie sowie ihre Freundschaften. Und sie ist weiterhin neugierig auf Entwicklungstendenzen in der Welt. Sie hält es für wichtig, Verbindungen zu haben und zu sehen, wie man sich gegenseitig unterstützen kann. Sie sieht es als ihren Auftrag für ihre Enkelkinder, damit auch sie eine lebenswerte Welt haben.

Es ist für Henriette eine wichtige Lebenserkenntnis: Man muss herausfinden, wie man die Energie, die man noch hat, gut nutzen kann und sich nicht mit zu viel Ohnmacht erstört. Den Kampf gegen die eigene Ohnmacht sieht sie als sehr wichtig an, „denn man ist nicht ohnmächtig, wenn man sich mit sich selbst im Frieden befindet, mit seinen eigenen Gefühlen. Dann hat man viel Kraft. Darauf kann man aufbauen.“


Hiroko Mizuno, Jahrgang 1935, in Deutschland lebend

Seit über 30 Jahren lebt die Japanerin Hiroko Mizuno in Berlin. Die asiatische und die europäische Kultur in sich vereinigend, möchte sie gern die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, um endlich im Vollbesitz ihrer staatsbürgerlichen Rechte zu sein. Doch patriarchales Denken bei den Entscheidungsträgern machen dies der alleinstehenden älteren Frau schwer, die in all den Jahren in Deutschland fleißig für ihren Lebensunterhalt gesorgt und auch reichlich in die öffentlichen Kassen eingezahlt hat.

Obwohl damals in Japan für Mädchen und junge Frauen noch nicht üblich, hat die Tochter eines Tokioter kleinen Händlers frühzeitig für sich beschlossen, einen Beruf zu erlernen, um damit wirtschaftlich selbständig zu sein.


Während des Zweiten Weltkrieges wird sie gemeinsam mit ihrem Bruder evakuiert. Die Mutter folgt später mit zwei ihrer Geschwister. Der Vater ist im Krieg. Hiroko erlebt, wie amerikanische Brandbomben die leichten japanischen Häuser minutenschnell zerstören. Es wird eine Erfahrung für sie: „Wir reden heute oft sehr leichtfertig über die Evakuierung und meinen dann, dass durch sie die Gefahren und das Leid beseitigt wurden. Aber was heißt evakuieren wirklich? Es heißt, kein Haus mehr zu haben, kein Zuhause, keine Existenzgrundlage. Meine Mutter konnte nicht mehr das Geschäft führen, das sie seit Vaters Abwesenheit übernommen hatte, sie hatte keinen Garten, in dem sie etwas zu essen hätte anbauen können. Also verkaufte sie alles, was wir hatten, für Kartoffeln, Reis und Gemüse.“

Als der Krieg zu Ende ist, beginnt die Familie in Tokio von Neuem. Es ist der Mutter, einer starken und lebenstüchtigen Frau, zu verdanken, dass sie überlebt.

Hiroko bereitet sich an einer Privatschule auf ein Hochschulstudium vor und beginnt ein Lehrerstudium. Nach ihrem Abschluss bekommt sie ein Angebot, in einer Moderedaktion zu arbeiten und will Designerin werden. Dazu besucht sie zwei Jahre lang eine Abendschule. Als sie in einer entsprechenden Agentur arbeitet, merkt sie, dass sie nicht genügend talentiert ist. Damit ist sie in einer schwierigen Situation. Sie ist inzwischen Ende 20 und alles, was sie bisher angefangen hat, führte nicht zum Erfolg. Auch das in Japan übliche Heiratsalter hat sie bereits überschritten. Sie wünscht sich, noch einmal ganz von vorne anfangen zu können. Das ist für sie in Japan nicht möglich.

In ihrem Freundeskreis wird diskutiert, ins Ausland zu gehen. Gemeinsam mit ihrem Bruder entscheidet sie sich für Deutschland, weil hier die Möglichkeit besteht, neben dem Studium zu jobben und Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen.

29jährig löst sie sich eine Fahrkarte nach Deutschland und kommt auf abenteuerliche Weise nach Berlin. Sie findet eine Stelle als Au-pair-Mädchen. So manche erste Erfahrungen wirken auf sie wie ein Kulturschock. Nach einem Jahr folgt ihr Freund aus Tokio, ein bereits erfolgreicher Designer, der auch in Berlin sehr schnell Fuß fasst. Sie ziehen zusammen und erleben gemeinsam eine schöne, anregende Zeit. Sie beginnt ein Studium. Als nunmehr über 30jährige fällt es ihr nicht leicht, die deutsche Sprache zu erlernen – die erste Hürde, die sie vor dem Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Geschichte, später Geschichte der Neueren Zeit und Japanologie, nehmen muss.

Neben dem Studium stehen beide jeden Morgen um drei Uhr auf, um zu jobben. Dann beginnt ihr Freund, mit seiner Kunst Geld zu verdienen, und sie bekommt ein kleines Stipendium. Das Leben wird für sie leichter. An der Volkshochschule kann sie Japanisch lehren. Das hilft ihr wiederum, in der Anwendung der deutschen Sprache sicherer zu werden. Der Unterricht baut ihr Selbstbewusstsein auf. Sie schreibt ihre Magisterarbeit.

Die Beziehung mit ihrem Freund zerbricht, und sie bleibt allein.

Als man in Berlin beginnt, an einigen Schulen Japanisch als Fremdsprache einzuführen, wird sie als eine der ersten Lehrerinnen eingesetzt. Allerdings nur auf Honorarbasis, denn sie ist Ausländerin.

In Berlin findet sich eine Gruppe engagierter japanischer Frauen zusammen, die Japanische Fraueninitiative. Hiroko wird Mitglied und setzt sich hier mit für eine Modernisierung des japanischen Staatsbürgerschaftsrechts ein.

Ein weiteres wichtiges Thema, mit dem sich die Frauen in Zusammenarbeit mit der koreanischen Frauengruppe in Deutschland beschäftigt, ist das Problem der zwangsprostituierten Koreanerinnen. Gemeinsam mit engagierten deutschen Frauen veranstalten die beiden Gruppen in Berlin eine internationale Konferenz der Menschenwürde – Frauenwürde, Krieg und Vergewaltigung. Die Konferenz fordert die japanische Regierung auf, die Schuld der Vergangenheit zu bekennen, sich bei den Opfern zu entschuldigen und Entschädigung zu zahlen.

Seit dieser Konferenz und seit der Veröffentlichung der schrecklichen Vergehen gegen Frauen wird Hiroko zu Kaisers Geburtstag nicht mehr vom japanischen Generalkonsulat eingeladen. Sie ist stolz darauf.

Für Hiroko ist es eine wichtige Erfahrung, sich in der Gemeinschaft der japanischen Fraueninitiative engagieren zu können und zu spüren, dass ihre Stimme und ihr Rat gefragt sind. Sie hat damit auch weniger Angst, dass ihr etwas passieren kann. Und existenzielle Ängste hatte sie schon: Wie kann sie als alleinstehende ausländische Frau ohne Vermögen ihren Lebensabend in Deutschland verbringen? Sie hat phantasievolle Pläne, sich mit viel Fleiß und Lebenstüchtigkeit auch im Alter ihren Lebensunterhalt zu sichern und will auf ihre Weise nach dem vergangenen kriegerischen 20. Jahrhundert zum vertrauten Miteinander verschiedener Kulturen, zur gegenseitigen Akzeptanz und Toleranz beitragen.


© Margit Stolzenburg


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GLASNOST, Berlin 1990 - 2019