Start

GLASNOST informiert  









Gesellschaftswissenschaftliches Forum - Vorstand


Was muss nach der Bluttat am Erfurter Gutenberg-Gymnasium diskutiert werden?


Der unvorstellbare Ausbruch von Gewalt, der sich in der Bluttat des ehemaligen Schülers am Erfurter Gutenberg-Gymnasium äußerte, hat nicht nur Trauer und Mitgefühl, Entsetzen und Angstgefühle ausgelöst, sondern auch hektische Betriebsamkeit bei den Politikern sowie in den Medien. Es werden allerlei Maßnahmen gefordert und Versprechungen abgegeben, alles zu tun, dass sie solch ein Ereignis nicht mehr wiederholt. Da das Geschehen in Erfurt keine Einzelerscheinung ist, sondern nur der bisherige Höhepunkt einer seit langem zu beobachtenden Entwicklung, ist die Frage angebracht, ob die bisherige Debatte wirklich zu den eigentlichen Ursachen vorzudringen verspricht.

Man muss kein Marxist und kein Sozialist sein, um festzustellen, dass es nicht um die Wahnsinnstat eines geistig Verwirrten geht. So etwas, das weiß auch jeder, lässt sich auch durch die ausgeklügeltsten Maßnahmen nicht völlig ausschließen. Es muss doch zu denken geben, dass Gewalt nicht nur in den Schulen unter Schülern, von Schülern gegen Lehrer und von Lehrern gegen Schülern beobachtet werden kann. Die Medien sind voll von Gewalt in der Welt und in unserem Lande. Also kann es nicht nur darum gehen, diese oder jene Maßnahme zu treffen, dass man schwerer oder später an Waffen gelangt, dass Vorkehrungen getroffen werden, dass Waffen nicht in Schulen mitgebracht werden können. Man soll in dieser Hinsicht durchaus alles durchdenken, aber mit Maßnahmen dieser Art dürfte es nicht getan sein.

In der Gegenwärtigen Debatte taucht auch der Hinweis auf, dass es darum gehen muss, in der Gesellschaft die Akzeptanz von Gewalt zu bekämpfen und wieder wichtige Wertvorstellungen zur Geltung zu bringen.
Diese Vorschläge sind sicherlich richtig, aber sie sind zu allgemein und zu oberflächlich.

Wer die Lage in unserer Welt und in unserem Land mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt, dem kann nicht entgehen, dass Gewalttaten nicht nur Ausflüsse von krimineller Energie von Einzelnen oder kleinen Gruppen sind, sondern der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In einer Welt, in der einzelne Staaten oder Staatengruppen sich das Recht herausnehmen, anderen vorzuschreiben, wie sie ihre inneren Verhältnisse regeln und bei Verweigerung ihre Forderungen mit brutalem Waffeneinsatz durchsetzen, darf man sich nicht wundern, wenn der Eindruck erweckt wird, dass es ein Recht des Stärkeren gibt. Schauen wir nur nach Nahost. Zum wiederholten Male ignoriert eine israelische Regierung Beschlüsse der UNO, und niemand hindert sie daran. Die USA bereiten unbeeindruckt von Warnungen aus der islamischen Staatenwelt eine Aggression gegen den Irak vor.  Aber wir brauchen nicht so weit zu gehen. In unserem Lande deutet auch alles darauf hin, dass Gewinner-, bzw. Siegertypen glorifiziert werden und Verlierer und Versager verächtlich gemacht werden. Die Unternehmer üben tagtäglich Gewalt gegen ihre Untergebenen und Druck auf die Regierenden aus, um ihre Interessen durchzusetzen. Wer Erfolg hat, ist quasi per se gut, wie der Erfolg erkauft wurde, ist Nebensache. Die, die dabei auf der Strecke geblieben sind, interessieren nicht.  Welcher Rummel wird um die “Schönen und Reichen” gemacht. Sie sind die Gallionsfiguren für eine rücksichtslose Jagd nach Geld und Einfluss. Politische Parteien,  wie die FDP, suchen Einfluss unter jungen Leuten, indem sie sie gegen soziale Verantwortung und Solidarität gegenüber den älteren Generationen aufbringen. Man tut das, obwohl man weiß, dass man dabei mit falschen Karten spielt. Die Sprache dieser Gesellschaft ist zum Träger und Ausdrucksmittel von Gewaltorientierung geworden : feindliche Übernahme, Verdrängung vom Markt, Marktführer, Verkaufsoffensive,  Markteroberung usw.

Nun wissen wir, dass wir in dieser Gesellschaft leben müssen, dass es für eine durchgreifende  Veränderung z.Zt. nicht die erforderlichen Voraussetzungen gibt. Also steht die Frage: Was kann getan werden, um Gebrechen und Mängel dieser Gesellschaft zu minimieren ? Worauf muss dabei das Hauptaugenmerk gelegt werden ? In welchen Fragen ist ein relativ breiter Konsens möglich; in welchen Fragen bedarf es der Formierung wenigstens einer oppositionellen Minderheit, die in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass die wichtigen Fragen nicht unter den Tisch gekehrt werden und vor allem Illusionen über die Lösbarkeit bestimmter Probleme Platz greifen?  Welche Gremien, Institutionen oder  Bewegungen sind in Gang zu setzen ?

Der Vorstand des “Gesellschaftswissenschaftlichen Forums” möchte alle Mitglieder und alle die, die sich Sorgen um die Zukunft machen, zu einer Debatte herausfordern. Diese Debatte werden wir auf der Internet-Seite unseres Vereins führen. Je nach der Resonanz und den Ergebnissen behalten wir uns andere Formen vor, damit an die Öffentlichkeit zu treten.


Kommentar zum Erfurter "Amokläufer"

Amokläufer sind eigentlich Geistesgestörte mit ungewöhnlich starkem Bewegungsdrang und Aggressivität, die auf Krankheiten wie u.a. Malaria zurückgeführt werden; ein unbeherrschbarer psychischer Zustand, der zuerst bei malaiischen Eingeborenen aufgetreten sein soll.

Der "Amokläufer" von Erfurt litt, soweit bekannt, nicht an einer derartigen Geisteskrankheit, sondern war unauffällig und so angepasst, dass zwei Schützenvereine, darunter der Polizeiverein, ihn ihrer Mitgliedschaft und damit des Zugangs zu Waffen und offenbar unbegrenzter Mengen von Munition für würdig erachteten. Aufgefallen war einigen seiner Schulkameraden allenfalls sein Geltungsdrang, auch das nichts ungewöhnliches. Die Schule war nicht seine Welt und sein Mangel an Erfolg als Schüler veranlasste ihn, sich unrechtmäßig aus dem Schulbetrieb zu entfernen. Auch das geriet ihm zum Misserfolg, denn er wurde wegen gefälschter Krankenscheine von der Schule verwiesen. Er suchte verständlicherweise einen Ort, an dem er kein Versager war, sondern sich selbst stark und mächtig vorkommen konnte. Diesen fand  der Neunzehnjährige in der virtuellen Fantasiewelt der Gewaltvideofilme und –clips. Auch das hätte keine Katastrophe auslösen müssen. Unsere Gesellschaft hatte ihm aber Zugang zu nicht virtuellen, sondern realen Waffen ermöglicht. So konnte er seine Wut über sein eigenes Versagen, seine Angst vor den Folgen, sein ihm selbst möglicherweise nur teilweise bewusster Zorn über die perspektivlose Zukunft in einer Welt der Massenarbeitslosigkeit, des Sozialabbaus, der Armut, der Lüge und Korruption, der ständigen Kriege, der Umweltzerstörung und der Entfremdung auf die destruktive Weise äußern, die ihm tagtäglich durch die Medien als "in der Ordnung und rechtens" vermittelt wurde: Längst war ihm vermittelt worden, dass Ordnung Sicherung der Interessen der Stärkeren bedeutet und dass das geeignete Mittel zur Wiederherstellung der "Ordnung" die brutale physische Gewalt ist. So werden milde wenn überhaupt bestraft brutale Ehemänner wegen ihrer Gewalttaten gegen ihre Frauen und Kinder, Grausamkeiten gegen Tiere, "Plattmacher" von Ausländern, Obdachlosen, Vergewaltigung und Missbrauch von Kindern, Herstellung von hard-core Pornos, usw. Gänzlich straflos gehen mächtige Staaten und Organisationen aus, wenn sie Menschenrechte mit Füßen treten, wie die NATO in Serbien, die US-Armee in Afghanistan, Scharons Krieger in den israelisch besetzten Gebieten, die deutschen Ausländerbehörden beim Abschieben von Asylantenkindern, die vorher monatelang im Knast gehalten werden. Das ist die Welt und ihre Normen, in der die junge Generation aufwächst. Gewiss ziehen nur wenige daraus die Schlussfolgerungen des Erfurter "Amokläufer" – aber die Zahl derer, die mit Gewalttätigkeiten auf den Zustand der Welt reagieren wächst allenthalben.  

Natürlich ist Ungerechtigkeit und Gewalt nichts Neues. Im Verlauf der menschliche Geschichte sind  soziale und politische Veränderungen stets mit Gewalt durchgesetzt bzw. verhindert worden. Die Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft ist eine Chronik der gewalttätigen Umwälzungen, in der stets die Stärkeren siegten. Auch die historische Episode des Realsozialismus ging einher mit Gewalttaten der Herrschenden gegen ihre Gegner, gegen ganze Völker und gegen die Natur.

Nur: im Verlauf der Geschichte hat es immer wieder Bemühungen gegeben, die Gewalt einzudämmen und an ihre Stelle Recht und Gesetz, also verbindliche Gesellschaftsverträge treten zu lassen. Auch diese waren bekanntlich nur bedingt "gerecht", zumindestens aber ermöglichten sie die Eindämmung der Willkürakte der Stärkeren gegenüber den Schwächeren. Diese zivilisatorische Leistung der Menschheit wurde und wird immer wieder gefährdet und infrage gestellt: Der Holocaust und die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki sind Marksteine dieser Gefährdung, und gleichzeitig Symbole für eine neue Qualität von Gewalt und Destruktivität in unserer Welt. Sie stellen leider nicht das Ende der Gefährdung, sondern eher den Auftakt einer Periode der Willkür und der Gewaltherrschaft der Starken über die Schwachen dar.

Was kann man tun, da es doch keine starke Bewegung der Schwachen gibt, die sich den Willkürakten der Starken in den Weg stellt und  Gerechtigkeit für die Schwachen einfordert, sondern nur wütendes Willkürakte der Unterlegenen, die sich wieder nur gegen Unschuldige richten?  Nicht viel, aber eben doch etwas: Immer wieder und bei allen Gelegenheiten, mit allen, die dazu bereit sind für zivilisierte, gewaltfreie, friedliche, gerechte Lösungen eintreten und sich stets gegen das demagogische Verwirrspiel wenden, durch das die Mächtigen uns einreden wollen, dass ihre Politik menschenfreundlich, ihre Kriege rechtens, ihre "Sparsamkeit" zu unser aller Nutzen sind und ihre Ordnung unsere Sicherheit befördert.     

Hanna Behrend

Es ist zweifellos notwendig, auch bei Vorgängen wie dem Erfurter Massaker aufklärend zu wirken, wenngleich das meist in Sisyphus-Arbeit ausartet. Zu der Arbeit gehört die von Diskussionsteilnehmern bereits skizzierte Argumentation, dass auch scheinbar unpolitische Geschehnisse Voraussetzungen in Politik und Gesellschaft haben, etwa den leichten Zugang zu Waffen, der hierzulande übrigens zuerst durch Verkäufe demoralisierter Sowjetsoldaten angebahnt wurde. Die Aufklärung muss meines Erachtens auch der absoluten Unzulänglichkeit des bisher erreichten Grades an „Zivilgesellschaft“ im BRD-Staat und folgenden Umständen gelten: „Unpolitische“ Vorfälle wie der Erfurter werden gleichfalls dazu genutzt, mehr staatliche Repression zu fordern. (Damit ist nicht die Einengung des Zugangs zu Vernichtungsmitteln gemeint, die dringlich ist, wohl aber sind es neue Überwachungsmaßnahmen gegen ganz andere Leute als die potentiellen und tatsächlichen Gewalttäter und dergleichen.) Die genannten Vorfälle werden oft so dargestellt, dass sie vom BRD-unterstützten Bush-Krieg gegen die Welt der „Schurkenstaaten“, von Scharons Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser usw. ablenken. Aufzuklären gibt es genug. Vielleicht kann steter Tropfen doch den Stein aushöhlen.

Manfred Behrend










 

GLASNOST, Berlin 1992 - 2019