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Beiträge zur Theorie  










Hanna Behrend

Überlegungen zu Hannah Arendts Totalitarismustheorie

Lesarten

In den DDR-Enzyklopädien (1) kam sie nicht vor. Hannah Arendt "hielt Distanz nach links und rechts, und die Folge war eine radikale Ablehnung durch die marxistischen Denker". Nur mit undogmatischen Marxisten wie Walter Benjamin oder ihrem zweiten Ehemann, dem Kunsthistoriker Heinrich Blücher konnte sie "einen Dialog führen, der nicht von der Dogmatik einer Weltanschauung zensiert wurde. Und ein Dogma war für sie die Vorstellung von Geschichte als gesetzmäßigem Prozeß, die Reduzierung des Individuums als Teil einer Klasse" (2). Das bedeutet allerdings nicht, daß sie in der Geschichte keine Entwicklungsprozesse wahrnahm, oder deren innere Logik und Kausalität geleugnet hätte.

Obwohl sie für die im Gefolge der 1968er StudentInnenrebellion entstandene neue Frauenbewegung auch nicht viel übrig hatte, waren die Feministinnen ihr gegenüber toleranter als die DDR. Sie wird in längeren Spalten sowohl in The Feminist Companion, London 1990 als auch im Bloomsbury Guide to Women's Literature, London 1992 kritisch gewürdigt(3).

Für das seriöseste enzyklopädische Werk in Europa, The British Encyclopaedia (BE), ist sie mit den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft (1951) zu "einer der bedeutendsten politischen DenkerInnen" geworden (4).

Diese Reputation hindere "hierzulande ..die staatsfromm- konservative Fraktion" nicht, "politische Preise und Institute zur Erforschung des Totalitarismus (gemeint ist in der Regel die DDR) nach Hannah Arendt zu benennen. Diese Fraktion nutzt das Ansehen der Elemente und Ursprünge...für den Imagetransfer, ohne sich ansonsten um das Werk der streitbaren Autorin viel zu kümmern. Denn sonst müßte sie zur Kenntnis nehmen, daß die sozialistischen Länder nach dem Tode Stalins zwar für sie diktatorisch, aber nicht mehr totalitär waren. Aber auch linksökologische Gruppierungen schmücken sich gern mit dem Gütesiegel Hannah Arendt. ...Was da fasziniert, ist vermutlich die Verbindung einer aristokratischen Geringschätzung von Technik, Wohlstand und Ökonomie mit dem ohne Parteirücksichten gelebten Habitus einer öffentlich engagierten Intellektuellen". In den USA sei ihre Bindung an Heidegger und ihre Kritik an der zionistischen Politik Israels von "Diskursflegeln und Dreckschleudern" dazu mißbraucht worden, um "ihr Politikverständnis in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken und ...als Verteidigung Heideggers zu lesen...Für Hannah Arendt beginnt das Denken jenseits vorgegebener Loyalitäten und die Politik jenseits (fiktiver) ethnischer Solidarität" (Knobloch, Freitag, 1.12.95, 11). Und in der Tat hat sie ihr Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 1964, Freunde gekostet (5) und "einen Hauch von Verrat" (Knobloch, Freitag, 1.12.95) über sie und ihr Werk gelegt. Ihr - die bereits vorher eine Kritikerin des Zionismus gewesen war(6) - wurde übel genommen, daß sie in diesem Buch die Anklage gegen Eichmann kritisierte, weil diese auf Verbrechen am jüdischen Volk begrenzt gewesen sei und nicht auf Verbrechen gegen die Menschheit plädiert habe(7). Aber auch daß sie so prekäre Fragen wie die Mitschuld der Opfer des Holocausts durch widerstandsloses Sich-Abschlachten-Lassen ins Gespräch gebracht hatte, verstand vor allem die prozionistische Öffentlichkeit nicht. Der völlige Mangel an Opportunismus in ihren Büchern trug zweifelos dazu bei, daß sie sich politisch zwischen alle Stühle setzte. Ihr Werk wurde von vielen Seiten mißinterpretiert und kann von rechtskonservativen Kreisen sogar mißbraucht werden. Zwar gibt es in ihren Büchern keinen ausdrücklichen Hinweis auf das dritte große Horrorszenarium unseres Jahrhunderts, Hiroshima und Nagasaki, das ähnlich sinnlos und menschenfeindlich wie die beiden anderen war, da der Krieg der Alliierten gegen Japan auch ohne die Bombe de facto bereits zu Ende ging, aber in ihrem Buch über den Eichmann-Prozeß begründet sie, weshalb sie den Holocaust für ein wiederhol-, ja sogar eskalierbares Verbrechen gegen die Menschheit hält(8).

Auf dem Essener Arendt-Symposium vom 12.-15. November 1995 bezog sich Seyla Benhabib scharfsinnig auf Arendts Imperialismus-Analyse und schlußfolgerte, daß Arendt diesen nicht für das letzte Stadium des Kapitalismus, sondern als erstes Stadium einer staatspolitisch organisierten Bourgeoisie markiert(9). Für die Menschenrechte habe Arendt nur Spott übrig gehabt, eine völlig unzutreffende Einschätzung(10). Ihre Forderung in Eichmann in Jerusalem, "diese neuen administrativen Massenmörder (müssen) vor Gericht gestellt werden, weil sie die Ordnung der Menschheit verletzt haben und nicht weil sie Millionen von Menschen getötet haben" (Arendt, 1964, 319), manifestiert, daß sie, die die Naziverbrechen nicht als Verbrechen am jüdischen Volk sondern als Verbrechen an der Menschheit geahndet sehen wollte (Arendt, 1964, 318), vom Primat der Menschenrechte über jegliche ethnischen, religiösen, nationalen oder Völkerrechte zutiefst überzeugt war.

Totalitarismus, in der DDR ein in keinem philosophischen, historischen oder kulturpolitischen Wörterbuch erwähntes Unwort, wird in der BE als eine Regierungsform definiert, die theoretisch dem Individuum keine Freiheit zubilligt, die alle Seiten individueller Existenz der Staatsgewalt unterordnet(11). In der Beschreibung des Totalitarismus in der BE schwingen Erkenntnisse aus Arendts Werk Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft mit, ohne ihrer streng historisierenden und kultursoziologischen Betrachtungsweise zu folgen. Im folgenden soll aus der Fülle der Anregungen für eine politische, soziologische und kulturgeschichtliche Verarbeitung der Geschichte des deutschen Faschismus und der stalinistischen UdSSR, die dieses Werk bietet, nur dargestellt werden, wie die Autorin totalitäre Herrschaft definiert, welche Erscheinungen sie für diese Herrschaftsform charakteristisch hält, und welche Ursachen ihrer Meinung nach zu deren Herausbildung führen. Hiervon möchte ich abschließend bestimmte Überlegungen ableiten.

Totalitäre Herrschaft bei Hannah Arendt. Genese des Totalitarismus in Deutschland

In Arendts Werk Elemente und Ursprünge steht der deutsche Faschismus im Mittelpunkt der Darlegungen. Sie konstatiert eine "Parallelentwicklung des Niedergangs des Nationalstaats und des Aufkommens einer antisemitischen Bewegung, die Gleichzeitigkeit des Zusammenbruchs eines in Nationalstaaten organisierten Europas und der Ausrottung der Juden, die sich in dem Sieg der antisemitischen Ideologie über alle anderen Ideologien in der öffentlichen Meinung vorbereitete, (und die)... auf die Ursprünge des Antisemitismus hin(weisen)" (Arendt, 1951, 35). Dieser Rückgriff auf den europäischen Antisemitismus der Moderne sei auch das Spezifikum des deutschen Totalitarismus. Er wird im ersten Hauptteil des Werks ausführlich untersucht. In einem ersten Kapitel demontiert die Vf. die These, "es sei ein Zufall gewesen, daß gerade der Antisemitismus den Kern und Kristallisationspunkt der nationalsozialistischen Ideologie bildete" (Arendt, 1951,25). Der Volkszorn richte sich, so Arendt, stets auf nicht mehr mächtige oder bereits machtlose Gruppen. Menschen ertrügen wirkliche Macht sehr wohl, weil diese nie ganz ohne Funktion und damit Nutzen auch für sie selbst sei. Der Nationalstaat ist in ihrer Darstellung die Staatsform der in der französischen Revolution von 1789-1793 befreiten bürgerlichen Nation (Arendt, 1951, 272-277), die mit dem Aufkommen des Imperialismus und Kolonialismus verfällt. In Deutschland habe es eine nationale Emanzipation nur begrenzt gegeben. Vielmehr sei dort "völkische Verbundenheit ... Ersatz für nationale Emanzipation" gewesen(12).

Dieses völkische Denken hat bekanntlich die Nazizeit und den verlorenen Weltkrieg ebenso überdauert wie die staatsozialistische Episode eines Drittels von Deutschland. Das ging aus bürokratischen Behinderungen der Eheschließung von DDR-BürgerInnen mit Angehörigen anderer, und zwar auch "sozialistischer" Staaten ebenso hervor, wie es sich heute in der Bundesrepublik bei der Behandlung ehemals sowjetischer AussiedlerInnen manifestiert, deren Ahnen vor mehreren Jahrhunderten aus deutschen Kleinstaaten in das Zarenreich auswanderten und sofort als deutschblütige StaatsbürgerInnen der Bundesrepublik anerkannt werden; es zeigt sich auch in den, in der Bundesrepublik geltenden Eheschließungsvorschriften, die, analog zum Ariernachweis der Nazizeit, die Vorlage eines Auszugs aus dem Geburtenregister fordern und sich nicht mit der einfachen Geburtsurkunde begnügen. Im Kontrast dazu erschweren die deutschen Behörden die Einbürgerung von anderen, nicht deutschblütigen AusländerInnen auf jede Art und Weise.

Als eine weitere Quelle des Rassenwahns der Moderne sieht Arendt die in Afrika bei der Kolonisierung der schwarzen Stämme gemachten Erfahrungen mit der systematischen Ausrottung ganzer Völkerschaften an, etwa der Morde durch die Buren, durch deutsche Kolonisatoren oder durch die Belgier. Bereits in der Geburtsstunde der modernen Nation entstanden mit der Eroberung des Staates durch sie Konflikte, die ebenfalls zur Herausbildung der rassistischen Ideologie beitrugen. Im modernen Nationalstaat, "in dem kein Monarch mehr das allen gemeinsame Interesse symbolisch und faktisch repräsentierte" (Arendt, 1951, 371), war die gemeinsame Abstammung, das somit biosozial und nicht emanzipatorisch verstandene Nationale, das einzig einigende Band. Die Völker, die, "wie die Deutschen und die Russen, sowohl im eigenen Staat repräsentiert waren als auch als große Minderheiten außerhalb des nationalen Territoriums existierten" (Arendt, 1951, 374f), waren im ausgehenden 19. Jahrhundert besonders anfällig für völkischen Nationalismus, vor allem in der Form der Pan-(germanischen bzw. slawischen) Bewegungen(13). Die oft pseudotheologischen Vorstellungen würden Arendt zufolge durch die pseudowissenschaftliche Argumentation der totalitären Bewegungen komplementiert (ebenda, 376). Während das jüdische Volk in biblischen Zeiten seine "Auserwähltheit" als einen mythischen Gottesauftrag verstanden habe, sei Auserwähltheit in der Periode des Imperialismus eine politische Pervertierung dieser Vorstellung(14), im übrigen auch dann - was Arendt in anderem Zusammenhang nicht verschwieg - wenn es sich um die Auserwähltheit der jüdischen BürgerInnen Israels handelt.

Zu den wichtigen Seiten ihrer Totalitarismusgenese, die sie im Vorfeld ihres Abschnitts über "Totale Herrschaft" behandelt, gehört die Rolle, die dabei die Bürokratie als "Erbschaft des Despotismus" spielt. Sie verweist darauf, daß Legalitätsfeindlichkeit (d.h. Abneigung gegen von einer gewählten Körperschaft beschlossene Gesetze und Präferenz für Verordnungsherrschaft durch die der Exekutive unterstehende Verwaltungsbürokratie) für alle nationalistischen Bewegungen charakteristisch ist. Bereits in den beiden letzten Despotien, die es vor dem ersten Weltkrieg gab, in Österreich-Ungarn und dem zaristischen Reich, "vollzog sich die absolute, das heißt weder durch Gesetz noch durch den Volkswillen eingeschränkte Herrschaft in bürokratischen Formen" (Arendt, 1951, 391). Unter Bürokratieherrschaft versteht Arendt die faktische oder juristische Ausschaltung der Legislative und damit das Verschwinden der Gewaltenteilung. Die Exekutive errichtet ein Regime der Verordnungen(15). Die Verfasserin unterscheidet trotz gewisser Gemeinsamkeit Bürokratie von der Bürokratisierung bestehender Beamtenapparate in den westlichen Demokratien. Diese Unterscheidung, m.E. eine Illusion, ist ihrer Präferenz des englischen (und amerikanischen) politischen Systems geschuldet(16). Vielleicht hätte sie, falls sie den Thatcherismus in Großbritannien, die Reagan-Regierung in den USA oder gar die neuere Entwicklung der EG und die Globalisierung der Bürokratenherrschaft als Statthalterin der Interessen der großen multinationalen Konzerne und Banken noch kennengelernt hätte, ihre diesbezügliche Auffassung modifiziert.

Für die Bürokratie in Despotien sei eine "pseudomystische Aura" typisch, die den von ihr Beherrschten die Möglichkeit entziehe, rationale Erklärungen für Bestimmungen, Verordnungen und andere Akte der Macht zu finden. Ihre Steigerung, die totalitäre Bürokratie, überschreite die Beschränkung der "altmodischen" Bürokratien auf die äußeren Geschicke der Untertanen, indem sie "sich in alle Angelegenheiten der Bürger, private wie öffentliche, seelische wie äußere mit gleicher Konsequenz und Brutalität einzuschalten verstanden" hat (Arendt, 1951, 394). Daraus resultiere die politische Unproduktivität und totale Sterilität und Apathie dieser Regime.

Weitere Bausteine auf dem Wege zur Errichtung totalitärer Herrschaftsformen seien die "meist imperialistischen und oft antisemitischen Gruppen" gewesen, die sich rühmten, überparteilich die nationalen Interessen zu vertreten und den Boden für den Zerfall des europäischen Parteiensystems bereiteten.

Für Arendt ist das kontinentale Vielparteiensystem an der Schaffung entscheidender Voraussetzungen des Totalitarismus beteiligt und insofern sein Wegbereiter. In diesem System "schämten sich die Parteien des 'Materialismus' partikularer Interessen und trachteten daher zu beweisen, daß die jeweiligen besonderen Interessen einer Klasse oder Gruppe haargenau mit dem Gesamtinteresse der Nation oder gar dem Interesse der ganzen Menschheit übereinstimmten"(17) (Arendt, 1951, 407). Mit dieser Aussage nimmt sie die marxistisch- feministische Auffassung von der Vereinnahmung differenter und sogar konfligierender Interessen durch die marxistische Klassentheorie(18) vorweg. So fragwürdig ihre Verallgemeinerung ist, daß grundsätzlich alle Parteien quasi naturnotwendig die Partikularinteressen ihrer Mitglieder vernachlässigen und verleugnen müssen, so zutreffend ist ihre Auffassung, daß eine solche Vereinnahmung von Partikularinteressen die Selbstbestimmheit und Aktivitität der BürgerInnen lähmt und damit tatsächlich den/die "citoyen/citoyenne", den/die politische AkteurIn in ihm/ihr zum Schweigen bringt. Allerdings geht dieser Prozess der Entmündigung der BürgerInnen auch in Zwei-Parteien-Staaten vor sich. Mit dieser Entwicklung verbunden konstatiert Arendt einen Prozeß der Entfremdung von Volk und Regierung und des Niedergangs des parlamentarischen Parteiensystems. Es tendierte ständig dazu, an die Stelle der "vielen widersprechenden Interessen der Klassengesellschaft" eine "Parteidiktatur der Macht" zu setzen. Diese Diktatur hält Arendt allerdings nicht für identisch mit "dem modernen Phänomen totaler Herrschaft", weshalb sie auch den italienischen Faschismus bis 1938 als nicht totalitär ansieht. Sogar das deutsche Großkapital, das "bereits hinter den imperialistischen Gruppierungen gestanden hatte" habe die Nazis falsch eingeschätzt und den Wesensunterschied zwischen den früheren imperialistischen Gruppen und der NSDAP nicht wahrgenommen. Deshalb habe Hitler "in diesen Kreisen die Rolle des altbekannten Diktators zu spielen gewußt, der sich von partikulären Interessen in den Sattel helfen ließ, um dann als Kreatur seiner Geldgeber zum Vorteil ihrer und zum Nachteil der anderen Klassen zu regieren" (Arendt, 1951, 410). Für Arendt greift dieses, bekanntlich in der kommunistischen Bewegung vertretene Erklärungsmuster für die NS-Bewegung zu kurz. Sie hält die Idee des korporativen Staates, d.h. eines Nationalstaates, "der nicht dauernd von einer in Klassen aufgespaltenen Gesellschaft gefährdet sein würde" (Arendt, 1951, 411), für die zentrale politische Idee des Faschismus. Diese Auffassung scheint mir zumindestens insofern ergänzungsbedürftig zu sein, als das Nazireich zwar neue Repräsentanten der Macht einsetzte, diese jedoch bis zum Ende der Naziherrschaft nie eine gegen die Interessen des deutschen Großkapitals oder der Großgrundbesitzer gerichtete Politik verfolgten(19). Bedenkenswert scheint mir jedoch Arendts Charakteristik der Massen, "die klassenmäßig nicht mehr einzuordnen waren und die sich aus Deklassierten aller Gruppen zusammensetzten" (Arendt, 1951,413). Sicherlich waren sie nicht einfach mit dem Lumpenproletariat aus der Zeit, da Marx sich in seiner Schrift "Der Bürgerkrieg in Frankreich" darüber ausließ, zu identifizieren. Ihre Deklassiertheit in der von Arendt beschriebenen Periode war ideologischer, weniger zwangsläufig sozialer Art. Ihre unvergleichlich größere politische Bedeutung heute gründet sich darauf, daß ihre Zahl inzwischen eine bisher in der Menschheitsgeschichte unbekannte Dimension erreicht hat.

Die totalitären Bewegungen erwiesen sich, Arendt zufolge, als die erfolgreichsten bei der Organisation von Massen in einer Massengesellschaft. Sie hätten schließlich alle Inhalte des Nationalstaats aufgegeben, das Interesse der Klassen, der Staatsräson, der Nation und des Volkes(20). Mit dem Niedergang des klassischen Nationalstaates einher ging als eine weitere Voraussetzung totalitärer Herrschaft die Herausbildung großer Gruppen von Minderheiten und Staatenlosen, auch dies ein seither eskalierendes Phänomen. Im Umgang mit diesen Menschengruppen bildeten sich gesetzlose Praktiken heraus, die das ihre zur Aufweichung der Menschenrechte beitrugen.

Im Abschnitt "Die Aporien der Menschenrechte" geht Arendt auf den geschichtlichen Wandel dieser in den großen bürgerlichen Revolutionen in den USA und Frankreich erstmals geforderten Rechte ein. Bereits an diesem historischen Schnittpunkt hätten viele Menschen ihre soziale und geistige Heimat durch soziale Umwälzung und Säkularisierung verloren. Solchen Deklassierten und Ausgegrenzten sollten Menschenrechte zustehen. Sie waren jedoch "politisch nicht garantierbar oder doch noch nie politisch garantiert worden ....Sie wurden zu einer Art zusätzlichen Ausnahmerechts für die Unterdrückten" (Arendt, 1951, 455). Da die Menschenrechte aber in den real vorhandenen Gesellschaften nicht integriert waren(21), blieben sie unverbindlich. So sind Menschenrechte untrennbar an die nationale Emanzipation und das Selbstbestimmungsrecht der Völker geknüpft(22). Nur wo die Betroffenen den Schutz einer Regierung genossen, also anerkannte nationale , soziale, politische oder ethnische Minderheiten waren, durften sie überhaupt Hilfe und Schutz erwarten(23). Andernfalls verloren sie ihr Recht auf Heimat und hatten als Flüchtlinge nur ein immer stärker eingeschränktes Recht auf Asyl(24).

Die Wehrlosigkeit, Vogelfreiheit und Friedlosigkeit solcher Nur-Menschen ist "wie eine Aufforderung zum Mord" (25) (Arendt, 1951, 470), insofern, als ihr Tod ohne jede Konsequenz bleibt, eine Beobachtung, die angesichts der Folgen bundesdeutscher Abschiebepraxis von Asylsuchenden von unbestreitbarer Aktualität ist.

Stalinismus als Ausprägung totaler Herrschaft

Arendt analysiert den Stalinismus, d.h. für sie die Periode zwischen 1929 und 1953, unter dem Aspekt einer zweiten Ausprägung totaler Herrschaft; für diese Periode gelten die gleichen oder analoge Grundvoraussetzungen und -erscheinungen wie im faschistischen Deutschland. Auf die Genese des stalinistischen Totalitarismus geht Hannah Arendt daher nicht speziell ein, wenngleich aus ihrer Darstellung der Vorgeschichte des deutschen Faschismus deutlich wird, daß sie viele Berührungspunkte und Ähnlichkeiten sieht. Dagegen diskutiert sie totale Strukturen, Organisationsformen, Auswirkungen auf die Gesellschaft und vor allem das Individuum ausführlicher am Beispiel des Stalinschen Regimes als in ihren Ausführungen über Hitlerdeutschland.

Sie fordert, sicherlich zurecht, daß mit dem Begriff totaler Herrschaft sparsam umgegangen werde, weil sie "die einzige Staatsform (ist), mit der es keine Koexistenz geben kann" (Arendt, 1951, 479). Sie ist sogar der Auffassung, daß "die Kriegsjahre in Rußland (anders als in Nazideutschland - HB) die zeitweilige Aufhebung totaler Herrschaft mit sich" (Arendt, 1951, 477) brachten. Offenbar war für sie im "vaterländischen Befreiungskrieg" der antifaschistische Konsensus von Volk und Regierung schwerwiegender als die totale Herrschaftsform.

Sie hält auch das kommunistische China, wie die nachstalinsche UdSSR oder die übrigen staatssozialistischen Länder, nicht für totalitäre Staaten, sondern für Diktaturen mit totalitären Zügen(26).

Nach Hannah Arendt gab es um 1929, als Stalin "die Einparteiendiktatur in ein System totaler Herrschaft" (Arendt, 1951, 484) umwandelte, viel Unzufriedenheit, jedoch keine organisierte Opposition. Durch die von Lenin initiierte NÖP habe sich die Kluft, die zwischen Volk und Regierung in der Periode des Kriegskommunismus entstanden war, sogar zu schließen begonnen. Stalin habe mit der Kollektivierungspolitik, die die gesamte Bauernschaft aufbrachte, einen Bruch mit der NÖP vollzogen. Auch in den Städten gärte es. Der Bruch mit der NÖP, den Stalin 1928 vollzog, als er die Partei fast restlos kontrollierte, verwandelte die Klassen in Massen und beseitigte damit jede Gruppensolidarität, "was conditio sine qua non totaler Herrschaft ist" (Arendt, 1951, 484).

"Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne die Unterstützung durch die von ihr terrorisierten Massen nicht möglich" (Arendt 1951, 496). Die, wie Arendt meint, echte Popularität der totalitaristischen Führer beruhe auf der Tatsache, daß die modernen Massen, wie der Pöbel aller Zeiten Gewalttätigkeit, die ihr Ziel erreicht, bewundert. Die Identifikation mit der "Bewegung" gehe so weit, daß sie auch der Vernichtung von Mitgliedern indifferent gegenüberstehen. Arendt greift in diesem Zusammenhang ein Phänomen auf, das bei den Moskauer und späteren Prozessen für Außenstehende unerklärlich war. Dort haben sich die Opfer zu Helfershelfern der zu ihrer Vernichtung angetretenen Ankläger gemacht und die von diesen frei erfundenen "Geständnisse" in der Regel vor Gericht nachgebetet. Bis in die Endphase des Staatssozialismus waren Mitglieder kommunistischer Parteien bereit, von ihnen geforderte "Selbstkritiken" abzulegen, wie absurd diese auch immer waren. Im Unterschied zu Formen eines schwärmerischen Idealismus, sterbe jedoch die Überzeugung ihrer AnhängerInnen, wenn die totalitäre Bewegung untergeht(27), meinte Arendt, was allerdings nur auf die Bereitschaft zur moralischen Selbstzerstörung zutrifft..

Der Massencharakter totalitärer Bewegungen beruhe darauf, daß sich ihre Mitgliedschaft überwiegend aus Menschen zusammensetze, die nie zuvor auf einer politischen Bühne gestanden haben, also aus vorher politisch Indifferenten, die häufig als NichtwählerInnen erscheinen, deren ziviles Engagement für das Gemeinwesen nonexistent ist. In der parlamentarischen Demokratie habe sich die Politik als Beruf entwickelt, von dem der einfache Bürger/die einfache Bürgerin ausgeschlossen ist(28). Der in ihrem Sinne "unpolitische" Charakter des Systems enthülle sich erst mit dem Zusammenbruch des Klassen- und Parteiensystems, insofern die immer irrealere und unklarere Klasssenposition der Parteien sichtbar werde. Sie wurden zu "Weltanschauungsparteien" (Arendt, 1951, 509). Die unorganisierten, unstrukturierten Massen verzweifelter und haßerfüllter Individuen etwa der Zwischenkriegszeit waren aus "der Zersetzung einer bereits atomisierten Gesellschaft" entstanden; für diese waren "die Konkurrenz zwischen Individuen und die aus ihr entstehenden Probleme der Verlassenheit...,(ihre) Kontaktlosigkeit und (ihr) Entwurzeltsein" (Arendt, 1951, 513) charakteristisch. Lenin, den Arendt als einen außerordentlich fähigen und integren Mann schätzt, habe in der Strukturlosigkeit der russischen Massen eine größere Gerfahr gesehen als im möglichen Zerfall des Reiches (Arendt, 1951, 516). Stalin dagegen habe seine totalitäre Diktatur durch die bewußte Herstellung einer atomisierten Masse errichtet. Er habe deshalb die neu konstituierten Nationalitäten und die neuen Klassen der Sowjetunion liquidiert. Nach Vernichtung der Bauern wurde die Arbeiterklasse in eine "gigantische Zwangsarbeiterschaft" (Arendt, 1951, 520) verwandelt, gefolgt von der Liquidierung der Verwaltungs- und Militäraristokratie.

Die Voraussetzung totalitärer Herrschaft ist für Arendt die totalitäre Bewegung, die die totalitäre Propaganda und eine totale Organisation entwickelt. Interessant ist ihre Beobachtung, daß die totalitären Bewegungen, sobald sie an die Macht gelangt sind, ihre Neigung zu "wissenschaftlichen" Beweisen verlieren. Allerdings wird dann die jeweilige Pseudowissenschaft zwangsweise in die Wissenschafts- und Forschungslandschaft eingegliedert, wofür die Nazi-Institute zur Rassenforschung, der von stalin verordnete "Marxismus- Leninismus" und Vorgänge wie die Lyssenko-Affaire in der UdSSR Beispiele sind. Die Attraktivität der pseudowissenschaftlichen Propaganda totaler Herrschaft beruhe auf dem tiefen Wunsch der modernen Massen nach wissenschaftlichen Beweisen. In der Tat hat der Totalitarismus als deformierter und degenerierter Erbe der Vernunftreligion der Aufklärung deren Überbewertung von Wissenschaft und expansiver Technik in grausiger Verkehrung der ursprünglichen humanitären Zielstellungen übernommen.

Die totale Organisation hielt Arendt für die wirklich originale Leistung der totalitären Bewegungen. Sie adaptierten organisatorische Methoden von Geheimgesellschaften, ohne deren Substanz zu übernehmen. In konzentrischen Kreisen von "Eingeweihten" und immer weniger "Eingeweihten" bis hin zu nichteingeweihten SympathisantInnen wird Herrschaftswissen hierarchisiert übermittelt(29).

Ein für das totalitäre sowjetische Herrschaftssystem charakteristisches Merkmal sieht Arendt in der Tatsache, "daß das System niemals 'monolithisch' war, sondern 'ein bewußt so konstruiertes System sich überschneidender, Doppel- und Parallelfunktionen', und daß diese in groteskem Maße amorphe Struktur durch dasselbe Führerprinzip, den sogenannten 'Personenkult', zusammengehalten wurde, wie in Nazideutschland" (Arendt, 1951, 485). Sie ist der Auffassung, daß "die völlig unschuldigen Opfer, die das Regime zu Millionen ermordete...im Unterschied zu den früheren echten Feinden des Regimes - Mördern von Regierungsbeamten, Brandstiftern oder Banditen - auf den Terror mit derselben 'vollständigen Passivität' reagierten, die wir aus dem Verhalten der Opfer des Naziterrors so gut kennen.." (Arendt, 1951, 485).

Entscheidend für Hannah Arendts Bewertung des totalen Herrschaftssystems sind auch hier nicht die "Verleumdung und Ermordnung einiger hundert oder tausend prominenter Gestalten aus Politik und Literatur, die man posthum 'rehabilitieren' kann", sondern die "Vernichtung von buchstäblich ungezählten Millionen, und zwar von Menschen, denen niemand, auch kein Stalin, konterrevolutionäre Handlungen nachsagen konnte"(30). Denkt man an die Zwangsaussiedlung ganzer Völker während des Krieges so erscheint Arendts Einschränkung, damals sei die UdSSR kein totalitärer Staat gewesen, zu pauschal. "Keines dieser ungeheuren Opfer kann man erklären oder rechtfertigen mit Berufung auf eine wie immer geartete Staatsräson, denn keine der liquidierten Gruppen hatte ..eine Chance gehabt, rebellische Neigungen zu entwickeln" (Arendt, 1951, 521). Die politische Opposition sei bereits vor Lenins Tod zum Schweigen gebracht worden und auch aus dem Ausland war 1930 keine Intervention zu erwarten.

Die Massenmorde dienten Stalin und seinen Henkersknechten nur dazu, eine "atomisierte Massengesellschaft" (Arendt, 1951, 523) zu schaffen, in der der Einzelne sich in totaler Entsolidarisierung von seinen Mitmenschen befand. Diese Entsolidarisierung ist inzwischen in anderer Gestalt zur Massenerscheinung auch in den Industriestaaten der westlichen Welt geworden. Die Ursache lag damals und liegt heute daran, daß die Menschen zwar alle richtungslos, bedroht, unterdrückt und verzweifelt sind, aber ihre konkreten individuellen Situationen sich qualitativ und graduell so stark voneinander unterscheiden, daß eine gemeinsame Aktivität auch kleinerer Gruppen Betroffener nicht oder nur fallweise zustande kommt. Für Arendt war jedoch damals der reale oder potentielle Terror die eigentliche Ursache der Entsolidarisierung; er sorgte dafür, daß ähnlich wie in Nazideutschland wer mit Juden verkehrt, selbst als Jude gilt, auch in der UdSSR jede Anklage gegen einen Menschen "den ganzen Kreis seiner normalen menschlichen Beziehungen, seine Familie, seine Freunde, seine Arbeits- und Berufskollegen, seine Bekanntschaften mit einbezieht" (Arendt, 1951,523).

Unter Hitler war die rassistisch begründete Zugehörigkeit eines Menschen zur falschen Rasse, Religion oder Nationalität bereits ein legitimer Vernichtungsgrund, wenngleich die Nazis außerdem mutmaßliche politische GegnerInnen verfolgten. Das stalinistische Regime konnte offiziell auf rassistische Verfolgungsbegründungen nicht zurückgreifen und mußte daher stets einen politischen Grund finden, der sich in gewisser Schein-Übereinstimmung mit der herrschenden Ideologie befand. Dieser wurde in der mutmaßlichen Systemfeindschaft der individuellen und kollektiven Opfer gefunden. Für das Regime legitimierte der wie immer zustandegekommene Verdacht bereits die Ausschaltung des Verdächtigen. Dieses Verfahren ist, wie auch Arendt feststellte, der konspirativen Praxis der illegalen, stets von Entdeckung und Vernichtung bedrohten revolutionären Geheimgesellschaften geschuldet. Unter den Bedingungen einer den Staat beherrschenden Partei hatten derartige Praktiken verheerende Folgen: Von Scheinverfahren in Schauprozessen abgesehen war es niemals notwendig, solchen Verdacht in einem Gerichtsverfahren zu erhärten und reale Schuld nachzuweisen. Dazu trug die Ablehnung der Gewaltenteilung und der damit verbundene Verzicht auf eine wenigstens formal unabhängige Justiz bei. Sie gründen sich auf die auf Marx und Engels zurückgehende Vorstellung von der nach Entmachtung der herrschenden Kapitalistenklasse erfolgenden Übernahme der gesamten, ungeteilten Staatsmacht durch das siegreiche Proletariat. Der Mißbrauch dieser Vorstellung hatte unter den Bedingungen stalinistischer und poststalinistischer Herrschaft zur Folge, daß der hierarchisch gegliederte Parteiapparat als selbsternannter Repräsentant des siegreichen Proletariats in seinen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und juristischen Entscheidungen von keiner Instanz kontrolliert wurde. Die aus der Zeit der bürgerlichen Gewaltenteilung formal weiter bestehenden Exekutiv-, Legislativ- und Justizorgane wurden zu ausführenden Organen der jeweils für sie zuständigen Parteibürokraten, deren Weisungen sie ohne jede selbständige Befugnis auszuführen hatten. Arendt meint, die Exekutivgewalt habe nicht bei der Partei, sondern bei der Polizei gelegen, deren "Operationen nicht durch Parteikanäle reguliert wurden" (Arendt, 1951, 485). Hier irrt sie allerdings. Der von Stalin kontrollierte Staatssicherheitsdienst, gegen dessen Vorgehen auch Mitglieder und Funktionäre der KPdSU nicht einschreiten konnten, unterstand zwar formal der Regierung und somit der Parteiführung, d.h. dem Politbüro. Real bestimmten ausschließlich Stalin und nach ihm der jeweilige Führer bzw. kurzzeitig auch einmal das Führungskollektiv der Partei und damit zugleich des Staates, wie diese Formation (und alle anderen bewaffneten Organe des Landes) agieren bzw. welche Köpfe rollen sollten, welche Politik durchzuführen war. Arendts Auffassung scheint mir ebenso kurzschlüssig zu sein, wie die von DDR-DissidenInnen, den Medien und der Gauckbehörde vertretene über die "eigenständige Macht" des ehemaligen DDR- Ministeriums für Staatssicherheit, deren Angehörigen pauschal die gesamte Schuld an allen unter dem System begangenen politischen Verbrechen aufgeladen wird. Sie steht im Widerspruch zu Arendts scharfsinniger Beobachtung, daß das Regime "ein bewußt so konstruiertes System sich überschneidender, Doppel- und Parallelfunktionen" war, daß staatliche und parteiamtliche Behörden in Unterstellungs- und gegenseitige Kontroll-, aber auch gleichberechtigte Kooperationsverhältnisse eingebunden waren; daß der individuelle Führer oder auch zeitweise die kollektive Führung imstande war, willkürlich alle diese Verhältnisse umzustülpen und die FunktionsträgerInnen auch physisch auszuschalten.

Obwohl die Flut von Denunzierungen und das Verschwinden unschuldiger Menschen während der "Großen Säuberung" zu unvorstellbaren wirtschaftlichen und politischen Schäden für das Regime führte, habe Stalin diese unheilvolle Entwicklung bewußt in Gang gesetzt. Der von ihm ausgelöste Terror sei keineswegs, wie bis heute von einigen StalinistInnen behauptet wird, der Preis für die Industrialisierung und den wirtschaftlichen Fortschritt gewesen(31).

Eine der bedeutsamsten Feststellungen von Hannah Arendt betrifft die Entwicklung des Subjekts unter einem totalitären Regime. In den kapitalistischen Industrieländern, in denen schon immer der ökonomische Zwang die Rolle des außerökonomischen Terrors in den staatssozialistischen spielte, vermag auch er durch Existenzangst, Furcht davor, die Arbeit zu verlieren oder den Job nicht zu bekommen, die Miete nicht mehr bezahlen zu können und obdachlos zu werden, die Massen zu entsolidarisieren und zu disziplinieren. Was jedoch den Terror in totalitären Systemen vom "normalen" ökonomischen wie außerökonomischen Terror unterscheidet, ist der totale "Angriff auf die moralische Person des Menschen" (Arendt, 1951, 693). Er besteht u.a. darin, daß das totalitäre Regime dem Opfer nicht einmal den Opfertod gestattet(32). Auch die Opfer werden zu Komplizen des Systems, wie sich am Beispiel der Übernahme von Lagerfunktionen durch Häftlinge in den deutschen KZs oder bei massenhaften Verhaftungen des von ihren Verwandten und FreundInnen Beschuldigter in der UdSSR erwies. So wie Hitlers "Endlösung" die Elite der Nazipartei auf das Gebot "Du sollst töten" verpflichtete, so bedeutete Stalins Dictum an die Parteimitglieder, jeden "Gegner" ausfindig zu machen, eine Weisung zur Falschaussage.

In diesem System ist die moralische Entscheidungsfreiheit des Individuums aufs Äußerste eingeschränkt, nicht einmal die totale Anpassung gewährleistet Sicherheit für das Umfeld des Opfers. Arendt meint, daß "die Zerstörung der Individualität nach Ermordung der moralischen und Vernichtung der juristischen Person" (Arendt, 1951, 696) fast immer gelingt, die sie an der Widerstandslosigkeit der Massen, die in den Gastod getrieben wurden, und am nur sehr seltenen Widerstand von Beschuldigten in der UdSSR gegen noch so absurde Beschuldigungen demonstriert. Der Machtanspruch totalitärer Regime sei nicht eingrenzbar(33). Die Loyalität überzeugter ParteigängerInnen ist ihm so suspekt wie apathische Neutralität und beide unterscheiden sich vom Standpunkt der Mächtigen des Regimes nicht prinzipiell von Gegnerschaft. Jede individuelle Haltung ist der Machterhaltung potentiell gefährlich. "Was sie brauchen, sind keine Individuen, sondern Menschen, die "reaktionsbegabte Erfüllungen von Funktionen" (Arendt, 1951, 698) darstellen. Der Terrorapparat, der "ganz und gar fügsame Menschenmassen" beherrschte, sei aus dieser Sicht genau genommen überflüssig gewesen.

Der tiefe Sinn dieser Entindividualisierung und damit auch der Grund, weshalb das totalitäre System seinen überflüssigen Terrorapparat beibehielt, besteht nach Arendt darin, daß er der Überflüssigmachung von Menschen dient. Damit entspreche er letztendlich auch der Überzeugung moderner Massen von ihrer eigenen Überflüssigkeit in einer übervölkerten und sinnlosen Welt. Totale Herrschaft zerstöre alle bisherigen Sinnzusammenhänge, schaffe jedoch "eine Art Suprasinn" (Arendt, 1951, 699) der Ideologien. Sein eigentlicher Zweck sei nicht die revolutionäre Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz, sondern die "Transformation der menschlichen Natur" (Arendt, 1951, 701). Diese Regime bewiesen, daß alles zerstörbar ist, daß es ein radikal Böses wirklich gibt, daß Täter wie Opfer gleichermaßen von ihrer Überflüssigkeit überzeugt sind.

Für Arendt ist entscheidende Ursache für die Anfälligkeit moderner Menschen für totalitäre Bewegungen ihre Verlassenheit, also ihr Entwurzeltsein, ihr Mangel an sozialen oder anderen Bindungen. Aus dieser Grundeinstellung folge, daß sie einen Identitätsverlust erleiden und unfähig werden können, "die eigene, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde. An der Wirklichkeit, die keiner mehr verläßlich bestätigt, beginnt der Verlassene mit Recht zu zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen mit garantiert ist" (Arendt, 1951, 729). Diese postmoderne Situation nennt Arendt am Schluß des besprochenen Werkes sehr aufschlußreich "eine antisoziale Situation und ein alles menschliche Zusammensein ruinierendes Prinzip", das "die ...Welt...zu verwüsten droht, bevor wir Zeit gehabt haben, aus diesem Ende einen neuen Anfang erstehen zu sehen..., der immer und überall da und bereit (ist)" (Arendt, 1951, 730).

Theoretische Überlegungen

(1) Gleichgültig, ob MarxistInnen die UdSSR und später ihre Satellitenstaaten als nichtsozialistisch, vor-, früh-, staats-, realsozialistisch oder gar staatskapitalistisch definieren, was die dort herrschende Produktionsweise und insbesondere der Besitz an den Produktionsmitteln anlangt, unterschied sie sich grundsätzlich von den unter dem Naziregime herrschenden Verhältnissen. Dort war mit der Machtübernahme durch die Nazis der Privatbesitz an den Produktionsmitteln nicht angetastet und am uneingeschränkten Verfügungsrecht der Besitzer über sie und damit an ihrem Recht, über den in der Produktion entstehenden Mehrwert frei zu verfügen, nicht gerüttelt worden(34). Gewiß wurden diese Rechte, vor allem in Kriegszeiten, bürokratisch eingeschränkt, was aber auch in gewissem Umfang in den parlamentarischen Demokratien der Fall war. Die Besitzer von Produktionsmitteln blieben jedoch als Privatpersonen uneingeschränkte Herren in der Wirtschaft. Auch der Markt funktionierte prinzipiell als Regulativ des Warenaustauschs wie in anderen monopolkapitalistischen Staaten(35).

In der UdSSR waren dagegen die Industriellen und Großgrundbesitzer und unter Stalin sogar die kleinen Geschäftsleute und Bauern radikal enteignet worden. Statt neue Besitzstände zu schaffen, wurde die UdSSR ein Land von Besitzlosen. Unter dem Stalinismus hatte ein gigantischer hierarchisch gegliederter bürokratischer Apparat, wie er von Arendt sehr treffend beschrieben wird, die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Ohne sich je individuellen Privatbesitz an Produktionsmitteln anzueignen, hatten die leitenden FunktionärInnen im Laufe der Zeit feudalherrliche, ja zum Teil Sklavenhalterrechte über die ProduzentInnen usurpiert. Für marxistische TheoretikerInnen leitet sich bekanntlich die Gestalt der Gesellschaft in letzter Instanz von der herrschenden Produktionsweise ab, die bestimmt wird durch den Besitz an den Produktionsmitteln. Dieser bestimmt die Aneignungsweise und Verteilung des geschaffenen Reichtums. Daraus ist die Frage abzuleiten, warum die Unterschiede in der Produktions- und Aneignungsweise der beiden Systeme für die Ausgestaltung der Herrschaftsform so bedeutungslos waren. Warum stimmen die beiden klassischen Totalitarismen in ihren Machtstrukturen, Herrschaftsmethoden und deren Wirkungsweise und Folgen in den entscheidenden Aspekten mehr überein, als sie sich unterschieden? Wie konnte eine emanzipatorische Theorie wie der Marxismus ebenso sehr zu einer menschenfeindlichen Ideologie, die eine die ursprüngliche Utopie zerstörende Praxis legitimierte, verkommen und damit der Wirkung der von Anbeginn elitären, kolonialimperialistischen Rassentheorie so ähnlich werden?

(2) Für beide Systeme seien nach Arendt Unproduktivität, totale Sterilität und Apathie der BürgerInnen charakteristisch. Dieses Urteil ist zu pauschal, da beide totalitären Systeme nicht zu allen Zeiten und nicht in jeder Hinsicht unproduktiv waren. Arendt subsumiert auch die Menschen unter beiden Systemen gleichermaßen als ohnmächtige, willenlose und sinnlos opferbereite Massen. Für sie reduzieren sich die BürgerInnen totalitärer Staaten auf den Status von Objekten; ihrer Subjekteigenschaft gingen sie in diesen Systemen verlustig. Ihrer Auffassung nach hatten die Menschen bereits vorher, in der Zeit, in der der das Emanzipatorische der bürgerlichen Revolutionen längst versiegt war und der zum bourgeois gewordene citoyen sich aufmachte, die Welt zu erobern, ihren Subjektstatus eingebüßt und waren zu bindungslosen Massen, jener Grundvoraussetzung des Totalitarismus, geworden.

Bereits mit der Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in Europa, einem Jahrhunderte währenden Prozeß, war ein höherer Grad sozialer Mobilität einhergegangen. Von den Menschen, die ihre Rolle im Feudalsystem verloren oder verändern mußten, heimat- und besitzlos wurden und mit ihren alten Weltsichten nichts mehr anfangen konnten, wurde jedoch ein erheblicher Teil, oft nach langer schmerzhafter Transformation, in der viele auch zugrundegingen, in neue Zusammengehörigkeiten als ProletarierInnen, als kapitalistisch wirtschaftende Klein- oder Mittelbauern, als KleinunternehmerInnen, als bürgerliche Hausfrauen usw. gebracht. Auch in der Zwischenkriegszeit, in der der neue, durch den Imperialismus ausgelöste Transformationsprozeß besonders in Deutschland den von Arendt geschilderten Vorgang der Bildung von entwurzelten Massen beschleunigte, veränderte er nicht grundlegend die Subjektstruktur der Mehrheit der Bevölkerung. Für diese Mehrheit hatte vielmehr schon immer gegolten, was Peter Weiß in seiner Ästhetik des Widerstands (1975) bei der Beschreibung des Pergamon-Altarfrieses als Metapher für die Charakterisierung derjenigen benutzt, "deren Los es war, in die Erde gestampft zu werden". Sie "taugten nur dazu, einer kleinen Schicht von Begünstigten den Reichtum und der Elite des Geists die notwendige Muße zu schaffen. In den knienden, vertierten Wesen" auf dem Fries "aber konnten sie sich erkennen. Diese trugen, in Grobschlächtigkeit, Erniedrigung und Geschundenheit ihre Züge...So sahen wir im gedämpften Licht die Geschlagenen und Verendenden" (Weiß, 1975,13).

Bereits 1848, unter dem unmittelbaren Eindruck der dritten Welle bürgerlicher Revolutionen, kennzeichnete auch Marx die Verhältnisse, die umgeworfen werden müßten, als solche, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist"(36). Dieses entfremdete Wesen des Menschen ist unter allen Systemen patriarchaler Klassenherrschaft generell unaufhebbar. Es bedingt die Eingebundenheit der menschlichen Subjekte in den herrschenden Diskurs, aus dem sich nur Minderheiten zu lösen vermögen. Es bedingt ferner die unterschiedlich stark, aber in jedem System empfundene politische Ohnmacht der Massen, die die Individuen veranlasst, ihre Selbsterhaltung auf die Erhaltung ihres eigenen Lebens und allenfalls das ihrer unmittelbaren Angehörigen zu reduzieren und sie nicht auf die Erhaltung der Gattung auszudehnen. Das ist die letzte Ursache der "Vermassung" der Menschen. Der Niedergang des Nationalstaats hat diese Entwicklung allerdings auf eine quantitativ neue Dimension gehoben. Diese von den Massen wahrgenommene eigene Ohnmacht halten sie für natürlich und für durch sie selbst nicht aufhebbar. Zwischen diesen, sich ohnmächtig wähnenden Massen und den Minderheiten, die sich wehren, sind die Übergänge fließend. Zwar ist das Charakteristische dieser Massen im Totalitarismus (aber nicht nur in diesen Systemen) ihr schwach entwickelter, ineffektiver Widerstand gegenüber den menschenfeindlichen, am Ende auch sie selbst zerstörenden Erscheinungen des Systems, die Ursache dafür liegt jedoch nicht ausschließlich im terroristischen Wesen der totalen Herrschaft. Die von Arendt vernachlässigte Frage heißt daher, was denn die Mehrheit der in diesen Systemen lebenden Menschen dazu motivierte, dem Schicksal von Millionen Opfern so indifferent gegenüberzustehen und sogar bereit zu sein, sich selbst zu opfern - allerdings nur so lange das System an der Macht ist. War es nur der Terror, nur ihre eigene Verzweiflung und Verlassenheit, die diese Massen dazu brachte, sich in dem System widerstandslos einzurichten?

(3) Beide Regime blockierten zwar gleichermaßen die Emanzipation der Menschen zu selbständig denkenden und selbstbestimmt handelnden Individuen extremer als andere. Die Motivationen der BürgerInnen in den beiden Systemen, diese nicht nur zu dulden, sondern auch zu billigen, waren völlig unterschiedlich, ja sogar in mancher Hinsicht diametral entgegengesetzt.

So blockierten die beiden Regime die Erfindungsgabe, Initiative, Leistungsbereitschaft der Menschen auf sehr unterschiedliche Weise. Unter dem Nazisystem waren die Unternehmer durchaus weiterhin daran interessiert, die Bereitschaft ihres Personals zu honorieren, im Betrieb technische und logistische Neuerungen einzuführen, die der Erhöhung des Profits dienten. An anderen Innovationen waren sie allerdings nicht interessiert. Auch der totalitäre deutsche Staatsapparat förderte technische, wissenschaftliche und medizinische Neuerungen, die der Stärkung der Wirtschaft und dem internationalen Ansehen des Großdeutschen Reiches dienten. Die grundsätzliche Kontinuität in Wirtschaft und Staatsapparat vom Kaiserreich bis zur Naziherrschaft, die auch durch die personalen Veränderungen nicht infrage gestellt worden war, verhinderte, daß die Interessen der herrschenden Klassen der Kapitalisten und Großgrundbesitzer durch mangelnde Effizienz und Blockierung von Neuerungen gefährdet wurden. Das war der Rahmen, in dem Innovationsbereitschaft, Initiative und Improvisationsfähigkeit gefordert wurden und gestattet waren. Die Orientierung der Wirtschaft auf militärische Aufrüstung und die auf Expansion und Eroberung gerichtete Außenpolitik waren im Sinne der Herren der Wirtschaft, des Staatsapparats und des Militärs. Auch der Krieg erwies sich bis zur Schlacht von Stalingrad als ein gutes Geschäft. Selbst an der Vernichtung von Menschen durch Giftgas profitierten die großen deutschen Unternehmen und waren somit an technischen Innovationen zur Menschenvernichtung interessiert. Ehe das Bündnis der mächtigeren Konkurrenten Nazideutschlands Welteroberungsplänen ein Ende bereitete und erkennbar wurde, daß sie weitere Versuche dieser Art längere Zeit verhindern würden, gab es keinen Grund für die Mächtigen in Industrie, Landwirtschaft und Militär, den Nazis die Gefolgschaft aufzukündigen.

Für die Mehrheit der politisch indifferenten BürgerInnen in Deutschland stellte das NS-Regime keinen Bruch mit ihrer Lebensweise oder ihren Grundauffassungen, sondern zunächst meist eine Verbesserung dar. Zwar waren die (in Deutschland vor 1945 ohnehin bescheidenen) verfassungsmäßigen Rechte der Gewerkschaften als Vertretung der LohnempfängerInnen abgeschafft worden. Da der Lebensstandard der Bevölkerung bis in die ersten Kriegsjahre schon wegen der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit stieg, vermissten die LohnempfängerInnen, deren materielle Bedürfnisse zwischen 1933 und 1939 besser als in der Weimarer Republik befriedigt wurden, eine eigene Interessenvertretung nicht. Auch ihre geistigen Bedürfnisse wurden zum Teil durch die Naziherrschaft befriedigt. Gehörten sie vorher einem, durch soziale und politische Kämpfe zerrissenen, im I. Weltkrieg geschlagenen, durch Inflation und Weltwirtschaftskrise ruinierten Staatswesen an, das 5 Millionen seiner arbeitsfähigen BürgerInnen die Möglichkeit verwehrte, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, so wurden sie nun BürgerInnen eines Landes, in dem es Arbeit und Brot für sie gab, das sich in der Welt Respekt zu verschaffen wußte, das ungehindert und zunächst nicht zum offenkundigen Schaden der BürgerInnen expandieren und in der Weltpolitik mitreden durfte. Da fiel ein wenig Selbstbewußtsein für jede/n einzelne/n ab, die/der sich Deutsche/r nennen durfte. So widersprachen die gleichgeschalteten Medien, die gleichgeschaltete Wissenschaft und Kultur zunächst der subjektiven Interessenwahrnehmung der Mehrzahl der politisch indifferenten deutschen BürgerInnen in keiner Weise. Die aktiven politischen GegnerInnen der Nazis waren, wie politisch aktive SystemkritikerInnen überall und zu allen Zeiten, eine Minderheit, deren Verschwinden in KZs oder in der Emigration, bzw. deren schweigende oder artikulierte Anpassung an das siegreiche System von der Mehrheit der Bevölkerung nicht wahrgenommen und erst recht nicht betrauert wurde. Für die MitläuferInnen, die in allen Staaten und unter allen Systemen die Mehrheit der Bevölkerung bilden, war die Verfolgung der Juden bestenfalls eine schnell verdrängte Marginalie, die mit ihrem Leben nichts zu schaffen hatte und über die sie daher nicht nachzudenken brauchten. Einverstanden mit dem System, das sie von der Arbeitslosigkeit befreit hatte und ihnen und ihren Kindern eine Perspektive zu bieten schien, registrierten sie zwar die staatsterroristische Art, mit der sich das System seiner FeindInnen entledigte (sie wußten durchaus, daß es KZs gab, in die man/frau besser nicht hineinkam), aber es störte sie damals nicht, da sie nicht zu seinen FeindInnen zählten und sich daher nicht bedroht fühlen mußten. Wie Arendt sehr richtig feststellte, erträgt das Volk wirkliche Macht sehr wohl, weil diese nie ganz ohne Funktion und Nutzen für es ist. Aufgrund der auch von Arendt zurecht hervorgehobenen Niederlage der zu Beginn der totalen Herrschaft vorhandenen Opposition hatte sich zunächst tatsächlich kaum Widerstand geregt. Erst als nach der Wende des Krieges bei Stalingrad auch für sie Unbequemlichkeiten und schließlich Sach- und menschliche Verluste entstanden, wurden sich auch MitläuferInnen allmählich und wenigstens teilweise ihrer Ohnmacht angesichts der Terrormaschine bewußt. Dazu trug auch der besonders im Krieg eskalierende wirtschaftliche Polarisierungsprozeß bei, der das deutsche Kleinbürgertum, die dem NS-System ergebenste Schicht, besonders stark in Mitleidenschaft zog. Die Zahl derjenigen, die trotz des Terrors desertierten, zeigt, daß auch das totalitäre Regime es nicht vermochte, den Widerstand von Menschen gegen von ihnen wahrgenommene Verletzungen ihrer elementaren Interessen dauerhaft und vollständig zu unterdrücken. In dem Maße, in dem das Nazi-Regime auch für die politisch indifferenten MitläuferInnen wahrnehmbar ihre Interessen beschädigte, entstand, trotz massenhafter Todesurteile und Himmelfahrtskommandos zu den 999ern, Widerstand gegen den Krieg, der sich in den verschiedensten Formen, von Kriegsmüdigkeit bis -verweigerung äußerte.

(4) Die Situation in der stalinistischen UdSSR unterschied sich, was die Menschen betraf, von der hier gezeichneten in Nazi-Deutschland grundlegend durch ihre Diskontinuität gegenüber der Vergangenheit, d.h.den Verhältnissen im zaristischen Rußland. Die Oktoberrevolution hatte zunächst unter den bis dahin ohnmächtigen und widerstandslosen Massen ungeheure Kräfte mobilisiert, die entschlossen waren, die bedrückenden Zustände radikal zu verändern. Für diese starken und aktiven, aber uneinigen Minderheiten war die grundlegende Meinungsverschiedenheit über die Ziele der Revolution charakteristisch, die, ebenfalls in Peter Weiß' Ästhetik des Widerstands, exemplarisch von zwei jungen Antifaschisten demonstriert wird und die den Kern der Tragödie der kommunistischen Bewegung sichtbar macht: Wird die Revolution dazu führen, daß, wie Marx schrieb, die Verhältnisse umgeworfen werden, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist", d.h. werden Selbstbestimmung jedes Individuums und ihre und seine Mitwirkung an allen Geschäften des Gemeinwesens an die Stelle von Hierarchie, Herrschaftswissen, Geheimdiplomatie und Unterordnung treten, oder muß ein neues Staatswesen gegründet werden, das diejenigen unterdrückt, die die früheren Verhältnisse erhalten wollen. Können nur dadurch die Interessen der Massen geschützt werden oder werden diese in Wirklichkeit nur erneut unterjocht?(37)

Bekanntlich hat gerade der zweite Weg, der Verzicht auf das Utopisch-Emanzipatorische der Oktoberrevolution, dazu geführt, daß "die Regeln eines neuen Zusammenlebens" keine Chance hatten. Am Ende hat der neue Staat, ähnlich wie das Naziregime, nicht die sich neu organisierenden BürgerInnen vor ihren äußeren Feinden beschützt, sondern Millionen von ihnen zum Schaden der Gesellschaft umgebracht; mit dieser Politik haben die Machthaber schließlich das wohlverdiente Ende des Systems herbeigeführt. Die Stalin hinterließ 1953 seinen unmittelbaren Nachfolgern eine nicht zu bewältigende Erbschaft an totalitären Herrschaftsstrukturen, vernichteter menschlicher Initiative und steriler Wirtschaftsweise, die von innen nicht mehr produktiv zu verändern war und die schließlich nach dem endgültigen Abgang Anarchie und Chaos zurückließ.

Für Arendt reduzieren sich die SowjetbürgerInnen der Stalinzeit auf die apathischen, wehrlosen Massen, beherrscht von der Funktionärsclique, an deren Spitze Stalin stand, und terrorisiert von der politischen Polizei. Die Verantwortlichen auf jeder Station der hierarchischen Leiter waren aber in Wirklichkeit ihrerseits in ihrer Macht beschränkte Werkzeuge der jeweils höheren Funktionärsriege und in letzter Instanz des verfolgungswahnsinnigen Führers der Werktätigen. Sie besaßen somit nur stellvertretend Macht, die ihnen jederzeit willkürlich entzogen werden konnte. Eine negative Auslese von in der Regel entscheidungsunfreudigen und ineffizienten Führungskräften in der Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung, ja selbst in der Verwaltung der Künste hatte bis heute nicht überwundene Folgen, die Arendt sehr zurecht hervorhebt. Da sie von erhöhter Effizienz, betrieblichen Innovationen oder Arbeitsproduktivitätserhöhung keinen wirtschaftlichen Nutzen hatten und die Sicherheit ihrer Stellung auch nicht davon abhing, konnten sie am wirtschaftlichen Fortschritt nicht interessiert sein. Weit wichtiger, ja lebenswichtig für sie war, den Wünschen derjenigen zu entsprechen, die ihnen in der Hierarchie vorgesetzt waren. Diese hatten sich von den Realitäten der Produktion weit entfernt, die sie auch nicht zur Kenntnis nehmen durften, weil sie der offiziellen Propaganda in keiner Weise entsprachen. Sie waren in der Regel zufrieden, wenn die, in den von ihnen aufgestellten Plänen vorgegebenen Kennziffern als erfüllt und übererfüllt gemeldet wurden. Da in diesem System an der Mehrung des Volksvermögens niemand interessiert war, ging es den leitenden FunktionärInnen vorrangig darum, ihre Machtposition teils durch wirtschaftliche oder wissenschaftliche Scheinerfolge bzw. durch arbeitsrechtlich, wirtschafts - und ökologisch kriminelle Maßnahmen herbeigeführtes tatsächliches Wirtschaftswachstum zu festigen. Die ArbeiterInnen in Industrie und Landwirtschaft, die in der Gesundheitsfürsorge, Volksbildung oder in der Wissenschaft Tätigen waren entrechteter als in Nazideutschland vor dem Krieg. Es gab auch in der Vorkriegszeit in der UdSSR keine Freizügigkeit, für die Mehrheit der BürgerInnen keine freie Wahl des Berufs oder des Arbeitsplatzes, keine Möglichkeit, ohne behördliche Genehmigung selbst im eigenen Land frei zu reisen, geschweige denn ins Ausland zu fahren. Dazu kam die von Arendt überzeugend dargestellte Überwachung und willkürliche Verfolgung als Staatsfeind, vor der sich niemand schützen konnte. Je nach der Stellung des/r Einzelnen in der hierarchischen Struktur wurden ihm/ihr bestimmte Privilegien eingeräumt, hatte er/sie Zugang zu Herrschaftswissen auf einem bestimmten Niveau. All das konnte ihm/ihr auch jederzeit willkürlich wieder entzogen werden. An einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität, die ihre Situation keineswegs verbessern konnte, waren die Werktätigen daher in der Regel ebenfalls nicht interessiert.

Hannah Arendt hielt auch die Künste in den totalitären Systemen für völlig steril im Unterschied zu den alten Despotien, wo die Grundelemente bürokratischer Herrschaft in der Belletristik und in anderen Künsten ihrer Meinung nach kritisch abgebildet und reflektiert wurden. Für den deutschen Faschismus mag man das gelten lassen, sofern die innere Emigrations- und vor allem die Exilliteratur unberücksichtigt bleibt. Für die sowjetische Literatur und andere Künste scheint mir dieses Verdikt nur bedingt zutreffend zu sein, für die staatssozialistischen Staaten, speziell die DDR, noch weniger. Andererseits gab es auch in der österreich- ungarischen Despotie nicht nur Kafkas beängstigendes Abbild des bürokratischen Wesens seines Landes oder Karl Krauss' Kritik am k.u.k.Österreich, sondern die Mehrzahl der literarischen Zeugnisse war wie überall angepasst, staatskonform, dem herrschenden Diskurs entsprechend. Wären in der UdSSR so viele KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, DichterInnen, Theater- und Filmleute Opfer von Repressionen geworden und ihre Werke der Zensur zum Opfer gefallen, wenn nicht ein großer Teil von ihnen das Wesen ihres Staates in ihren Werken doch enthüllt hätte?

Diese repräsentieren einen nicht zu vernachlässigenden Teil des antitotalitären Widerstands in der UdSSR zu Stalins Zeit, aber auch danach und ebenso in den Satellitenstaaten nach 1945. Der Widerstand umfasst aber nicht nur die künstlerische Intelligenz von Babel bis Aitmatow. Auch die Hunderttausende von SowjetbürgerInnen, die sich in den Vorkriegszeiten, also in der totalitären Stalinschen UdSSR, all dem hier Geschilderten zum Trotz engagiert und enthusiastisch an Aufbauprojekten in allen Teilen des Landes beteiligten und dort, oft unter unmenschlichen Bedingungen, neue Industrieanlagen und Städte aus dem Boden stampften waren nicht einfach von einer irrwitzigen Ideologie verblendet, die sie, wie die Nazis in Deutschland, dazu verführte, über Leichen zu gehen, gegebenenfalls auch über ihre eigene. Indem sie dabei die von ihnen verinnerlichten emanzipatorischen Inhalte der Oktoberrevolution zu realisieren versuchten, stellten sie eine antitotalitäre Potenz dar, die Stalin allerdings mißbrauchte und schließlich zerstörte.

(5)Arendt erklärt das opferbereite Engagement unter totaler Herrschaft mit dem "Suprasinn" (Arendt, 1951, 699) der Ideologien, der nicht die revolutionäre Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz, sondern die "Transformation der menschlichen Natur" (Arendt, 1951, 701) befördern soll. Täter wie Opfer sollen gleichermaßen von ihrer Überflüssigkeit überzeugt werden. Den von ihr gekennzeichneten Identitätsverlust, der begleitet wird vom Verschwinden echter Denk- und Erfahrungsfähigkeit, vom Zweifel des Individuums an der Wirklichkeit bezeichnet sie zurecht als "eine antisoziale Situation und ein alles menschliche Zusammensein ruinierendes Prinzip", weshalb für sie Totalitarismus ein Regime ist, das außerhalb der menschlichen Gesellschaft steht und mit dem andere Gesellschaftsformen nicht mehr kooperieren dürfen.

Anders als für das faschistische Regime läßt sich das Engagement für den Aufbau des Sozialismus vieler Menschen auch unter Stalin nicht einfach unter Identitätsverlust, der begleitet wird vom Verschwinden echter Denk- und Erfahrungsfähigkeit, vom Zweifel des Individuums an der Wirklichkeit subsumieren. Auch durch die menschenfeindliche staatsterroristische Politik Stalins verschwand der Zugewinn an Identität und Selbstbewußtsein einer erheblichen Zahl von Menschen nicht vollständig, der ihnen durch die Oktoberrevolution ermöglicht worden war. Nur sehr allmählich und sehr teilweise erkannten sie, daß sie der Willkür und dem Terror einer Clique schutzlos preisgegeben waren, deren Ziele den von ihnen verinnerlichten völlig entgegengesetzt waren. Ein großer Teil der Desillusionierten wollte diese grausame Wahrheit nicht akzeptieren, verleugnete oder verdrängte sie und verlor tatsächlich, wie Arendt schrieb, seine Erfahrungsfähigkeit. Andere hofften immer wieder, innerhalb des Systems könnten sich Reformkräfte herausbilden, die bereit und fähig wären, die ursprünglichen Ziele der Oktoberrevolution zu realisieren. Besonders während des Krieges gegen die Faschisten, den auch Arendt bemerkenswerterweise als eine nicht totalitäre Zeit aus der Stalinschen Ära ausklammert, engagierten sich große Teile der Bevölkerung in der Hoffnung, der Sieg über die Nazis würde auch eine gesellschaftliche Erneuerung im Lande bringen und einen Sozialismus mit menschlichen Antlitz, wie es später die Prager Reformer nannten, ermöglichen. Die menschliche und menschenwürdige Utopie, der sich nicht nur die ausgeschaltete, ermordete, verbannte und vertriebene Opposition in der UdSSR verschrieben hatte, lebte fort in vielen, die immer wieder versuchten, sie sich gegen alle Vernunft zu erhalten und dies durch ihr von der Norm der Feigheit, Verantwortungslosigkeit, Speichelleckerei und Kriminalität abweichendes integres Verhalten zu demonstrieren. Diese Form des Widerstands, der allerdings stets vom Abgleiten in puren Opportunismus bedroht ist, hat es in der ganzen geschriebenen Geschichte der Menschheit immer dann gegeben, wenn Bewegungen, die sich der Realisierung einer Utopie verschrieben hatten, sich im unaufhaltsamen Niedergang befanden. Anders als unter dem Faschismus, benutzte die Propaganda im Stalinismus Elemente des utopischen Anliegens und legitimierte mit diesen auch ihre politischen Vorhaben. Ob es sich aber um Wohnungsbauprogramme, verbesserte Arbeitsbedingungen, Bildungsreformen oder kulturelle Einrichtungen in ländlichen Gebieten, um soziale Vergünstigungen für Frauen oder um Entwicklungshilfe handelte, stets verquickten sich alte sozialistische Forderungen mit den menschenfeindlichen, kontraproduktiven Machtstrukturen und verhinderten, daß es selbst dort, wo reale soziale Leistungen erbracht wurden, zu einer Beteiligung und Mitsprache der NutznießerInnen und damit wenigstens zu begrenzten politischen Reformen kam. Die sinnentleerten emanzipatorischen Sprachhülsen aber hielten in vielen Menschen das Gefühl aufrecht, daß sie einer, wie immer schlecht durchgeführten aber letztlich guten Sache dienten und verhinderten bzw. verlangsamten ihren Weg zur Erkenntnis. Gleichzeitig führte die Parallelität von emanzipatorischer Phrase und totalitärer Praxis dazu, daß die endgültig Desillusionierten sich von allem Emanzipatorischen abwandten und sich weniger totalitären, aber keineswegs liberaleren oder sozialeren Richtungen zuwandten. Gerade diese Methode der Umdeutung sozialistischer Terminologie, um sie an die totalitäre Herrschaftspraxis anzupassen, die Orwell in 1984 persiflierte, wurde im Diskurs der Political Correctness in der posttotalitären Periode von den westlichen Industrieländern zur Verschleierung der menschenfeindlichen Entwicklung der neuen neoliberalen Phase des Kapitalismus als Erbe des stalinistischen Totalitarismus übernommen(38). Im Unterschied zum newspeak des Stalinismus, der die emanzipatorische Bedeutung der marxistischen Terminologie verfälschte, bediente sich die Lingua Tertii Imperii, wie Viktor Klemperer verdeutlichte, eines das Wesen des Systems widerspiegelnden Diskurses.

(6) Hanna Arendt läßt keine fließende Übergänge von der "reinen" totalen Herrschaft zu diktatorischen oder despotischen Regimes mit totalitären Zügen gelten. Dies scheint mir den historischen Erfahrungen zu widersprechen. "Reine" Erscheinungsformen sind bekanntlich stets ideologische Konstrukte, die bei näherer Untersuchung stets auch Elemente früherer Entwicklung und antizipatorische Aspekte aufweisen. Zwischen 1929 und 1956, also nicht nur unter Stalin, sondern bis zum 20. Parteitag der KPdSU und weitgehend noch danach wurde die UdSSR von den von Stalin entwickelten totalitären Machtstrukturen geprägt, für die die von Arendt herausgearbeiteten Merkmale in vollem Umfang zutreffen. Aber auch in dieser Periode bestanden neben diesen starke emanzipatorische Sehnsüchte und Illusionen im Volk, die mit dazu beitrugen, daß das System auch von KritikerInnen und keineswegs ausschließlich aus durch den Terror ausgelöster Apathie prinzipiell unterstützt wurde. Diese Ambivalenz prägte auch die "Diktaturen mit totalitären Zügen" in unterschiedlichem Maße mit, am deutlichsten die DDR, in weit geringerem Maße die UdSSR unter Breshnew. Die Entstehung langfristig oder dauerhaft Entwurzelter ist jedoch, was Arendt an späterer Stelle auch betont, nicht nur eine Erscheinung der Zwischenkriegsperiode (Arendt, 1951, 415). Von diesem Phänomen leitet sie die Massengesellschaft und aus ihr deren totalitäre Potenz ab. In der postfordistischen Gesellschaft ist dieser Prozeß bekanntlich erheblich eskaliert ohne erneut zu klassischen totalitären Regimes zu führen. Im Gegenteil, die staatsozialistischen Staaten mit ihren totalitären Zügen mit Ausnahme der der Bundesrepublik durch Anschluß einverleibten DDR haben sich in nationalistische bürgerliche Demokratien mit ebenfalls totalitären Zügen verwandelt, die die verstaatlichte Wirtschaft weitgehend in die Hände einheimischer Mafiosi legten, die sich auf Kosten der an den Bettelstab gebrachten Masse der Bevölkerung bereichern; andere Staaten wie China und Nordkorea versuchen, ihre Wirtschaft unter Beibehaltung der alten totalitären Machthaber ebenfalls auf Kosten des Volkes "zu modernisieren". In Ländern der "Dritten Welt", vor allem in Afrika, halten sich unter der Schirmherrschaft ehemaliger Kolonialstaaten oder anderer führender Staaten der westlichen Welt Regimes mit fundamentalistischen Zügen, die ebenfalls gewisse Ähnlichkeiten mit totalitaristischer Herrschaft haben. Insbesondere trifft das auf die überall wachsende Tendenz zu massenhafter Vernichtung von Menschen zu. Sehr richtig warnt Arendt: "Die ungeheure Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, daß in einem Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat 'überflüssig' werden...Es steht zu fürchten, daß die Konzentrationslager und Gaskammern, welche zweifellos eine Art Patentlösung für alle Probleme von Überbevölkerung und 'Überflüssigkeit' darstellen, nicht nur eine Warnung, sondern auch ein Beispiel bleiben werden. So wie in der heutigen Welt totalitäre Tendenzen überall und nicht nur in totalitär regierten Ländern zu finden sind, so könnte diese zentrale Institution der totalen Herrschaft leicht den Sturz aller uns bekannten totalitären Regime überleben" (Arendt, 1951, 702)." Am Gesicht der totalen Herrschaft hat sie nicht nur die Züge erkannt, die mit Hitler und Stalin verschwunden sind, sondern auch die, welche in den populistischen Massendemokratien der zweiten Jahrhunderthälfte weiterleben: Die Einübung der Politik auf 'Images', Privatisierung der Individuen und Ökonomisierung der Macht, die Zerstörung des öffentlichen Raums durch die mediale Produktion von Stimmungen, die massenhafte Produktion entrechteter Flüchtlinge durch den nationalen Charakter aller politischen und ökonomischen Ein- und Ausschließungen. 'Bewegungsfreiheit ohne Aufenthaltsrecht hat mit der Hasenfreiheit zu Zeiten der Jagd eine verzweifelte Ähnlichkeit'" erklärte Benhabib in Essen, wo von dieser Aktualität Hannah Arendts nur periphär die Rede war (Knobloch, Freitag, 1.12.95).

(8) Beide Systeme erwiesen sich als nicht überlebensfähig, aber auch in dieser Hinsicht aus entgegengesetzten Ursachen. So ging das Nazisystem nicht an inneren Widersprüchen sondern daran zugrunde, daß seine Machthaber die Stärke seiner Konkurrenten im Kampf um die Macht in der Welt unterschätzten(39). Sie brachen einen nicht gewinnbaren Weltkrieg vom Zaun, der Nazideutschland schließlich zu Fall brachte. Die totalitäre UdSSR ging dagegen tatsächlich vor allem an an ihren inneren Widersprüchen zugrunde. Mit einem schwindenden zivilgesellschaftlichen Konsensus, mit einer Arbeiterschaft, die bestenfalls Dienst nach Vorschrift betrieb oder jahrzehntelang als SklavInnen in den Gulags Zwangsarbeit leistete, mit einer ineffizienten und verhassten Bürokratie war weder der militärische noch der zivile Wettstreit mit den wesentlich effizienteren kapitalistischen Industrienationen zu gewinnen. Die Militärausgaben fraßen zudem einen immer größeren Teil des Bruttosozialprodukts auf, sodaß die soziale und politische Situation sich aus ihrer eigenen Dynamik heraus permanent verschärfte. Nach Chrustschow unternahm Gorbatschow den Versuch, das System von oben zu reformieren. Es erwies sich jedoch, daß die herrschende Nomenclatura in einem Maße korrumpiert war, das sie - ähnlich wie die Herrschenden im Römischen Reich der Antike - zur Regeneration unfähig machte. Aus den bereits geschilderten Ursachen erwuchsen auch aus dem niedergehaltenen Volk keine Führungspersönlichkeiten, die imstande gewesen wären, Reformkonzepte zu entwickeln und durchzusetzen, die nicht nur einer neuen, vergleichsweise kleineren, noch kriminelleren Oberschicht zugute gekommen wären. Diese postkommunistischen Gesellschaften sind Übergangserscheinungen, die ihrerseits zugrunde gehen müssen, damit sich produktivere Formen menschlichen Zusammenlebens überhaupt entwickeln können.

(8)Vielleicht ist die Frage nach der Entwicklungspotenz gesellschaftlicher Systeme wichtiger als die nach der Produktionsweise? Aus ihr könnten die Reformpotenzen der je vorhandenen gesellschaftlichen AkteurInnen bestimmt werden. Fehlen solche menschlichen Potenzen oder werden sie durch Erkenntnisblockaden an Einsichten in die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen gehindert, so sind gesellschaftliche Stagnation und aussichtsloser Niedergang unvermeidlich. Nur dort, wo sich bereits im Schoße einer Gesellschaft die neuen AkteurInnen herausbilden (und nicht nur die neuen Produktionsverhältnisse) können sich produktive, wirklich gattungsgerechte gesellschaftliche Veränderungen vollziehen.

Am Ende der Ästhetik des Widerstands, das die wohl wahrheitsgetreueste Chronik der revolutionären Arbeiterbewegung darstellt, läßt Peter Weiß den nach der Niederschlagung des Faschismus nach Deutschland heimkehrenden Erzähler trauernd derer gedenken, denen nur die "bebende, zähe, kühne Hoffnung" die Kraft zu ihrem Mut und ihrer Ausdauer im Kampf gegen beide Totalitarismen gegeben hatte. Er nimmt die eingangs eingeführte Metapher vom Pergamonfries wieder auf und läßt den Erzähler resümieren: "Ich würde mich vor den Fries begeben, auf dem die Söhne und Töchter der Erde sich gegen die Gewalten erhoben, die ihnen immer wieder nehmen wollten, was sie sich erkämpft hatten...Blind geworden vom langen Kampf würden sie, die sich auflehnten nach oben, auch herfallen übereinander, einander würgen und zerstampfen, wie sie oben einander überrollten und zerfleischten,... und ...solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells (des Befreiers Herakles - HB) nicht sehn, es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müßten selbst mächtig werden (kursiv von mir -HB) dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten" (Weiß, 1975, 266-268).



© Hanna Behrend





1 Meyers Neues Lexikon, Leipzig 1961, Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1974, Fremdsprachliche Autoren, Leipzig 1981, Biographien zur Weltgeschichte, Berlin 1986

2 Fritz Rudolf Fries in seiner Rezension im Freitag vom 13.10.95 zu den Briefwechseln Hannah Arendts mit Kurt Blumenfeld und Mary McCarthy.

3 "Ihre Vorstellung, daß sich der Zustand des Menschengeschlechts in dem Maße verschlechterte, in dem die 'Lebensbedürfnisse' die Grenzen der 'Freiheit' sprengten, läßt Zustimmung zu einer Frauenbewegung nicht zu, die die materiellen Bedingungen verbessern will... Ihr Liberalismus verweigert der Autonomie der Frauenbewegung oder der Besonderheit der Bedürfnisse der Frauen die Anerkennung. (Feminist Companion, 1990, 29)

4 Auch Fries, a.a.O., bezeichnet dieses Werk als dasjenige, das Arendt "in die erste Reihe jener Nachkriegsautoren (rückte), die das Trauma von Auschwitz und den Horror des Gulag zu analysieren suchten". Dies habe sie in unwillkommene Nachbarschaft manch eines kalten Kriegers gebracht. Das "anhaltende Interesse an Hannah Arendt ...zwanzig Jahre nach ihrem Tode" erklärt Clemens Knobloch (Freitag, 1. 12.1995, 11) damit, daß "sie zu der kleinen Zahl der durch den Geschichtsverlauf am Ende des 20. Jahrhunderts nicht beschädigten, integren politischen Denkern (gehört)".

5 So ihren langjährigen Freund Kurt Blumenfeld. Vgl. Fries, Freitag, 13.10.95 und '...in keinem Besitz verwurzelt' - Die Korrespondenz Hannah Arendt - Kurt Blumenfeld, Hamburg 1995. 6 Zionism Reconsidered, 1945

7 Sie beklagt, daß der Gerechtigkeit in einem "Gerichtshof der Sieger" nicht Genüge getan wurde, die Begriffe des "Verbrechens an der Menschheit" und des "neuen Typs des Verwaltungsmörders" (Arendt, 1964, 324) nicht geklärt wurden. Sie kommt zu der in den Medien kaum kolportierten Schlußfolgerung, daß die "Auslöschung ganzer Völker ... mehr als ein Verbrechen gegen ...(die betreffenden Völker) sein könnte, daß vielmehr die völkerrechtliche Ordnung der Welt und die Menschheit im ganzen dadurch aufs schwerste verletzt und gefährdet sind" (Arendt, 1964, 325).

8 "Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automation einerseits, die große Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte 'überflüssig' zu machen droht, und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man 'Probleme' mit einem Vernichtungspotential lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen. Es besteht aller Grund, sich zu fürchten, und aller Grund, 'die Vergangenheit zu bewältigen'" (Arendt, 1964, 323).

9 "Der Imperialismus hat das Idyll des Nationalstaats zertrümmert und die 'Nation' zu einem nach innen und außen aggressiven Instrument der kapitalistischen Expansion gemacht".

10 "Nichts sei so gefährlich in diesen Tagen, wie nur noch Mensch zu sein", zitiert Benhabib. Dieses Zitat steht im Zusammenhang mit ihrer Darlegung über den Niedergang (Arendt, 1951, 452) der Menschenrechte zu Beginn des Jahrhunderts.

11 Etymologisch wird das Wort hier auf das von Mussolini verwendete "totalitario" zurückgeführt (andere Gewährleute meinen, der Begriff sei von linken Mussolinigegnern geprägt worden), das er zur Beschreibung des neugegründeten faschistischen Staates in Italien benutzte, von dem er sagte: "Alles im Rahmen des Staates, niemand außerhalb des Staates, niemand gegen den Staat". Viel weitläufiger als Arendt bezeichnet die BE nicht nur das Nazireich Adolf Hitlers und die UdSSR unter Stalin, sondern auch die Maurya-Diktatur in Indien von 321-185, die Tschin-Dynastie in China (221-205 v.u.Z.), das Zulureich des Häuptling Schaka (1816-1828) als totalitäre Staaten. Die Regimes Hitlers und Stalins hätten sich vor allem durch ihre Unberechenbarkeit ausgezeichnet, "wodurch sie im Volk die Furcht vor dem Staatsterror erhöhten und jeden Widerspruch zum Schweigen brachten". Ferner bedürften totalitäre Staaten sei charakteristisch eines charismatischen Führers, sie zerstörten die bestehenden staatlichen Institutionen und verzichteten auf die rechtlichen, sozialen und politischen Traditionen, wodurch der soziale Zusammenhalt innerhalb der Bevölkerung geschwächt und diese leichter in eine allumfassende Bewegung rekrutiert werden können. Mittels einer Staatsideologie, die den Staatsterror gegen ganze Bevölkerungsschichten (wie z. B. die Juden in Deutschland oder die Kulaken in der UdSSR), sowie die Polizeiwillkür, die gegen angebliche oder tatsächliche Dissidenten eingesetzt. wird, legitimiert, setzen totalitäre Staaten ihre Ziele ohne Rücksicht auf die Kosten durch.

12 "Das völkische Element ist für den deutschen Rassebegriff lange entscheidend geblieben und ... niemals ganz aus ihm verschwunden. Die Bedingungen und politischen Zwecke, die Abwehr der Fremdherrschaft und die Einigung des Volkes, haben zumindesten bis zur Reichsgründung in der Entwicklung des Rassebegriffs mitgewirkt, so daß sich hier in der Tat echter Nationalismus und typische Rassevorstellungen vielfach miteinander mischen und eben jenes völkische Denken erzeugen, das es nur im deutschsprachigen Bezirk gibt" (Arendt, 1951, 277f)

13 "Als Hitler noch am 30. Januar 1945 in einer Rede erklärte, daß "der 'allmächtige Gott unser Volk geschaffen hat und wir nun seine Schöpfung verteidigen, wenn wir uns verteidigen', sprach er noch genau so die Sprache der Pangermanisten und seines Lehrers Schönerer, wie seine russischen Gegner die Sprache des von Stalin wieder erweckten Panslawismus sprachen, wenn sie entgegneten, daß 'die deutschen Bestien nicht nur unsere, sondern Gottes Feinde' seien" (wie es der Erzbischof von Tambow 1944 formulierte; Arendt, 1951, 375, FN32).

14 Der völkische Nationalismus sei "die Perversion, die in jeder Nationalreligion steckt, in der Gott ein Volk auserwählt...Der Haß der Völkischen auf die Juden entsprang den traurigen Residuen christlicher Frömmigkeit, die sich in die abergläubische Furcht verwandelt hatte, es seien vielleicht eben doch die Juden und nicht das eigene Volk, das Gott auserwählt und für den Sieg über alle anderen Völker aufgespart habe. ...Denn für die Mentalität des Mob bedeuten die jüdischen Vorstellungen eines von Gott gegebenen Auftrags, das Königreich Gottes auf Erden zu verwirklichen, nur dann etwas, wenn sie in die vulgären Vorstellungen von Erfolg und Mißerfolg sich übersetzen ließen..., so daß nun die Auserwähltheitsvorstellung aus einem Mythos, der die Erstehung der Menschheit zum Inhalt hatte, zu einem Instrument wurde, die Idee der Menschheit zu vernichten" (Arendt, 1951, 389f)

15 "Die Macht, die in Verfassungsstaaten nur der Ausführung und Innehaltung der Gesetze dient, wird hier..zur direkten Quelle der Anordnung...In gewissem Sinne ist eine einheimische Bürokratie noch verderblicher und korrumpierender als jene imperialistische Verwaltung in den Kolonien ...in welcher die Unterdrückten wenigstens wußten, daß sie es mit Usurpatoren und einer Fremdherrschaft zu tun hatten. Im zaristischen Rußland aber und ...in Österreich-Ungarn wurden die despotischen Bürokratien als legitim akzeptiert, und gerade diese Legitimität half besser als alles Geheimhalten und Sichaufspielen den grundsätzlichen Opportunismus verbergen, der hinter der Willkür aller bürokratischen Regime liegt"(Arendt, 1951, 391f).

16 Arendt hält das in Großbritannien bestehende Zwei- Parteiensystem mit seiner stets die Kontrolle über die jeweils regierende Partei ausübenden Oppositionspartei für stabiler als die kontinentalen Mehrparteiensysteme, in denen "sich jede Partei bewußt als Teil eines Ganzen definiert, das seinerseits von dem Staat über den Parteien repräsentiert ist....Mit anderen Worten, die in dem englischen System selbstverständliche Identifizierung von einer Partei mit dem Staatsapparat kann hier nur in der Form der Diktatur auftreten" (Arendt, 1951, 404f).

17 "Dem kontinentalen Vielparteiensystem entspricht eine Staatsauffassung, derzufolge es im Wesen des Bürgers liegt, sich dem Staate gegenüber nicht als Parteimitglied, also als Repräsentant einer bestimmten Interessenkonstellation, zu verhalten, sondern in einer individuellen, unorganisierten Beziehung zu verbleiben; der Bürger ist entweder 'Staatsbürger' oder Parteimitglied, entweder unorganisiertes Mitglied eines im wesentlichen öffentlichen Apparates oder organisiertes Mitglied einer wesentlich privaten Vereinigung. Als Staatsbürger gerade ist er an den eigentlichen Staatsgeschäften ganz unbeteiligt außer in Zeiten nationaler Not, wenn der Staat seine Bürger als Soldaten einzieht. Dies sei das unglückliche Ergebnis der Transformation des Citoyen der Französischen Revolution in den Bourgeois des neunzehnten Jahrhunderts und des hieraus sich entwickelnden Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft gewesen. Die Folge war, daß die Deutschen dazu neigten, Patriotismus mit Gehorsam und Aufgabe der eigenen Interessen zu verwechseln, während die Franzosen begannen, sich mit begeisterter Schwärmerei am Phantom eines 'ewigen Frankreichs" zu berauschen. In beiden Fällen bedeutete Patriotismus das Aufgeben der eigenen Partei und der partikularen Interessen zuginsten des Staates und des nationalen Interesses" (Arendt, 1951, 407)

18 Hanna Behrend, "Enthierarchisierung der Kategorien: Ein feministischer Beitrag zur Diskussion um Klassentheorie und Klassenanalyse", in Hintergrund IV-95, 5-22. Der Negierung der je besonderen sozialen Interessen von einer Klasse angehörenden sozialen Gruppen entspricht bei Arendt die Negierung von Klassen- und Gruppeninteressen durch die Parteien im Vielparteienstaat.

19 Dazu siehe auch den Abschnitt "Theoretische Überlegungen", sowie Anmerkungen 34 und 35. Auch ihre Behauptung, "die faschistische und Nazipropaganda gegen das Klassensystem, das kurzerhand für eine marxistische Erfindung erklärt wurde, (war) so erfolgreich, daß selbst die kommunistische Bewegung ... sich veranlaßt sah, die eigentliche Klassenpropaganda aufzugeben und, unter dem Vorwand einer Verbreiterung der Massenbasis, die 'Volksfrontpolitik`einführte, durch die sie nun ebenfalls an Massen sich wenden konnte und nicht mehr auf die Arbeiterklasse und ihre Sympathisierenden beschränkt war" Arendt, 1951, 415) greift zu kurz, insofern es durchaus ein reales, klassenübergreifendes Interesse verschiedener sozialer Schichten an dem gemeinsamen Abwehrkampf gegen die Nazis gab, unabhängig von der realen Vereinnahmung aller Volksfrontgruppen durch die kommunistischen Apparate.

20 "Denn 'die Bewegung ist sowohl Staat wie Volk, und weder der heutige Staat ...noch das heutige Volk wären ohne die Bewegung auch nur vorstellbar'" zitiert sie eine autentische Quelle (Arendt, 1951, 422).

21 Als "im zwanzigsten Jahrhundert zum ersten Male große Gruppen von Menschen auftauchten, die in eklatanter Weise aller Rechte beraubt" waren, fand "sich keine liberale oder radikale Partei bereit..., eine neue Proklamation der Menschenrechte in ihr Programm aufzunehmen" (Arendt, 1951, 455).

22 "Nur die emanzipierte Souveränität des Volkswillens, und zwar des Willens des eigenen Volkes, schien imstande, die Menschenrechte zu verwirklichen" (Arendt, 1951, 455).

23 "Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimentale humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied" (Arendt, 1951, 453).

24 "Die modernen Flüchtlinge sind nicht verfolgt, weil sie dies oder jenes getan haben, sondern auf Grund dessen, was sie unabänderlicherweise von Geburt sind - hineingeboren in die falsche Rasse oder die falsche Klasse oder von der falschen Regierung zu den Fahnen geholt (Arendt, 1951, 459)". Dieser Darstellung ließe sich hinzufügen, daß sie dem falschen Geschlecht, dem falschen Stamm oder der falschen Ethnie angehören bzw. im falschen Land leben. Wirklich aus politischen Gründen Verfolgte sind unter den Millionen Flüchtlingen naturgemäß eine kleine Minderheit, auch sie in der Regel aus konspirativen Gründen außerstande, diesen Status nachzuweisen.

25 "Dies abstrakte Menschenwesen (das Objekt der Menschenrechte), das keinen Beruf, keine Staatszugehörigkeit, keine Meinung und keine Leistung hat, durch die es sich identifizieren und spezifizieren könnte, ist gleichsam das genaue Gegenbild des Staatsbürgers, dessen Ungleichheit und Differenziertheit dauernd innerhalb der politischen Sphäre von dem großen Gleichmacher aller Unterschiede, der Staatsbürgerschaft selbst, eingeebnet werden; denn wiewohl der Rechtlose nichts ist als ein Mensch, ist er doch dies gerade nicht durch die gegenseitig sich garantierende Gleichheit der Rechte, sondern in seiner absolut einzigartigen, unveränderlichen und stummen Individualität, der der Weg in die gemeinsame und darum verständliche Welt dadurch abgeschnitten ist, daß man ihn aller Mittel beraubt hat, seine Individualität in das Gemeinsame zu übersetzen und in ihm auszudrücken (Arendt, 1951, 469f)".

26 "Mao Tse-tungs 'Denken' verlief nicht in den Bahnen, die von Stalin (oder dann auch Hitler) vorgezeichnet waren, er wurde nicht von Mordinstinkten gelenkt und jene nationalistische Gesinnung, die bei allen revolutionären Erhebungen in früheren Kolonialländern eine Rolle spielte, war stark genug, die totale Herrschaft in Schranken zu halten" (Arendt, 1951, 477f). Neuere Literatur scheint diese Differenzierung in Bezug auf China nicht zu bestätigen. Sehr eindrucksvoll zeigt die Familienbiographie von Jung Chang (1991), Wild Swans. Three Daughters of China, London, die nach dem kurzen revolutionären Frühling einsetzende grausame und menschenfeindliche Apparatediktatur, die in ihrer Willkür und Unberechenbarkeit im Umgang mit den eigenen ParteigängerInnen und Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen ihrer Politik für die Menschen des Landes der Stalinschen kaum nachsteht. Auch die extreme Barbarei der Pol-Pot-Diktatur, die Arendt nicht mehr in ihre Überlegungen einbeziehen konnte, unterscheidet sich von den "großen" totalitaristischen Staaten nur durch den niederen Stand der Technisierung des Mordens, durch das Fehlen der von Arendt konstatierten nationalen Gesinnung und durch die ausschließlich ultralinke Ausformung der totalitären Herrschaft einer selbsternannten Apparatemafia.

27 "Der Fanatismus der totalitären Bewegungen bricht in dem Augenblick zusammen, wo die Bewegung ihre fanatisierten Anhänger im Stich läßt" (Arendt, 1951, 498).

28 "Die Zugehörigkeit zu einer Klasse und die in diesem System entwickelten Formen der Repräsentanz ...(verhinderten), daß sich ein politsches Bewußtsein entwickelte, bei dem jeder Bürger sich mehr oder minder verantwortlich für die Abwicklung der Regierungsgeschäfte gefühlt hätte" (Arendt 1951, 508).

29 "Ein Beisammensein von Zynismus und Leichtgläubigkeit durchherrscht alle Ränge totalitärer Bewegungen; je höher der Rang, desto mehr überwiegt ...der Zynismus...Buchstäblich an des Führers Worte zu glauben, wird nur von den Sympathisierenden erwartet" (Arendt, 1951, 601).

30 Darunter rechnet sie die Millionen vertriebener und ermordeter sog. Kulaken bei der Kollektivisierung, die Millionen von Opfern der großen Säuberung, die hingerichtet oder deportiert wurden, wobei danach nicht wenige ebenfalls umkamen. Zu diesen gesellten sich die während des Kriegs zwangsumgesiedelten und dabei umgekommenen internationalen AntifaschistInnen und die pauschal als "Feinde der Sowjetunion" verdächtigten, daher mittellos und ohne Voraussetzungen für ihre Aufnahme in die Verbannung geschickten Völker.

31 Wie Arendt feststellt, waren "die Ergebnisse der Liquidierung des Kulakentums, der Kollektivierung und der Großen Säuberung ...Hungersnot, chaotische Zustände in der Nahrungsmittelerzeugung und Entvölkerung", eine chronische Krise in der Landwirtschaft, Einbuße des "Standes an Sachkunde, Leistungsfähigkeit und technischem Know-how, den (das Land) nach der Oktoberrevolution immerhin erreicht hatte" (Arendt, 1951, 486f), von dem Verlust an Menschenleben ganz abgesehen.

32 "Diesen individualistischen Ausweg der moralischen Person haben die totalitären Regierungen dadurch abgeschnitten, daß sie die Entscheidung des Gewissens selbst absolut fragwürdig und zweideutig gemacht haben. Wie ein Mensch entscheiden soll, der vor die Wahl gestellt wird, entweder seine Freunde zu verraten und damit zu ermorden oder seine Frau und Kinder...dem Tode preiszugeben, ist schlechthin nicht mehr auszumachen, vor allem dann nicht, wenn Selbstmord automatisch Mord an der eigenen Familie bedeutet. Die Alternative ist hier nicht mehr zwischen Gut und Böse, sondern zwischen Mord und Mord" ( Arendt, 1951, 693).

33 "Die in den Lagern etablierte Gesellschaft des Sterbens (ist) die einzige Form, in der es gelingen kann, sich des Menschen total zu bemächtigen. Dem totalen Herrschaftsanspruch bleibt gar nichts anderes übrig, als jede Spontanität ...zu liquidieren und sie in allen Formen privatester Lebensäußerung aufzuspüren, ganz gleich wie unpolitisch oder harmlos diese erscheinen mögen" (Arendt, 1951, 697).

34 Franz Neumann schreibt in Behemoth, daß während des Krieges "eine kleine Gruppe mächtiger Industrie-, Finanz- und Agrarmonopolisten ... mehr und mehr mit einer Gruppe von Parteihierarchien zu einem einzigen Block (verschmolzen), der über die Mittel der Produktion wie über die Mittel der Gewalt verfügt" (Neumann, 1977, 661). Die soziale Ordenung charakterisiert er als "Unterdrückung und Ausbeutung der ihrer politischen Organisationen beraubten Arbeiter- und Mittelschichten "durch eine" in sich konkurrierende Elitenbande, die sich aus den Spitzen von Partei, Monopolkapital, Staatsbürokratie und Militär zusammensetzt" (ebenda, 423).

35 Ich schließe mich der Auffassung Neumanns u.a. an, die die Wirtschaft Nazideutschlands für einen hochmonopolisierten Privatkapitalismus hielten, der durch Staatseingriffe gestützt, aber eben nicht planwirtschaftlich geregelt sei (Söllner I, 1982, 13).

36 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in M/E Werke, I, 385

37 "Der eine, Heilmann, sieht die zukünftige Gesellschaft als eine, "in der, nach den Erfahrungen des Zwangs, des Betrugs, der Erniedrigung und jeder Art von Tortur, die gewohnten Ordnungen, Gesetze und Tabus aufgehoben waren. Jede Ängstlichkeit vor Autoritäten, jede Gefügigkeit, jedes blinde Befolgen der Arbeit, seien hier, sagte er, einem Aufatmen gewichen, die Verwirrung sei beendet, das gemeinsame Beste sei mit dem eignen Besten identisch, es bestände Freiwilligkeit und völliger Ausgleich, es gäbe keine Rangstufen mehr, keine verschlossnen Türen, hinter denen geheime Entscheidungen getroffen wurden, alles fände in der Öffentlichkeit statt, jederzeit Einblick und Kontrolle erlaubend. Hier, wo jeder Handgriff, jede Zusammenordnung, von den daran Beteiligten selbst bestimmt würde und das Hervorgebrachte ihnen gehöre, wo jeder sich nach eignen Bedürfnissen fortbilden könnte, müßten Selbstbewußtsein, Stolz und Vergnügen zum Merkmal werden. Solch ein Gebilde, sagte Coppi, ...kann nur zum Anarchismus, zum Chaos führen. Dein Staat, der sich selbst überflüssig macht, weil er eine herrschende Klasse nicht mehr zu stützen braucht und weil niemand mehr da ist, der niedergehalten werden muß, erinnert wohl an das Geschlecht, von dem Lenin gesagt hat, es sei einmal imstande, den ganzen alten Plunder von sich abzutun, fragt noch nach jener vorbereitenden Phase, die du im mythischen Dunkel läßt, und in der die autoritärste Sache, die es gibt, die Revolution, Wirklichkeit ist. Mit Waffen hätten die Sieger den Besiegten ihren Willen aufzuzwingen, und mit Waffen, die Schrecken einflößen, ihre Macht zu behaupten, und ehe vom Absterben des Staats gesprochen werden könne, sei ein neuer Staat, mit den Regeln eines neuen Zusammenlebens, zu errichten, und dann begännen die alltäglichen Mühen, in denen jegliche Theorie ihren Gebrauchswert zu erweisen habe"(Weiß, 1975,17f).

38 Dazu Hanna Behrend: Political Correctness: Ein neues Wort für gewendete Praktiken, in: "Das Argument", März 1996

39 "Die Risse und Widersprüche im nationalsozialistischen System und selbst die militärische Niederlage Deutschlands führen nicht zum automatischen Sturz des Regimes. Der Sturz dieses Regimes kann einzig durch das bewußte politische Handeln der die Risse und Brüche ausnutzenden unterdrückten Massen erfolgen". (Neumann, 1977, 49f)

Literatur

Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München
-dieselbe - (1986): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München

Behrend, Hanna (1995): Enthierarchisierung der Kategorien. Ein feministischer Beitrag zur Diskussion um Klassentheorie und Klassenanalyse", in Hintergrund IV/95, 5-22
-dieselbe- (1996): Political correctness. Ein neues Wort für gewendete Praktiken, in "Das Argument", März/April 1996

Chang, Jung (1991): Wild Swans. Three Daughters of China, London

Fries, Fritz Rudolf (1995): Wie sehr ich mich nach dir sehne. Hannah Arendts Briefwechsel mit Mary McCarthy und mit Kurt Blumenfeld, in "Freitag", 13. Oktober 1995

Knobloch, Clemens (1995): Hasenfreiheit zu Zeiten der Jagd. Bemerkungen zum 20. Todestag von Hannah Arendt und ein Bericht über das Arendt-Symposium in Essen, "Freitag", 1.12.1995

Marx, Karl (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in M/E Werke I

Neumann, Franz L. (1977): Behemoth, Frankfurt

Söllner, Alfons (Hg) (1982): Zur Archäologie der demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst, Bd.I, 1943-45, Frankfurt/M

Weiß, Peter (1975) Ästhetik des Widerstands, Frankfurt/M











 

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