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Buchvorstellung
Hanna Behrend (Hrsg.): Zeiten der Hoffnung, Zeiten des
Zorns aus der Sicht eines DDR-Chronisten, Edition Ost Berlin 2005
541 S. brosch.19,90 ¤, ISBN 3-89793-105-2.
Das Buch
Die zwischen 1948 und 2004 verfassten
78 Texte in diesem Buch sind Zeitzeugnisse besonderer Art: Sie
stellen einen repräsentativen Ausschnitt der Lebensleistung eines in
der DDR zum Journalisten und Historiker ausgebildeten jungen Arbeiters
dar und zeigen die Fachkompetenz der neuen Intelligenz des zweiten
deutschen Staates. Damit verweist der Band auch auf den
selbstverschuldeten Verlust, den sich das vereinigte Deutschland durch
die weitgehende Ausgrenzung der DDR-Intellektuellen nach dem
Anschluss der DDR zufügte.
Die Texte umfassen Beiträge des
Autors über sein politisches Engagement vor und während der
Studienzeit, Arbeiten zu historischen und weltpolitischen Themen
(darunter von besonderer Aktualität die Geschichte des Volkswagenwerks
unter dem NS-Regime und nach dem Zweiten Weltkrieg). Der besonderen
Vorliebe des Autors für das Biographische geschuldet sind neun
„Portraits, Biographien“ u.a. von Franz Josef Strauß, Leo
Trotzki, Rosa Luxemburg und Winston Churchill.
Zum Kapitel „Geschichte der
Arbeiterbewegung“ gehört die der ersten deutschen
Sozialisierungskommission 1918/19. „Beiträge zur
Zeitgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ enthalten ein Profil der
Christlich-Sozialen Union in Bayern (CSU), behandeln den „Abs
Prozeß“ und „Neofaschismus weltweit“. Andere Kapitel sind
wesentlichen Seiten der DDR-Geschichte gewidmet – so der Unterdrückung
der „Ketzer“ in der SED einerseits, der Duldung neofaschistischer
Kräfte durch die Behörden andererseits -, ferner der „Abwicklung und
ideologischen Demontage der DDR samt Zerstörung ihrer sozialen
Errungenschaften“, dem „Antistalinismus“ und der Darstellung von
„ Parteien, Bürgerbewegungen und linken Gruppierungen nach der Wende“.
Der Beitrag über „Bürgerbewegungen in der DDR und danach – Aufstieg,
Niedergang und Vermächtnis“ ist einer der Texte, die man gerne in
deutsche Schulbücher aufgenommen sehen würde. Ein letztes aktuelles
Kapitel beschäftigt sich mit Studentenstreiks, Wahlalternativen und
Montagsdemos im Jahre 2004.
Der Autor
Manfred Behrend, Jahrgang 1930,
Messerschmiedelehre, seit Sommer 1948 politisch aktiv 1949
Nachwuchslehrgang der Deutschen Wirtschaftskommission,. 1949/50
Volontariat bei der Berliner Zeitung. 1950/51 Bote beim VEB
Stahlleichtbau Berlin-Johannisthal. 1951-1953 Studium an der
Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Berlin und bis 1957
Diplömgeschichtsstudium an der Humboldt-Universität.. Seit 1948
Beiträge für Forum, Sonntag, im Schriftsteller und anderswo. 1957-1961
Nachrichtenredakteur des Berliner Rundfunks; Erwerb des
Journalistendiploms. Wegen verbotener Westberlinbesuche beim Rundfunk
entlassen. 1961/1962 Lektor im Verlag Rütten & Loening. Dort
lernte er seine spätere Ehefrau, die Herausgeberin dieses Bandes,
kennen.
1962 wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Deutschen Institut für Zeitgeschichte (DIZ), das später mit dem
Deutschen Wirtschaftsinstitut und anderen wissenschaftlichen
Einrichtungen zum Institut für internationale Politik und Wirtschaft
fusionierte. Bis 1967 Leiter und Mit-Autor der Arbeitsgruppe „Deutscher
Geschichtskalender“, einer zeitgeschichtlichen Chronik, am DIZ, die auf
Weisung „von oben“ eingestellt wurde. Arbeit an der Dissertation
über Franz Josef Strauß; 1971 Promotion zum Dr. phil. Veröffentlichung
zweier Kapitel unter dem Namen Dieter Halfmann in den Kölner Blättern
für deutsche und internationale Politik 1975 ohne Genehmigung der
Institutsleitung. Zeitweilige Strafversetzung in die Abteilung
Prozessbeobachtung. Arbeitsgebiet CSU, bisweilen auch CDU. Mitglied in
der von Prof. Ludwig Elm geleiteten DDR-Arbeitsgruppe Konservatismus
und Teilnahme an den von Prof. Manfred Weißbecker geleiteten
Faschismus-Kolloquien. Publikationen in Konservatismus-Jahrbuch, Jenaer
Beiträgen zur Parteiengeschichte und Jahrbuch für
Geschichte
1990 Ausscheiden aus dem
abgewickelten Institut und Vorruhestand. Zusätzliche neue
Arbeitsschwerpunkte: Rechtsextremismus und Neofaschismus in der DDR
bzw. im neuen Osten der BRD, Geschichte der DDR-Bürgerbewegungen und
der PDS, DDR-Geschichte und Zerstörung von Wirtschaft, Wissenschaft und
Kultur der DDR nach dem Anschluss, Auseinandersetzung mit dem
Stalinismus, KPdSU-, UdSSR- und Kominterngeschichte, dem spanischen
Bürgerkrieg und der Biographie Leo Trotzkis.
Die Herausgeberin
Hanna Behrend, geboren 1922 in
Wien. Emigration in Frankreich und England. In (Ost)Berlin seit Ende 1946.
1948/49 Studium an der Vorstudienanstalt Berlin, 1949/1952 das der
Geschichte und Anglistik an der Humboldt-Universität, 1952-1955
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum für deutsche Geschichte, 1953
Diplom, 1955-1958 außerplanmäßige Aspirantin. 1958—1962 Lektorin im
Verlag Rütten & Loening, Herausgeberin der TB-Reihe Geschichte.
1959 Promotion. 1962/63 Übersetzerin bei Intertext. 1963-1967
freiberuflich als Übersetzerin/ Dolmetscherin tätig. 1967-1969 Lektorin
für Englisch an der Hochschule für Ökonomie, 1969-1987 wiss.
Assistentin, später a.o. Dozentin an der Sektion
Anglistik-Amerikanistik der Humboldt-Universität. 1982 Habilitation.
Bis 1994 Anglistik-Seminare. Seit 1969 Projektleiterin Englische
Arbeiterliteratur, seit 1985 Projekt feministische Theorie,
englische Literatur ethnischer Minderheiten. Seit 1995: Herausgeberin
der Reihe „Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft“. Lehr- und
publizistische Tätigkeit.
Leseproben:
Aus: Deutsche
Friedensverträge aus vier Jahrhunderte. Taschenbuch Geschichte 25,
Berlin 1962. Aus Kapitel II. (S. 49-54).
Tilsit 1807
Im Jahre 1792 rüstete sich der preußische König
FriedÂrich Wilhelm 1I., den Worten seiner Mätresse Gräfin Dönhoff
zufolge jeder Zoll ein Don Quichotte, um im Bunde mit Österreich die
Französische Revolution niederÂzuwerfen …
Bei Preußisch-Eylau hat Napoleon gegen
russisch-preuÂßische Truppen im folgenden Februar die erste Schlacht
geschlagen, die er nicht gewann. Das Treffen bei FriedÂland im Juni
1807 wetzte die Scharte einigermaßen aus. Da sowohl Frankreich als auch
Rußland zu weiteren Waffengängen vorderhand nicht imstande waren,
schlosÂsen sie am 7. Juli in Tilsit Frieden.
In dem französisch-russischen Vertrag ist außer
BeÂstimmungen über die Friedensvermittlung mit der TürÂkei bzw. mit
England im Grunde all das enthalten, was zwei Tage später die Grafen
Kalckreuth und von Goltz im Namen des Königs von Preußen zu
unterschreiÂben hatten: Die Bildung des Herzogtums Warschau aus
altpolnischem Gebiet, die Rückverwandlung :Danzigs in eine Freie Stadt,
die Abtretung der Provinz Bialystok, eines Territoriums von 206
Quadratmeilen mit 186 000 Einwohnern, an Rußland. Napoleon erklärte
sich einverÂstanden – „aus Achtung vor dem Kaiser aller Reußen und um
den aufrichtigen Wunsch zu bestätigen, beide Nationen durch
unauflösliche Bande der Freundschaft und des Vertrauens zu verbinden"
-, daß Friedrich WilÂhelm III. in Ost- und Westpreußen, Neumark,
Kurmark, Pommern, Schlesien sowie im rechtselbischen Teil des
Herzogtums Magdeburg wieder eingesetzt werde. In der Formulierung war
das nicht ganz aufrichtig: Auch der Kaiser der Franzosen ist am
Fortbestehen Preußens interessiert gewesen. Er brauchte es als
Pufferstaat gegenüber Rußland und als Pfahl im Fleische des unÂsicheren
Kantonisten Österreich.
Durch den Definitivfrieden vom 9. Juli 1807 in
Tilsit beÂkam der König insgesamt 2618 Geviertmeilen TerritoÂrium mit
5,2 Millionen Einwohnern gnädigst zurückerÂstattet. Dafür durfte er
allein zwischen Rhein und EIbe 2700 Geviertmeilen mit 5 Millionen
seiner lieben UnterÂtanen für Jérome Bonaparte opfern, den König von
Westfalen, der ebenso wie die anderen Brüder NapoÂleons sowie die
augenblicklichen und zukünftigen RheinÂbundfürsten mit sämtlichen
Titeln und Erwerbungen von ihm anerkannt werden mußte. Der
Napoleonischen Kontinentalsperre hatte der König beizutreten.
Durch eine Konvention zur Vollstreckung des 16.
VerÂtragsartikels, unterzeichnet am 13. Oktober in Elbing, ist sodann
die Militärstraße für Sachsen festgelegt worÂden, die aber auch von
sämtlichen Verbündeten dieses Königreichs benutzt werden durfte: „Licht
und Heizung reichen die preußischen Untertanen, bei welchen die
Mannschaft einquartiert ist." Artikel 16 wurde noch daÂhin gehend
erweitert, daß auf dieser und allen HauptÂstraßen Schlesiens sämtliche
sächsischen, herzoglich warschauischen sowie französischen Waren,
seien ihre Eigentümer Franzosen oder Russen, zollfrei passieren durften.
Für den enormen Verlust an Zolleinnahmen ist der
preuÂßische Rumpfstaat im vorhinein durch die Konvention von Königsberg
„entschädigt" worden, abgeschlossen zwischen. Kalckreuth und dem
französischen GeneralÂstabschef Berthier am 12. Juli 1807. Danach
sollten die Franzosen entsprechend Vertragsartikel 28 bis zum 1.
Oktober Preußen geräumt haben - unter der BedinÂgung allerdings, daß
die bis dahin auferlegten KontriÂbutionen und Requisitionen abgetragen
wären. Da eine bestimmte Summe in der Konvention nicht angegeben wurde,
kreidete der französische Intendant Daru dem unterworfenen Gegner fast
514 Millionen Franken an, indes sich die preußischen Berechnungen nur
auf 19 MilÂlionen beliefen. In dem sogenannten Vergleich von
ChamÂpagny, der am 8. September 1808 unterzeichnet worden ist, setzte
Napoleon - und nur, weil er seine Truppen im rebellierenden Spanien
brauchte - den Tribut auf 140 Millionen fest. Zu Erfurt ermäßigte er
ihn auf DränÂgen des Zaren um 20 Millionen und verlängerte ein wenig
die Zahlungsfristen. Die sonstigen BestimmunÂgen von Champagny -
Besetzung der Oderfestungen durch die Franzosen, sieben Militärstraßen
für sie, BeÂgrenzung der preußischen Heeresstärke auf höchstens 42 000
Mann, Verbot jeder Miliz, Teilnahme Preußens am Zuge gegen Österreich -
blieben in Kraft. Alles in allem hat der Kaiser der Franzosen nach
preußischen Schätzungen bis zum 15. Oktober 1808 runde 564 MillioÂnen
aus dem erschöpften und gedemütigten Staate herÂausgepreßt, in
Tateinheit mit dem Pariser MuseumsÂdirektor Denon auch die Schlösser
und Galerien geplünÂdert und wertvolle Kunstschätze nach Frankreich
schaffen lassen. Napoleon, hier vielleicht noch der 200 000
franÂzösischen und Rheinbundsoldaten gedenkend, die bis Ende 1808 den
borussischen Untertanen auf der Tasche lagen, prahlte im Frühjahr 1809:
„Ich habe mehr als eine Milliarde aus Preußen gezogen."
Geleert war der Kelch damit längst nicht. Am 24.
FeÂbruar 1812 zwang der Franzosenkaiser Preußen, mit ihm ein Bündnis
für alle europäischen Kriege einzuÂgehen; in Spanien, Italien und der
Türkei hatte es kein Hilfskorps zu stellen, für den bevorstehenden Gang
mit Rußland aber die Hälfte seiner Armee. Dem Rest der Truppen wurden
bestimmte Garnisonen angewiesen, die Festungen Kolberg und Graudenz
wurden dem franÂzösischen Generalstab unterstellt. Aushebungen, neue
Befestigungen und Truppenbewegungen waren Preußen nur im Einvernehmen
mit Frankreich erlaubt. Der geÂsamte preußische Rumpfstaat, ausgenommen
Potsdam und der größere Teil Schlesiens, sollte den Franzosen als
Aufmarsch- und Besatzungsgebiet offenstehen. PreuÂßen hatte 3600
bespannte Wagen und außerdem 15 000 Pferde sowie 44 000 Ochsen zu
liefern, 600 000 Pfund PulÂver und rund 300 000 Pfund Blei, eine
riesige Menge Nahrungs- und Genußmittel, dazu alles Notwendige für 20
000 kranke französische Soldaten. Die fremden KomÂmandeure hatten
Rechte der Polizei und der Requisition. Zwar sollten Beschlagnahmen auf
die noch fälligen Reste der Kriegskontribution angerechnet werden -
doch war dieser Punkt nach den Kunststücken eines Daru
AugenÂauswischerei. Zum Troste ist dem preußischen König sehr vage eine
Landentschädigung versprochen worden. Als „Verbündete" also kehrten die
Franzosen nach PreuÂßen zurück. Die dem Pakt zugrunde liegenden
BestimÂmungen waren aber eine Fortsetzung und Ausweitung des Tilsiter
Diktats. Der Bourgeois-Kaiser Napoleon, dem Deutschland immerhin die
Vertilgung Dutzender von Fürstentümern und eine ganze Anzahl
bürgerlicher Reformen verdankt, bewährte sich je länger, je mehr als
der Exponent einer Ausbeuterklasse, die im Namen von Freiheit und
Gleichheit ganze Völker unterjocht. In Spanien und Tirol hatten Raub
und Eroberung zu AufÂständen geführt. Jetzt, 1812, erhoben sich die
Russen zum Vaterländischen Krieg. Am 30. Dezember aber unterÂschrieb
der General York die Konvention von TaurogÂgen, die endlich auch in
Preußen den Stein ins Rollen brachte. König Friedrich Wilhelm war so
geistreich, nach Reichsfreiherrn vom und zum Stein und Ferdinand von
Schill auch diesen preußischen Patrioten in Acht und Bann zu tun.
Aufhalten konnte der gottbegnaÂdete Monarch nichts mehr;
Unter dem Druck der antifeudalen Bewegung und dem
Bankrott des friderizianischen Regimes hatte sich FriedÂrich Wilhelm
IV. schon im Oktober 1807 gezwungen geÂsehen, einer Aufhebung der
bäuerlichen ErbuntertänigÂkeit in preußischen Landen zuzustimmen,
desgleichen dem Rechte aller Einwohner zum Erwerb von GrundÂbesitz und
zum Gewerbebetrieb. Er mußte zu einer besseÂren Staatsverwaltung ja und
amen sagen, zur Steinschen Städteordnung vom November 1808, zum Gesetz
über die Gewerbefreiheit 1811. Die Scharnhorst und GneiseÂnau trotzten
ihm die Aufhebung der borussischen KomÂpanie- und Prügelwirtschaft im
Heere ab; das Recht auf Offiziersposten stand fortan nicht mehr allein
den JunÂkern zu. Im Februar 1813, da wenigstens der englische Agent
Ompteda Preußens Situation revolutionär nannte, verstand sich der König
zu dem Appell, FreiwilligenÂverbände zu bilden, und zur allgemeinen
MilitärdienstÂpflicht. Am 25. März durfte der russische
OberbefehlsÂhaber Kutusow gar namens ihrer Majestäten „den Fürsten und
Völkern Deutschlands die Rückkehr der Freiheit und Unabhängigkeit"
ankündigen; man wolle „der Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches
mächtigen Schutz und dauernde Gewähr" leisten.
Die königlichen Versprechungen wurden nicht
gehalten. Die Verordnungen sind derart verändert worden, daß
beispielsweise aus der Bauernbefreiung der berühmte „preußische Weg in
der Landwirtschaft" wurde, ein kaÂpitaler junkerlicher Raubzug, und aus
der allgemeinen Wehrpflicht von 1813 jene Heeresreform, die zur
UnterÂwerfung Kleindeutschlands unter den preußischen MiliÂtarismus
gedient hat.
Der Tilsiter Traktat - ein Akt des Raubs und der
GeÂwalt, der die größte deutsche Volkserhebung seit dem Bauernkrieg mit
ausgelöst hat - ist in einem ZusatzartiÂkel zum ersten Pariser Frieden,
am 30. Mai 1814, der Form halber für ungültig erklärt worden.
Aus: Defensivlösung: Ulbrichts „schreckliche Mauer“ 2001
…Die Westberlinfrage wurde zur Existenzfrage der DDR, nahm doch der
Flüchtlingsstrom, auch infolge westlicher Abwerbung, mehr denn je
zu. In knapp zwei Dritteln des Jahres 1961 flohen 236 000 Menschen aus
dem „Arbeiter-und-Bauern-Staat“, vor allem Facharbeiter, Handwerker,
Ärzte, Spezialisten. Im Juli waren es 1000, Anfang August 1500 pro Tag.
In Produktion und Gesundheitswesen klafften Lücken. Westberliner und
mit Westmark entlohnte Grenzgänger trugen durch Aufkauf für sie
billiger Ostware zu leeren Regalen bei. Die UdSSR konnte die Verluste
nicht ausgleichen. Die DDR lief Gefahr auszubluten. Zugleich wuchs
wieder Unzufriedenheit mit dem Ulbricht-Regime. Angesichts enormer
Truppen- und Waffenpotentiale in Deutschland konnte das zur Explosion
führen.
Ulbricht und Chruschtschow neigten
nunmehr zur defensiven Lösung des Problems. Zwar bekräftigte Ersterer
noch Ende Juli 1961, er würde auf die Grenzschließung gern verzichten,
wenn die andere Seite „zu normalen Beziehungen übergeht“. Einen Monat
zuvor aber lud er Sowjetbotschafter Perwuchin auf seine Datsche
in der Schorfheide ein und machte dem die Hölle heiß. Zusätzlich zum
wachsenden Flüchtlingsstrom, so Ulbricht, der das Leben in der DDR
zunehmend desorganisiere, gebe es erste Anzeichen für eine
bevorstehende Revolte. Anders als 1953 sei diesmal das Eingreifen der
Bundeswehr zu befürchten. Bleibe die Situation an der offenen Grenze zu
Westberlin so wie jetzt, sei der Zusammenbruch der DDR unvermeidlich.
Er warne davor und lehne die Verantwortung ab.
Nach mehrwöchigem Schwanken und internen
Beratungen billigte Chruschtschow die Grenzschließung. Am 5. 8.
stimmten die Ersten Sekretäre kommunistischer Parteien der Warschauer
Paktstaaten dem Plan zu, „an der Westberliner Grenze eine solche
Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des
sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um das
ganze Gebiet Westberlins ... eine verlässliche Bewachung und eine
wirksame Kontrolle gewährleistet wird“. Das SED-Politbüro fasste am 7.,
die Volkskammer am 11. und der DDR-Ministerrat am Abend des 12. 8.
entsprechende Beschlüsse. Die Aktion wurde streng geheim gehalten und
dem Parlament sehr undetailliert dargestellt. Den Kommandanten der
Berliner Westsektoren – damit deren Regierungen – schenkten die
Sowjetbehörden am 10. 8. reinen Wein ein.
Um 0.00 Uhr am 13. August 1961 übernahm
der Verantwortliche für Sicherheit des SED-Zentralkomitees, Erich
Honecker, die Leitung der „Aktion X“. Um 1.40 Uhr wurden Ostberlins
Volkspolizei und Kampfgruppen in Alarmbereitschaft versetzt und an die
Grenze beordert, um sie zu schließen. Mindestens 1000 Meter von der
Demarkationslinie entfernt standen nördlich und südlich von Westberlin
Einheiten einer NVA-Schützendivision zum Eingreifen bereit, das aber
nicht nötig war. …
Einige Begleitumstände, die gern
vergessen werden: .. Zunächst die Tatsache, daß neben den Westmächten
auch die Bundesregierung unterrichtet war und ebenfalls gelassen
reagierte, da es sich um reine Defensivmaßnahmen auf östlichem Gebiet
handelte. Kennedy äußerte: „So weit ich in Frage komme, ist die Krise
ausgestanden. Wenn die Russen die Absicht gehabt hätten, uns
anzugreifen, ... würden sie keine Stacheldrahtbarrikaden errichten.“
Kanzler Adenauer bestand darauf, „nichts zu unternehmen, was die Lage
nur erschweren, aber nicht verbessern kann“. Er nahm gleich den USA zur
Sowjetunion Kontakt auf und versicherte ihr, von BRD-Seite werde nichts
passieren. Verteidigungsminister Strauß war darüber erleichtert,
daß die Sache glimpflich abgelaufen war, hatten ihn doch
amerikanische Gesprächspartner beim USA-Besuch am 14. 7.
aufgefordert, einen sowjetischen Truppenübungsplatz in der DDR zu
nennen, den sie im Ernstfall atomar bombardieren könnten.
Uninformiert waren der Westberliner
Senat und bis zum Vorabend des 13. 8. auch sein Regierender
Bürgermeister, SPD-Kanzlerkandidat Brandt, geblieben. Sie reagierten
hektisch mit dem vollen Vokabular des kalten Krieges auf „die
widerrechtlichen und unmenschlichen Maßnahmen der Spalter Deutschlands,
der Bedrücker Ostberlins und der Bedroher Westberlins“, die mitten
durch die Stadt „die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen“
hätten.
…Ulbricht … verlautbarte am 18. 8. über
Funk und Fernsehen: Pläne der Bonner Regierung „liefen darauf hinaus,
durch eine auf die Spitze getriebene Störtätigkeit solche Bedingungen
zu schaffen, um nach den westdeutschen Wahlen mit dem offenen Angriff
gegen die DDR, dem Bürgerkrieg und offenen militärischen Provokationen
beginnen zu können.“ Der später in einer Zeitschrift unternommene
Versuch, das glaubhaft zu machen, ist mangels Fakten gescheitert.
Die Befestigungen gegenüber Westberlin
und der BRD-Grenze wurden mehr als zwei Jahrzehnte lang verstärkt. Noch
1961 sind die Stacheldrahtsperren in Berlin durch eine steinerne
Behelfsmauer, dann diese durch 165,7 km „moderner Grenze“ aus rund vier
Meter hohen Betonplatten mit Panzersperren und Beobachtungstürmen
ersetzt worden. An der 1400 km langen „Staatsgrenze West“ wurden 1,4
Mill. Minen deponiert, ab 1970 auch sogenannte Selbstschussanlagen.
Nach dem 13. 8. 1961 kamen an der Berliner Mauer 239, an der Grenze zur
BRD 271 Menschen ums Leben, auch flüchtige DDR-Grenzsoldaten.
Dem britischen Geistlichen Oestreicher
gegenüber hat Walter Ulbricht 1962 davon gesprochen, die Mauer sei
„schrecklich“, doch würden ohne sie viele davonlaufen. Er bekannte sich
insofern selbst als Kerkermeister. …Unter Obhut des von DDR-Seite als
„antifaschistischer Schutzwall“ schöngeredeten Monstrums wurden
zeitweilig Versuche unternommen, mittels technokratischer Reformen,
Auflockerung der Jugend- und Kulturpolitik, später durch umfassenden
Wohnungsbau und andere soziale Zugeständnisse die Lebensbedingungen der
Massen zu verbessern. Doch reichten die Lockerungsübungen nicht aus,
wurden demokratisch-sozialistische Verhältnisse, welche die Bevölkerung
mehrheitlich für den Staat hätten gewinnen können, sorgsam vermieden.
Ausgerechnet zum Thomas-Münzer-Jahr 1989 verkündete
Ulbricht-Nachfolger Honecker, die Mauer werde noch in 50 oder 100
Jahren bestehen bleiben, „wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht
beseitigt sind“. Monate später sorgten Politbüro und Zentralkomitee der
SED selbst dafür, daß Breschen in das Bauwerk geschlagen wurden. Um
Kritiker der bürokratischen Diktatur auszumanövrieren, öffneten deren
Träger das Tor zur DDR-Übernahme durch den
Klassenfeind.
Aus: Ketzereien in der SED-Geschichte, 1992
Auch zur Geschichte der SED gehört eine HiÂstorie
der Ketzerei, des Aufbegehrens gegen Obrigkeiten und der von diesen
ausgeteilten Nacken- und Konterschläge. …Die Vorgänge selbst sind aber
durch zahllose Parteiverfahren, dabei ausgesprochene Strafen und
Parteiausschlüsse belegt, die bisweilen auch von Berufsverboten
begleitet waren. HöÂhepunkte innerparteilicher, oft „von oben“ herab
geführter Auseinandersetzung waren die Anti-Tito-Kampagne ab Ende der
vierziger Jahre, die Parteiüberprüfung 1951, Reaktionen auf den 17.
Juni 1953 in der DDR, auf Chruschtschows Geheimrede sowie auf Polen und
Ungarn 1956, den „Prager Frühling“ 1968 und kritische Tendenzen unter
DDR-Schriftstellern und -Künstlern Mitte der siebziger Jahre. Der
SED-Spitze und dem Apparat kam zugute, dass sie außer vielfältigen
Druckmitteln ein MeiÂnungsmonopol besaßen, die Sowjetunion ihÂnen die
längste Zeit über zur Seite stand, die Mehrheit in der Partei apathisch
blieb oder ihÂnen teils aus mangelnder Einsicht in die RealiÂtäten,
teils aus Karrieregründen und teils aus schlichter Feigheit folgte. Die
Opponenten waÂren weithin isoliert. Bis auf wenige konnten sie relativ
leicht in die Knie gezwungen werden. Die meisten wurden hierauf wieder
parteitreu, Ânicht zuletzt deshalb, weil sie in der BundesreÂpublik
Deutschland keine akzeptable gesellÂschaftliche Alternative sahen.
Manche haben aus unterschiedlichen Anlässen mehrfach geÂgen .Führung
und Apparat rebelliert und desÂhalb auch mehrmals dafür Prügel bezogen.
… 1989 folgten in der SED nur wenige der Führung.
Das Gros blieb inaktiv. Eine an Zahl zuÂnehmende Minderheit strebte
Glasnost, Demokratie und die sozialistische Erneuerung der DDR an. Auch
Angehörige der Streitkräfte hinderten faktisch die Parteispitze, nach
PekinÂger Muster mit Waffengewalt gegen BürgerÂrechtler vorzugehen, die
für demokratische Forderungen auf die Straße gingen. Doch war die
Parteiopposition bis auf wenige nicht beÂreit, gemeinsam mit
Angehörigen der BürgerÂbewegung gegen die Partei- und Staatsführung zu
demonstrieren. … Zwar hat die Parteibasis dann PolitÂbüro und
Zentralkomitee zum Rücktritt geÂzwungen. Doch gelang der alten Führung
als letzter Streich noch die plötzliche Öffnung der Westgrenze, wodurch
sie einesteils das leidige Ausreiseproblem über Drittländer in die
BunÂdesrepublik lösen, anderenteils und vor allem aber den Druck auf
sich selbst abwenden wollte. Der Coup führte dazu, daß Ansätze zur
Basisdemokratie ein baldiges Ende fanden und sowohl die Bürgerbewegung
als auch die frühere Parteiopposition bürgerlichen AmtsÂnachfolgern der
Politbürokraten unterlagen.
Aus: Lebenslügen der erweiterten Bundesrepublik, 1992
Beim „Aufschwung Ost" wurden bisher u.a. diese
Erfolge erzielt:
- Die zu Honeckers Zeiten teils unterentwickelte und verschlissene,
teils hypertrophierte DDR-Wirtschaft ist weitgehend zerschlagen. Eine
Vielzahl Produktionsbetriebe und 600.000 Hektar Ackerland wurden still-
bzw. brachgelegt. Das sogenannte volksÂeigene Vermögen betrug 1,365
Billionen Mark, der Wert der Treuhandbetriebe nach deren eigener
anfänglicher Einschätzung rund 600 Milliarden DM. Die nominellen
Eigentümer wurden um all das gebracht. Der bundesdeutsche Staat agiert
wie in einem Kolonialland. Er läßt große Teile der Beute verkommen,
schanzt die Filetstücke, oft zu sagenhaft niedrigem Preis,
Westkonzernen und dunklen Geschäftemachern zu. Da außerdem zwei
Millionen Hektar Land verscherbelt werden sollen, könnten trotz
gegenteiligen Gerichtsentscheids zur Bodenreform auch Nachkommen der
Junker noch auf ihre Kosten kommen.
- Die Zahl der Erwerbstätigen im Anschlußgebiet wurde in zwei Jahren
von 9,7 auf 4
Millionen (41 Prozent) gedrückt. Die der offiziell anerkannten
Arbeitslosen betrug im
Herbst 1991 etwas über eine Million (11,9 Prozent); 1992 wird sie
laut Bundesanstalt für Arbeit auf mindestens 1,5 Millionen
steigen. Der Frauenanteil ist mit 61 Prozent extrem
hoch. Da fast zwei Drittel der 1,2 Millionen Kurzarbeiter und die
überwiegende Mehrheit der mehr als 500.000 Vorruheständler ebenfalls
erwerbslos sind, macht die tatsächliche Arbeitslosenquote heute bereits
30 Prozent aus. Hinzu kommen 1,9 MillioÂnen Teilnehmer an
Arbeitsbeschaffungs- und Fortbildungsmaßnahmen, von denen viele später
keinen Job erhalten werden, und eine halbe Million Pendler.
Ganze InduÂstrie- und Bergbauregionen sind dem
Verfall preisgegeben. In der Landwirtschaft sank die Beschäftigtenzahl
mittlerweile von 750.000 auf 150.000. Zwar gibt es viele
KleingeÂwerbetreibende und Händler, doch ist die Fluktuation unter
ihnen aus Kapitalmangel enorm. In Forschung und Entwicklung sind heute
nur noch 45 000 von vorher 140.000 Werktätigen beschäftigt, ein Drittel
der altbundesdeutschen Quote je 10.000 Einwohner. Die erzwungene
Abwanderung von Spitzenkräften nach Westen und ins Ausland bedeutet
ebenso wie die Hunderttausender Facharbeiter, daß die Rückverwandlung
in ein Industriegebiet immer weniger Chancen hat.
- Das BRD-Kapital hat durch Verfünffachung des Warenstroms in den
Osten, Einstellung bereits voll ausgebildeter Kräfte aus der DDR,
höhere Zinserträge durch den Anschluß und saftige Schnäppchen aus dem
östlichen Industriebestand BillionenproÂfite erzielt. Andererseits
flossen allein 1991 rund 136 Milliarden DM in die neuen Länder, 62
Prozent davon für einkommenspolitische Maßnahmen. Den Konzernen kommt
das über die Käufer ihrer Waren zugute. Der Steuerzahler aber muß die
Summen aufbrinÂgen. Sie lassen ahnen, wie hoch die Umverteilungsquote
von unten nach oben ist. Nach SPD-Schätzungen wird die staatliche
Neuverschuldung 1992 mit Sonderhaushalten sowie Länder- und
Gemeindekreditaufnahme 200 Milliarden DM betragen. Damit bahnt sich
durch den Bonner Crashkurs im Osten eine tiefgreifende Finanzkrise an.
- Folgen imperialistischer Anschlußpolitik treffen auch die Bürger der
Alt-BRD. Vorrangig sind aber die der neuen Bundesländer betroffen.
Deren Arbeitslosenzahlen sind mehrmals so hoch wie die westdeutschen.
Lohn- und Gehaltsempfänger der Ex-DDR erhalten im Durchschnitt nur 40
bis 45 Prozent der Westlöhne, u.a. weil sie kein Weihnachts- und
Urlaubsgeld bekommen und ihre Arbeitszeit länger ist. Entsprechend
niedriger sind Vorruhestands- und Arbeitslosengelder sowie Renten im
Osten. LetztgeÂnannte werden 1992 wegen des Rentenüberleitungsgesetzes
teilweise sogar gekürzt, besonders für viele Frauen. Die Ersparnisse
früherer DDR-Bürger sind bei der WahÂrungsunion verringert worden, Sie
betragen heute pro Kopf 7 700 DM, gegenüber 45 000 DM in der Alt-BRD.
Durch Gebührenerhöhungen, kostendeckende AltenheimÂpreise, den enormen
Mieten- und Energiepreisanstieg werden ehemalige DDR-Bürger daher
extrem hart getroffen. Das Wachstum der Lebenshaltungskosten betrug von
Ende Oktober 1990 bis Ende Oktober 1991 im Osten 26,1 Prozent, mehr als
irgendwo sonst auf deutschem Boden. Durch Liquidierung sozialer und
kultureller Einrichtungen, die kostenlos oder für wenig Geld genutzt
werden konnten, fiel auch die bisherige „zweite Lohntüte" weg.
- Zu den schwerwiegenden materiellen Anschlußfolgen kommt hinzu, daß
HunÂderttausende frühere Staatsdiener und SED-Funktionäre pauschal
diskriminiert werÂden, daß gleich der PDS u.a. die Organisation der
Naziopfer um den größten Teil ihres Vermögens gebracht wurde.
Vorkämpfern der Demokratie in der DDR schlägt zunehÂmend Haß entgegen.
Krankenschwestern und Eisenbahner mußten für eine
SelbstverÂständlichkeit - die Anerkennung ihrer Dienstjahre - in den
Kampf ziehen. Denn Ossis - so wird suggeriert - sind faul und geistig
minderbemittelt; auch habe wenigstens jeder zweite Politverbrechen
verübt.
Aus: Der Osten als Jungbrunnen der NPD. Ostdeutscher
Rechtsextremismus vor und nach dem Anschluß 2001
Anders als im Westen wurÂden nach 1945 in der
SoÂwjetischen Zone mit .BoÂdenreform, Enteignung der JunÂker und
Kriegsverbrecher, SäuÂberung der Wirtschaft, des Staatsapparats und der
Justiz von Naziaktivisten Wurzeln: des Faschismus gerodet. Gleichfalls
anders als in der entstehenden BRD war in SBZ und DDR die weitgehende
Verfolgung von NS-Verbrechern. Negativ wirkÂten sich stalinistische
SäubeÂrungen, die Ersetzung kommuÂnistischer und sozialdemokratiÂscher
Kader durch KarriereÂsüchtige, Teilnahme am tendenÂziell
antisemitischen Feldzug gegen den „Zionismus", die VVN-Auflösung 1953,
die fortÂschreitende Bürokratisierung und Aushöhlung der DemokraÂtie
aus.
Unter der Oberfläche antifaÂschistischer Staatsdoktrin dauÂerten
rechtskonservative, rassiÂstische und nazistische DenkÂweisen fort und
wurden weiterÂvererbt. Der zunehmend autoriÂtäre Charakter von Partei-
und Staatsspitze, die Unterdrückung der Initiativen von unten, offeÂner
Diskussion und wahrheitsÂgetreuer Berichterstattung, die
Doppelbödigkeit des Verhaltens vieler ließen reaktionäre GesinÂnungen
gedeihen.
Bald schon bildeten sich erste organisierte Formen von neuem Nazismus,
Revanchismus und Korpsstudententum, z. T. nach westlichem Muster,
heraus. EntÂtarnte Delinquenten wurden bestraft, manche - so
WehrÂsportgruppenführer Hoffmann gegen Westmark in die BRD abgeschoben.
Der DDR-Staat war um seines Firmenschilds willen bemüht, über
neonazistiÂsche Aktivitäten nichts an die Öffentlichkeit dringen zu
lasÂsen. Daher konnte das GeÂschwür ungestört weiterwuÂchern. …
Die Grenzöffnung am 9. NoÂvember 1989 gab auch bundesÂdeutschen
Neonazis, darunter Michael Kuhnen, den Weg nach Osten frei. Auch hier
wuchs zuÂsammen, was zusammengeÂhört, wenngleich Ost-West-ReiÂbereien
bis heute fortdauern. Die Ostnazis hatten NachholbeÂdarf an
Provokationen und tobÂten sich aus. Der zerfallende DDR-Staat setzte
ihnen kaum Widerstand entgegen. Der AnÂschluss an die BRD brachte
seiÂnerseits die ersten Todesopfer rechtsextremer Mörder mit sich.
1992 dienten brandschatzenÂde und mordende Neonazis aus Ost und West in
Rostock-LichÂtenhagen und andernorts etaÂblierten Bundestagsparteien
als Stimmungsmacher, um das Asylrecht aushebeln zu können. Zwar wurden
die JungfaschisÂten, wie vorher von der Stasi, nun vom
Verfassungsschutz beÂobachtet, wobei das MfS sie alÂlerdings nicht so
nobel aus SteuÂergeldern mitfinanziert hatte. Die Observation blieb für
die öfÂfentliche Sicherheit weiter folÂgenlos. Die Herrschenden
brauchten die Rechtsextremen als Hilfskraft, damit sie selber rechte
Politik treiben und den Osten ungehindert kolonialisieÂren konnten.
Im November 1992 begann allerdings um des BRD-Images willen eine Welle
von Verboten neofaschistischer OrganisatioÂnen, darunter 1995 des
wichÂtigsten Sammelbeckens FreiÂheitliche Deutsche ArbeiterparÂtei.
Zartfühlend wurde - wie inzwischen auch im Fall NPD - für die
frühzeitige Vorankündigung solcher Maßnahmen gesorgt, damit die
Betroffenen Akten beÂreinigen, Kassen leeren und woÂanders
unterschlüpfen konnÂten.
Durch Zusammenschluss in Unabhängige KameradschafÂten sind viele von
ihnen als OrÂganisation für die Behörden unÂangreifbar geworden. Sie
verÂüben weiter schwere VerbreÂchen, meist ohne dafür adäquat belangt
zu werden. Den KameÂradschaften nahe stehen sog. Una-Bomber wie
Diesner, der 1997 in Berlin den sozialistiÂschen Buchhändler
Baltruschat, dann auf der Flucht einen PoliÂzisten lebensgefährlich
verletzÂte und einen anderen erschoss.
Mit 15 951 rechtsextremen, fremdenfeindlichen und antiseÂmitischen
Anschlägen im Jahre 2000, fast 59 Prozent mehr als im Jahr zuvor,
erreichte die BRD den bisherigen Höchststand.
Auf parteipolitischem Gebiet kamen die
OrganisationsverboÂte der NPD zugute. Die 1964 geÂgründete, ab 1969
meist im NieÂdergang befindliche Partei lebte nach dem Anschluss im
Osten wieder auf. Sie gewann vor alÂlem in Sachsen neue militanteÂ
Mitglieder, überrundete RepuÂblikaner und Deutsche VolksÂunion und hat
BundesgeÂschäftsstelle wie Verlag nach Ostberlin bzw. Riesa
umquarÂtiert. Ab 1997 wirkten die radiÂkaler gewordenen
NationaldeÂmokraten verstärkt mit den KameÂradschaften zusammen.
Zu ihren Aktivitäten zählten Manifestationen von
HunderÂten und Tausenden, darunter der seit der Hitlerzeit erste Marsch
deutscher Faschisten durchs. Brandenburger Tor in Berlin, eine Demo in
Neuruppin nach den US-Attentaten vom 11. 9. 2001, bei der ein
NPD-ÂFunktionär vor den Augen der Polizei ein Sternenbanner
verÂbrannte, und der Aufmarsch vom 1. 12. 2001 am Rand des ehemaligen
jüdischen Viertels in Ostberlin, bei dem 3 300 NeoÂnazis unter
Polizeischutz gegen die Wehrmachtsausstellung zu Feld zogen.
Sofern die Polizei nicht direkt auf Antifaschisten einschlägt, ist die
eben erwähnte HandÂlungsweise für sie typisch. GeÂrichte stellen
neofaschistische Verbrecher gern als Einzeltäter hin und beurteilen sie
milde, während Antinazis hart drangeÂnommen werden. Wiederholt
schanzten amtliche Stellen, so Bundesministerin Merkel beim
„Aktionsprogramm gegen AgÂgression und Gewalt", RechtsÂextremen Geld zu
oder bestellÂten sie zu Jugendklubleitern. Der Verfassungsschutz
beschäfÂtigt Neonazis als V- Männer, darÂunter, wie sich ergab, große
TeiÂle der NPD-Führung, instruiert sie und unterstützt häufig ihre
Aktionen.
Aus: Das Volkswagenwerk in Frieden und Krieg 1998
Der Weg zum Wirtschaftswundersymbol und zum weltweit agierenden
Konzern
Beim Start in den Frieden hatte die VW GmbH in mehrfacher
Hinsicht Glück. Erstens blieb sie, da in einer westlichen
Besatzungszone Deutschlands gelegen, von ernsthafter Verfolgung ihres
Managements wegen Nazi- und Kriegsverbrechen verschont. Zwar gab es
1945/46 zwei Entnazifizierungswellen. Sie trafen aber nur relativ
wenige Personen, zudem wurden etliche Entscheide wieder zurückgenommen.
Porsche und Piech standen unter Kriegsverbrecher-Verdacht. Sie waren
zeitweise interniert und sahen sich 1945-1947 in Frankreich
Untersuchungen ausgesetzt. Dabei ging es nicht nur um den Maschinen-
und Werkzeugraub bei Peugeot, sondern auch darum, daß französische
Direktoren zur Brechung des Widerstands gegen die deutsche und
VW-Oberhoheit in Konzentrationslager verschleppt worden waren. Die
früheren Chefs des Volkswagenwerks haben sich mit der von Peugeot
geführten Gruppe von Autoindustriellen wohl einigen können. Es sagten
Zeugen zu ihren Gunsten aus, und sie wurden gegen Kaution freigesetzt.
Die Akten des damaligen Verfahrens sind nach wie vor
unzugänglich. Für das Volkswagenwerk waren Porsche und Piech als
„Österreicher" zeitweise weit vom Schuß. Die Identität des
Konstruktionsbüros mit der VW-Entwicklungsabteilung wurde 1948/49
formell-vertraglich beendet. Gleichzeitig waren die Verträge für
Porsche-Konstruktionen ungemein attraktiv. Sie brachten ihnen eine
Lizenzgebühr, die auf ein Prozent des Bruttoverkaufspreises je Fahrzeug
erhöht war, und die VW-Alleinvertretung in Österreich, der sich hernach
noch die in Ungarn, Slowenien und der Slowakei
hinzugesellten.
Für Volkswagen war zweitens von Vorteil, daß
das Werk, nach der auf britischen Wunsch umgetauften Stadt nun
„Wolfsburg Motor Works" genannt, bis September 1949 von wohlwollenden
konservativen Engländern verwaltet wurde. Das Schatzministerium in
London hatte gegen die eigene Automobilindustrie den Standpunkt
durchgesetzt, es sollten am Mittellandkanal weiter Fahrzeuge produziert
werden, um die Besatzungskosten zu senken und Devisen zu
erwirtschaften. Dementsprechend sorgte die britische Militärregierung,
vornehmlich durch Major Ivan Hirst als zeitweisem Werksleiter
vertreten, für günstige Produktions- und Absatzbedingungen sowie für
Stahl aus Belgien und Frankreich als Äquivalent für Fahrzeuge von VW.
Im Einvernehmen mit den deutschen Betriebsleitungsmitgliedern wies die
Militärregierung Vorstöße deutscher Gewerkschafter und Sozialdemokraten
zur Arbeitermitbestimmung ab. Die dafür erlassene Betriebsordnung
erinnerte an volksgemeinschaftliche und DAF-Traditionen. Sprachlich
leicht kaschiert bestimmte sie: „Sämtliche Arbeiter und Angestellte im
Volkswagenwerk bilden eine geschlossene, demokratisch geführte
Leistungsgemeinschaft." (Mommsen/Grieger, S. 961) Mit Nachdruck wandte
sich die Militärregierung gegen den Standpunkt, VW sei mit früherem
Gewerkschaftsvermögen finanziert worden und müsse daher auch den
Gewerkschaften gehören. Bis es später in der BRD privatisiert wurde,
was eine Stärkung der Kapitalbasis mit sich brachte, blieb das Werk ein
staatskapitalistischer Betrieb. Als deutschen Generalmanager erkor
Major Hirst 1947 Heinrich Nordhoff, einen Mann, der gleich Porsche
Wehrwirtschaftsführer gewesen war und dem die Amerikaner
Beschäftigungsverbot erteilt hatten. Vor allem nach dem Ende der
britischen Regie 1949 trieb er die Rekonstruktion VWs als eines straff
von oben geführten Konzerns voran und beherrschte das Werk in
autokratischer Manier.
Drittens wirkte sich zugunsten Volkswagens das
Faktum aus, daß Pläne zur Verlagerung in ein anderes europäisches Land
- gedacht war besonders an Frankreich - nicht realisierbar wurden, weil
das Werk für die jeweilige nationale Autoindustrie zu groß, ergo als
Konkurrent zu gefährlich gewesen wäre. Zudem gab es mehrjährig keinen
nennenswerten Gegenspieler auf dem deutschen Automarkt. Die US-Riesen
General Motors und Ford meinten nach 1945, dieser Markt würde lange
Zeit kaum ertragreich sein. Sie traten via Opel in Rüsselsheim und die
Fordwerke in Köln erst auf den Plan, als es bereits zu spät war, VW zu
stoppen. Schließlich genoß dieser noch den Vorteil, für Reichspost,
Reichsbahn, Polizei und diverse andere Behörden der alleinige
Autolieferant zu sein.
Nach der Währungsreform von 1948 begann der
eigentliche Aufstieg des Volkswagenwerks. Alle notwendigen
Zulieferungen trafen nun pünktlich und ungehindert ein, so daß auch
kontinuierlich gearbeitet werden konnte. Andererseits erweiterte sich
sprunghaft der Kundenkreis. Wegen steigender Gehälter und Löhne wurden
mehr Autos verkauft - nicht nur an Angehörige der Mittelschichten,
sondern auch und vor allem an Arbeiter. Ab Ende 1949 stellte das Werk
monatlich 4 942 Pkw her, womit das von den Briten nach Kriegsende
gesteckte Ziel überboten war. Im September 1949 wurde die
Treuhänderschaft der Engländer auf Niedersachsen übertragen, unter der
Maßgabe, sie zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland
auszuüben.
Die Geschichte der Volkswagen GmbH, die seit
1960 eine AG ist, kann ab den 50er Jahren nur in großen Zügen
wiedergegeben werden. Der VW-Käfer erwies sich als das Auto des
bundesdeutschen „Wirtschaftswunders", mit dem die durch den Krieg
verpaßte zivile Motorisierung in raschem Tempo nachgeholt wurde, er war
das wichtigste Wirtschaftswundersymbol neben der damaligen Westmark.
Auch in mehreren anderen Ländern, darunter den USA, wurde das Vehikel
zum Kassenrenner. Bis 1955 sind eine, bis 1965 zehn Millionen Käfer
produziert worden. 1972 war er das meistverkaufte Kraftfahrzeug der
Geschichte. Zwei Jahre später begann die Fertigung seines wichtigsten
Nachfolgers, des Golf. Doch gab es auch danach weiter Länder, so
Mexiko, in denen Käfer alten Stils gebaut wurden.
… Als der Ostblock zusammenbrach, stellte Volkswagen das zweitgrößte
bundesdeutsche Industrieunternehmen dar. Bei 2,95 Millionen 1989
produzierter Kraftfahrzeuge vom Kleinwagen bis zum Transporter war die
AG mit ihren weltweit agierenden Tochterfirmen und -betrieben zu 6
Prozent an der internationalen Automobilproduktion beteiligt. Sie war
der viertgrößte Pkw-Hersteller der Erde. In Europa war sie bei 15
Prozent Marktanteil die Nummer eins.
Außer den sechs deutschen Werken der Volkwagen
AG in Wolfsburg, Hannover, Braunschweig, Kassel, Emden und Salzgitter
gehören zum VW-Imperium, das wesentlich in der Ära des
Nordhoff-Nachfolgers als Vorstandsvorsitzender Carl Hahn entstand, die
Audi-Werke in Ingolstadt und Neckarsulm, Produktionsgesellschaften in
Spanien (SEAT), Jugoslawien, Belgien, Brasilien, Argentinien, Mexiko,
Südafrika, Nigeria und China. Ein erster Versuch, sich mitten unter der
härtesten Konkurrenz in den USA als Massenhersteller von Autos zu
etablieren, scheiterte, wobei das VW-Werk in Westmoreland aufgegeben
werden mußte. Neuerdings wird aber der neue, in Puebla (Mexiko)
produzierte Käfer (New Beetle) als sicherstes Fahrzeug seiner Klasse in
den Vereinigten Staaten heiß begehrt.
Anfang der 90er Jahre dehnte sich das
Imperium auf die frühere DDR, durch Übernahme der Skoda-Werke in Mlada
Boleslav auf Tschechien und durch eine Produktionsstätte in Bratislava
auf die Slowakei aus. Außerdem entstand eine Generalvertretung in
Ungarn. Das neuerbaute Werk in Mosel bei Zwickau in der Ex-DDR ist
hypermodern eingerichtet und benötigt wenige Arbeiter. In der
slowakischen Hauptstadt blieb hingegen die Autobau-Technik dank extrem
billiger Arbeitskräfte auf vorsintflutlichem Niveau. Wie weiland die
Kirche, hatte auch VW einen guten Magen - jedenfalls bis auf
weiteres.
Ebenso wie innerhalb der BRD nahm die
Volkswagen AG nach außen Kampfpositionen ein. Sie wußte zwischen Freund
und Feind genau zu unterscheiden, solidarisierte sich mit extrem
reaktionären Kräften und ging zusammen mit dem jeweiligen
Polizeiapparat gegen niedrig entlohnte Arbeiter vor, die für mehr Lohn
und höhere Rechte stritten. In Chile bekundete sie am 11. 9. 1977, dem
vierten Jahrestag des Militärputsches gegen die gewählte Regierung
Allende, Verbundenheit mit dem Pinochet-Regime. Sie dankte ihm in El
Mercurio dafür, daß sie sich in dem geknechteten Land hatte
niederlassen dürfen. In Nigeria und Brasilien schritten 1987 Werkschutz
und Militärpolizei gemeinsam gegen Streikende ein. Bei VW de Mexico in
Puebla wurden im Juli 1992 nach Beginn eines Ausstands alle 14.289
Arbeiter entlassen, das Werk geschlossen und von der Polizei bewacht,
bis die Ausgesperrten nachgaben.
Als 1993 die Beschäftigten des mittlerweile
zum Volkswagenkonzern gehörenden SEAT-Betriebs in Barcelona gegen
geplante Stillegungen und Entlassungen streikten, wandte die VW-Leitung
eine „feinere", jedoch nicht minder perfide Methode an. Sie spielte
einerseits die tschechische Belegschaft bei Skoda, andererseits die
deutschen Arbeiter gegen ihre spanischen Kollegen aus. Im
letztgenannten Fall geschah das mit dem Bemerken, die deutschen
Beschäftigten seien zu Recht darüber bitterböse, daß die spanischen
gegen Personalabbau rebellierten. (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 4.
12. 1993) Leider steckt in der Bemerkung mehr als ein Körnchen
Wahrheit. Gehobene Arbeitervertreter bei VW, insonderheit der
Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Volkert, sind derart im
Arbeitsfront- und Volksgemeinschaftssinn vollkommen, daß sie die
Betriebsführung bei Entlassungsaktionen getreulich unterstützen, ja sie
bisweilen selbst auffordern, Arbeitsplätze „durchzuforsten", um der
ausländischen Konkurrenz wirksamer begegnen zu können. (Berliner
Zeitung, 24. 11. 1992) Warum soll es nichtdeutschen Kollegen besser
gehen - nur weil sie sich wehren?!
Rausschmisse auch in Deutschland und der im
November 1993 vereinbarte, als große soziale Tat gepriesene Übergang
zur Viertagewoche im Volkswagenwerk bei teilweisem Lohnausgleich waren
die Folge von und ein neuer Anstoß zu fortschreitender
Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, zur weiteren Erhöhung des
konstanten auf Kosten des variablen Kapitals. Sie hingen mit dem
Einbruch bei Umsatz und Gewinn 1992/93 zusammen, der teilweise ein
Ergebnis der langen Expansionswelle unter dem Vorstands-vorsitzenden
Carl Hahn war. Am Ende hatte Volkswagen sich ebenso überfressen wie die
BRD unter Kohl durch allzu hastiges Verschlingen der DDR. Die Dividende
fiel auf den niedrigsten Stand seit dem Jahr der Ölkrise 1973, 2 DM je
50-Mark-Stammaktie. Das kapitalistische Drehbuch sieht in solchen
Fällen vor, bei den Belegschaften „abzuspecken". Entsprechend
einschneidende Maßnahmen traf der VW-Vorstand. Er wurde dabei nicht nur
durch den Gesamtbetriebsrat, sondern auch vom niedersächsischen
Ministerpräsidenten Gerhard Schröder unterstützt, der in der SPD den
neoliberalen Flügel und bei Volkswagen das größte Aktienpaket
repräsentiert. Am 16. 3. 1993 nahm der VW-Vorstand José Ignácio López
de Arriotúra in seine Reihen auf, welcher vordem als „Großinquisitor"
und „Würger von Rüsselsheim" die Lohnkosten der General-Motors-Tochter
Adam Opel AG in einem knappen Jahr um 65 Prozent (4 Mrd. DM)
herabgedrückt hatte. Zum Leidwesen von GM hatte Piech höchstpersönlich
diesen Wundertäter und sieben seiner Mitarbeiter abgeworben. López, ein
bigotter Katholik mit dem Rosenkranz in der Jackentasche, wurde Leiter
eines eigens für ihn geschaffenen neuen Geschäftsbereichs bei VW, der
„Produktionsoptimierung und Beschaffung". Für 2.400 DM Salär pro Tag
ging er ungesäumt an die Erfüllung seiner Mission, die Preise der
Zulieferer und durch „lean production" die Zahl der Beschäftigten zu
vermindern. Beides gelang ihm, wobei die Zahl der Mitarbeiter in den
deutschen Volkswagenwerken bis Ende 1995 von 100 000 auf 93 700 sank.
Zu berücksichtigen ist dabei, daß wie erwähnt gleichzeitig die
Wochenarbeitszeit herabgesetzt wurde, sonst hätten noch 30 000
Belegschaftsmitglieder mehr dran glauben müssen. Boomt der Betrieb,
sind selbstverständlich Überstunden zu leisten. Bis Ende 1999 sollte im
Verfolg der López-Linie die Zahl der Betriebsangehörigen auf 81 200
fallen. Hierdurch und durch die Preisdrückerei bei Zulieferungen trug
das neue Vorstandsmitglied López nicht unwesentlich dazu bei, daß die
Volkswagen AG rasch aus den roten Zahlen kam. Statt 1,63 Mrd. DM
Verlust wie 1993 erzielte sie ein Jahr später fast 500 Mill. DM Gewinn.
Ab 1995 verdoppelten sich die Gewinne
alljährlich. Nach demselben Muster wie in den
deutschen VW-Werken, aber rascher und brutaler wurde in López'
Heimatland Spanien mit großen Teilen der SEAT-Belegschaft aufgeräumt.
Der Aufsichtsrat verfügte, die Arbeit in der Zona Franca in Barcelona
einzustellen und die Zahl der Beschäftigten von 22 400 auf 13 400 zu
verringern. Gleichzeitig erklärte er, nach Streichung einer SEAT-Schuld
bei VW und Ankauf eines Betriebes in Pamplona durch Volkswagen für
einen Sozialplan zum „Abfedern" der Massenentlassungen kein Geld mehr
übrig zu haben. Stattdessen sollten die spanische Regierung und die
katalanische Regionalregierung die Zeche zahlen. Daß sie es wirklich
taten, lag auch am niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder. Er
drohte mit dem Ende der eigenständigen Automarke SEAT und Umwandlung in
eine verlängerte VW-Werkbank, falls Spanien nicht für den Sozialplan
aufkäme. Derart trug er zum Abkommen vom 11. 7. 1994 bei, demzufolge
die spanische Regierung dem erneut boomenden Volkswagenkonzern 500
Mill., die katalanische ihm 13 Mill. DM zu überweisen hatte.
(Süddeutsche Zeitung, 13. 5. 1994; Neues Deutschland, 11. und 14. 7.
1994)
Ähnlich kulant gegenüber VW wie der
niedersächsische SPD-Ministerpräsident zu Lasten Spaniens, verhielt
sich sein sächsischer CDU-Kollege Kurt Biedenkopf auf Kosten der
Steuerzahler seines Bundeslands. Die EU-Kommission hatte der VW AG 780
Mill. DM Subventionshilfe für den Ausbau ihrer Werke in Mosel bei
Zwickau und in Chemnitz zugesagt, weil sich diese auf früherem
DDR-Territorium befinden und damit nach dem Treuhand-Kahlschlag in
einem EU-anerkannten Notstandsgebiet. Wegen der damaligen Absatzkrise
bei VW stornierte die Aktiengesellschaft einen Teil der Arbeiten - die
zum Aufbau einer Lackiererei in Mosel. Daher verringerte die
EU-Kommission ihre Hilfe um 250 Mill. DM. Volkswagen verfügte hierauf
einen sofortigen Investitionsstop, womit die Schaffung von 2 200
Arbeitsplätzen blockiert war. Die sächsische Regierung sagte den
Treueschwüren zu Europa für diesmal ab und überwies der notleidenden
Volkswagen AG die geforderte Viertelmilliarde.
Inzwischen geriet VW dadurch in
Schwierigkeiten, daß aufkam, López und seine spanischen Mitarbeiter
hätten beim Abgang von Opel 23.000 Blatt geheimer Akten mitgehen
heißen. Darunter waren Daten aller europäischen Zulieferer Opels,
Informationen über Autoteile und einen noch zu produzierenden
Kleinwagen, Autoproduktpläne und solche für eine neue Automobilfabrik.
Im Wolfsburger Gästehaus von VW wertete López' Truppe die Akten aus.
Offenbar sollten sie bei der Volkswagen AG, die dergleichen leugnete,
als Einstand dienen. General Motors und Opel verklagten López/Piech
wegen „krimineller Verschwörung", mehrere VW-Institutionen wegen
„gesetzwidriger Entwendung und Ausbeutung von fremden Rechten und
Betriebsergebnissen", wobei sie sich auf den amerikanischen RICO Act,
ein Gesetz zur Bekämpfung organisierter (Mafia-)Kriminalität, beriefen.
(Berliner Zeitung, 9./10. 3. 1996; Freitag, 6. 12. 1996) Das
Volkswagenwerk und Ministerpräsident Schröder hießen Lopez einen
„Ehrenmann"; sie bezichtigten Opel und GM der Imageschädigung VWs und
einer Attacke auf den „Standort Deutschland". (Neues Deutschland, 16.
4. 1996) Doch wurde ihre Unterlassungsklage wegen Rufschädigung
abgewiesen, ebenso das Begehren, mit der Opel-GM-Klage genauso zu
verfahren. Ende November 1996 mußte López als VW-Vorstandsmitglied
zurücktreten. Nach erfolgreichen Durchsuchungen, bei denen die Fahnder
demonstrativ in neuen Opel-Limousinen vorfuhren, klagte die
Staatsanwaltschaft Darmstadt den „Großinquisitor" wegen Verrats von
Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen sowie Unterschlagung an. Der
Volkswagen AG ließ sie indes ein Schlupfloch mit der Bemerkung offen,
deren Teilhabe an Verbrechen sei nicht nachweisbar. Die Autogiganten
einigten sich außergerichtlich. Demnach zahlt Volkswagen General Motors
100 Mill. Dollar und kauft ihm im Laufe von sieben Jahren für eine Mrd.
Dollar Autoteile ab. (Berliner Zeitung, 10. 1. 1998) …
Die Geschichte des Volkswagenwerkes hat ergeben, daß der Kurs der
Betriebsführung ungeachtet äußerst unterschiedlicher Begleitumstände in
Krieg und Frieden, unter der Hitlerdiktatur und danach, prinzipiell
gleich geblieben ist. Entgegen der um ihn gesponnenen Legende stellte
der erste VW-Chef Ferdinand Porsche keinen Fachidioten oder politisch
reinen Tor dar. Parteigenosse und Günstling Hitlers und Himmlers, war
er außer Konstrukteur von Motorfahrzeugen ein eiskalter Rechner
zugunsten der Firma, ein Förderer, Mittäter und Nutznießer des
faschistischen Regimes so lange, wie es sich für ihn, seine Familie und
das Werk lohnte. Schwiegersohn Anton Piech und Tochter Louise traten in
Porsches Fußtapfen. Seine Amtsnachfolger Heinrich Nordhoff, Carl Hahn
und Ferdinand Piech setzten die skizzierte VW-Politik fort, wobei sie
den Zeitumständen entsprechend unterschiedliche, mal autokratische und
nach innen repressive, mal stärker expansive Methoden anwandten.
massenhafter Ausnutzung von Sklavenarbeit sowie ein Kriegsgewinnler
großen Stils, entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem
maßgeblichen internationalen Automobilkonzern. Vom Staat und von
Karrierepolitikern wie Gerhard Schröder gefördert, agiert er
prinzipiell gegen die Interessen der Majorität im eigenen Lande und
draußen. …
Aus: Franz Josef Strauß - ein bemerkenswerter Konservativer 1996
Wer sich heute mit Franz Josef Strauß beschäftigt, geht offenbar nicht
mit dem Zeitgeist konform. Bei aller verbalen Huldigung für den
Verstorbenen sind die rezenten CSU-Führer bestrebt, das Andenken an
seine Politik in Grenzen zu halten. Zugleich haben sie die Kontakte zu
Strauß' Familienangehörigen, seinen Vertrauten und Spezis auf ein
Minimum reduziert. Besonders in den 60er und 70er Jahren hatten
Straußens Vita, seine Leistungen und Fehlleistungen im Vordergrund
öffentlichen Interesses gestanden. Momentan ist davon so wenig übrig,
daß das nicht nur auf sein Ableben im Jahre 1988 zurückzuführen sein
kann. Vielmehr scheint es, hier habe ein Mohr seine Schuldigkeit getan,
so daß man sich nicht weiter Gedanken über ihn zu machen braucht.
Publizistisch findet er zur Zeit nur in Karikaturen Erwähnung, die ihn
als vom Himmel herab polternden Bajuvaren zeigen, und durch
Reminiszenzen an Affären, in die er einst verstrickt war. Nachdem seit
mehreren Jahren eine 2-DM-Münze mit seinem Konterfei im Umlauf ist,
gibt es ihn neuerdings allerdings auch als 1-DM-Briefmarke.
Dieser bemerkenswerte konservative Politiker verdient weiter Beachtung.
Erstens weil er Fortwirkendes zustande gebracht hat, zweitens auch
wegen seiner politischen Mittel und Methoden. Den heute agierenden
Politgrößen aus CSU und anderen staatstragenden Parteien erweist sich
der Verstorbene meist als weit überlegen.
… Historisch ist nach meiner Meinung F. J. Strauß,
ein konservativer bürgerlicher Politiker bayerischer Herkunft, mit Otto
von Bismarck, Winston Churchill, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer
vergleichbar. Sie alle haben jeweils spezifische Aufgaben wesentlich
zugunsten des konservativen Flügels der Bourgeoisie - Fürst Bismarck
auch solche zugunsten der ostelbischen Junker, gelöst. …
Gleich den hier genannten Politikern zählte Strauß
zu jenen Konservativen, für die Zähigkeit beim Festhalten an
christlich-sozialen Grundpositionen und Zielen, Flexibilität in der
Taktik bis zur Bereitschaft ernster politischer Korrekturen und
strategisches Denken charakteristisch sind. Details des von ihm
gesteuerten Kurses erinnern an den von Bismarck, Churchill, de Gaulle
und Adenauer. Zu Strauß' auch selbstgewählter Funktion gehörte es vor
allem, die Herrschaft der im Zweiten Weltkrieg geschlagenen deutschen
Bourgeoisie, besonders der Monopolbourgeoisie, erhalten und ausbauen zu
helfen. Das Erlebnis von Krieg und Niederlage Hitlerdeutschlands führte
ihm noch vor Beginn seiner Politikerlaufbahn vor Augen, daß das nicht
mit allzu abenteuerlichen, faschistisch-barbarischen Methoden
erreichbar sei, die letztlich die ganze Welt gegen das eigene Land
aufbringen mußten. Es stattdessen mit bürgerlich-parlamentarischen
Mitteln und an der Seite starker westlicher Verbündeter zu versuchen,
sah er gleich anderen Nachkriegspolitikern als zweckmäßig an. Strauß
war in hohem Maße befähigt, diesen Weg zu gehen. Von rascher
Auffassungsgabe und wissenschaftlich gebildet, konnte er sich in freier
Rede klar und volkstümlich, auch sehr deftig äußern. Auf Angehörige der
herrschenden Klasse wirkte er ebenso wie auf Bauern,
Kleingewerbetreibende und konservativ gesinnte Arbeiter vielfach
vertrauenswürdig. Aus Familientradition war Strauß katholisch. Das,
seine relative Unbelastetheit vom Nazismus bei gleichzeitiger
nationaler Gesinnung und die Abkunft von „kleinen Leuten" empfahlen ihn
für eine politische Karriere in Bayern und Westdeutschland zur
Nachkriegszeit.
In einem Nachrufartikel auf Strauß hat der Sozialdemokrat Peter Glotz
eine leicht geschönte, jedoch im Kern richtige Charakteristik
abgegeben. Er schrieb: „Franz Josef Strauß war immer der Schmied von
Kochel und Peter von Siemens in einer Person; er kannte sowohl die Nöte
wie auch die Vorurteile der kleinen Leute und pflegte sie als
populistischer und sozialer Volkstribun. Und gleichzeitig wußte er ganz
genau, wo es notwendig war, die Interessen der großen Familien und der
strategischen Konzerne zu wahren, um trocken durch schlechtes Wetter zu
kommen."
Verbindungen zwischen Strauß und dem Kapital, später auch führenden
Monopolherren vornehmlich der Gruppe um die Deutsche Bank, sind bereits
für relativ frühe Zeiten der BRD-Entwicklung nachweisbar. Zu seinem
späteren Beraterkreis zählten auch Flick und Siemens, Verantwortliche
der Automobil- und großer Teile der Chemieindustrie, der Luft- und
Raumfahrt, der bundesdeutschen Medienkonzerne Springer und Bauer.
Großbankier H. J. Abs hatte erheblichen Anteil daran, daß Strauß 1966
wieder Aufnahme ins Bundeskabinett fand und Finanzminister wurde.
Nachfolgend wichtige Punkte, in denen sich der CSU-Vorsitzende
Verdienste um die herrschende Schicht erwarb. Hierzu gehört sein
Beitrag zur Entwicklung der Christlich Sozialen Union in Bayern (CSU)
zur eng mit dem Großkapital verbundenen, gleichzeitig vor allem in den
Mittelschichten fundierten Partei. Zur Festigung ihrer Basis trug die
rasche Industrialisierung des bisherigen Agrarlandes Bayern auf einem
Wege bei, durch den Notlagen großer Bevölkerungsgruppen und hieraus
resultierende gesellschaftliche Konflikte vermieden wurden. Die
Lage im heutigen Anschlußgebiet der BRD ist von der damaligen in deren
Süden verschieden. Dennoch regt historische Betrachtungsweise zu der
Feststellung an, daß beim sogenannten Vollzug der deutschen Einheit
auch von Strauß und Bayern Ersprießliches hätte gelernt werden können.
Im Gefüge beider Unionsparteien und bei Regierungsbildungen unter deren
Leitung in Bonn vermochte es die CSU, gleichfalls wesentlich dank
Strauß, regelmäßig höhere Positionen zu erringen, als ihr dem
Wähleranteil nach zugestanden hätten. Ihre meist hervorragende Stellung
in Bayern stärkte die Herrschaft der Konservativen in der ganzen BRD.
Mitstreiter Konrad Adenauers und Ludwig Erhards, wirkte F. J. Strauß an
Restauration und Ausbau großkapitalistischer Herrschaft in
Westdeutschland mit. Wichtigstes Resultat seiner ersten Ministerzeit in
Bonn waren die Schaffung einer leistungsfähigen Bundeswehr, einer
starken Rüstungs- und beginnenden Atomindustrie. Direktverfügung über
Kernwaffen erlangte er trotz mehrmaliger Anläufe jedoch nicht.
In seiner zweiten Ministerzeit 1966-1969 wirkte Strauß erfolgreich auf
die Konsolidierung von Wirtschaft und Finanzen nach der ersten
bundesdeutschen Nachkriegskrise und auf forcierte, staatlich geförderte
Kapitalexpansion hin. Er trug zum Kampf gegen die Linke und zum Ausbau
des staatlichen Repressionsapparates bei. Beim Ausweiten der
Außenverbindungen war es seine Spezialität, „heiße Eisen" anzupacken
und Kontakte nicht nur zu Haupt- und Nebenverbündeten, sondern vor
allem auch zu aggressiv-reaktionären Kräften - vom südafrikanischen
Apartheidregime über Franco-Spanien bis zum Chile Pinochets - zu
pflegen.
Nach seinem ursprünglich auf die Atlantische Union gerichteten Konzept
erarbeitete Strauß in den 60er Jahren eine Europastrategie. Sie zielte
darauf ab, Westeuropa und vor allem die Bundesrepublik weitmöglichst zu
stärken, damit sie einerseits mit den USA und Japan konkurrieren,
andererseits wie ein Magnet Osteuropa zu sich herüberziehen könnten. In
Erweiterung dieser Strategie drängte Strauß auf Ausbau der Beziehungen
zur Volksrepublik China, um die UdSSR quasi in die Zange zu nehmen. Die
neue Ostpolitik der sozialliberalen Regierung ab 1969 befehdete er so
lange, bis Bonns Verträge mit Moskau, Warschau und Ostberlin durch
höchstrichterliche Auslegung für die Konservativen akzeptabel wurden.
Dann entwickelte er auf dieser Basis einen eigenen ost- und
deutschlandpolitischen Kurs, der in manchem einem Salto mortale
gleichkam. Ende 1987 unterstützte Strauß in Moskau das gesamte
Abrüstungsprogramm Gorbatschows und die Perestroika, ohne wie sonst
üblich Bedingungen zu stellen und den Verzicht auf die „Weltrevolution"
zu erheischen. Er behielt aber die konterrevolutionäre Zielsetzung bei,
die auf Rückkehr des Ostens zum Kapitalismus gerichtet war, und zeigte
sich überzeugt davon, daß dies eines Tages ohne Krieg, allein durch die
wirtschaftliche, technische und wissenschaftliche Überlegenheit der
westlichen Industriestaaten erreicht werden würde.
In der Zeit des Kalten Krieges, oft auch danach
artikulierte F. J. Strauß immer wieder die Bonner Forderungen zur
Lösung der deutschen Frage. Sie liefen auf eine Wiedervereinigung zu
BRD-Bedingungen und auf Ausdehnung bis zu den Grenzen von 1937 hinaus.
Der CSU-Chef unterstützte in der Regel lautstark die
Vertriebenenverbände und galt als einer ihrer wichtigsten
Bundesgenossen. Andererseits erklärte er wiederholt, so in einem
Interview mit der Hamburger Zeit vom 8. 4. 1966, er „glaube nicht an
die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates, auch nicht
innerhalb der Grenzen der vier Besatzungszonen". Strauß trat deshalb
für die Europäisierung der deutschen Frage ein. Sollte Ostdeutschland
ein Staat westlichen Musters werden, könne dieser fortbestehen und
normal mit der BRD zusammenleben.
Den Kurs auf Nichtanerkennung der DDR setzte der CSU-Vorsitzende fort.
Er nannte sie - nicht ganz zu Unrecht - ein „Stalin-Denkmal im Herzen
Europas". Nach Ulbrichts Entmachtung und Honeckers Amtsantritt als
Generalsekretär des ZK der SED bahnte sich, wenngleich mit Verzögerung,
ein Sinneswandel bei ihm an. Er führte schließlich dazu, daß Strauß
hinter den Kulissen aktiv an Auseinandersetzungen um eine minder starre
Unions- und Regierungspolitik gegenüber Ostberlin teilnahm und 1983 den
ersten 1-Mrd.DM-Kredit an den anderen deutschen Staat vermittelte.
Bundesregierung, Beamtenapparat und die staatstragenden Parteien
schrecken heute davor zurück, die Karten über die Zusammenarbeitsphase
beider deutscher Staaten aufzudecken. Ergebnis ihrer
wahrheitsfeindlichen Bemühungen sind gesperrte und verschwundene
Aktenbestände. Hierunter befinden sich solche des Kanzleramtsministers,
aber auch Protokolle über die Einvernahme von DDR-Staatsssekretär und
Stasi-Oberst Alexander Schalck durch den Bundesnachrichtendienst und
der Bericht der Bundestagsabgeordneten Ingrid Köppe, die sich
ausführlich mit der Problematik befaßt hat. Allerdings vermochten die
Bonner Größen keine Bücher von Zeitzeugen wie Jürgen Nitz über die
deutsch-deutsche Geheimdiplomatie zur Honecker-Zeit zu verhindern oder
dem Faktum vorzubeugen, daß sich Rapporte über die Begegnungen zwischen
Schalck und Strauß im SED-Parteiarchiv, das heute offen ist, auffinden
lassen. Auch die „Erinnerungen" des CSU-Vorsitzenden tragen zur
Rekonstruktion wichtiger Vorgänge bei.
Kreditwünsche der DDR an die Bundesrepublik resultierten offenbar
wesentlich aus dem Bestreben der Honecker-Regierung, das eigene Volk
durch materielle Gaben ruhigzustellen, … Beim zweiten Treffen am 27.Mai
überbrachte Schalck zudem ein Honecker-Angebot, das er allerdings nur
verlesen durfte. Danach sollten der Reiseverkehr zwischen Ost und West
verbessert, Familienzusammenführungen erleichtert und die
DDR-Selbstschußanlagen an der Grenze abgebaut werden. Dafür erbat der
Generalsekretär einen 1 Mrd. DM umfassenden westdeutschen Bankenkredit.
Er könnte, ließ er ausrichten, auch beim RGW um Hilfe nachsuchen, „aber
eine Alternative wäre...solche vom Westen, mit dem er ja wirtschaftlich
immer stärker zusammenarbeiten wolle... Wenn ich (F.
J.Strauß) ihm helfen würde, in Bonn die Barriere zu durchbrechen, die
solchen Wünschen bisher entgegengestanden habe, dann wäre ihm der Weg
nach Westen lieber."
… Am 1. Juli 1983 war der Kredit unter Dach und Fach. Schalck bekam
dafür den Titel „Held der Arbeit".
F. J. Strauß rechtfertigte den Kredit mit folgender Argumentation:
Seit dem 17. Juni 1953 habe der Westen nie eingreifen können, „wenn es
zu Aufständen in einem der Ostblockstaaten kam... Es hat deshalb keinen
Sinn, die Notsituation dort so zu verschärfen, daß die Belastungen für
die Menschen unerträglich werden und es zur Explosion kommt. Bei
Nichtgewährung des Kredits aber hätte sich die DDR-Bevölkerung
erheblich einschränken müssen.
Das „kommunistische Gesellschaftssystem" könne „nur von innen her zum
Wandel gezwungen werden. Deshalb" -so Strauß – „ist es gar nicht so
schlecht, ... daß zum Beispiel die DM praktisch die Reservewährung der
DDR ist". Mit dem Kredit sei „dieses wichtige Mitglied des östlichen
Wirtschaftssystems in die Sachzwänge des westlichen Kapitalmarktes
eingebunden" worden. Folge dieser seiner Politik werde eine
„Veränderung durch evolutionäre Prozesse" in der DDR sein.
Innenpolitisch habe sich die CDU/CSU mit dem Kredit neuen Spielraum
verschafft. „Wer mit Honecker umzugehen versteht, den kann man... nicht
so leicht in die rechtsradikale Ecke drängen."
Im Juli 1983 hatte Strauß, gleich nach dem 47.
CSU-Parteitag, in Schloß Hubertusstock in der Schorfheide seine erste
Begegnung mit Erich Honecker. In den „Erinnerungen" schwärmt er von
dessen luxuriösem Jagdschloß, das sicher größer sei als eines vom
österreichischen Kaiser Franz Josef. Frau Marianne Strauß fand hingegen
den Hausherrn bemerkenswert. Sie „war beeindruckt von seiner Wendigkeit,
seiner Frische, seiner geistigen Reaktionsfähigkeit. Schade, daß er ein
Kommunist ist, meinte sie hinterher. …
Zusammen mit dem Hang zum „starken Staat" und der Kontaktpflege zu
reaktionären und extrem antisowjetischen Regimes ließ diese Haltung den
Eindruck entstehen, Strauß sei selber faschistoid oder ein Faschist.
Ohne Zweifel hat er zur Entwicklung nach rechts in der BRD beigetragen,
genau wie andere Politiker anderer Parteien das zu ihrem Teil taten,
aber sicher in höherem Maße. Er nutzte jedoch den rechtsextremen Anhang
stets dazu aus, die eigene, weiterhin bürgerlich-parlamentarische
Position und die Bundesrepublik als bourgeoisen, nicht indes
faschistischen Staat zu stärken.
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