|
Willi Géttel
Gedanken zur Strategiediskussion, I. Teil -
Sozialismus oder Industriefeudalismus?
Wenn etwas schwer zu fassen ist, dann ist es der Zustand der Linken nach dem
Zusammenbruch des "Realsozialismus". Wie dünn die Decke war, auf der sich bis
dahin alles Streben bewegte, zeigte nichts deutlicher als der darauf folgende
Zusammenbruch des Glaubens. Plötzlich galt der Sozialismus als historisch
widerlegt - als hätte der "Realsozialismus" erst durch sein Scheitern jene
Weihe erhalten, die man ihm zeit seiner Existenz doch nicht so recht geben
wollte. Eine alles erstickende Absurdität legte sich über die Diskussion. Es
wurde vorausgesetzt, der Sozialismus habe existiert. So war es nur
folgerichtig, das Verschwinden des für Sozialismus gehaltenen "Realsozialismus"
als letzten entscheidenden Beweis seiner Untauglichkeit zu werten. Diese
Verwechslung aber ist die Ursache sowohl einer alten als auch einer neuen
Misere.
Diese Verwechslung trug im Westen wesentlich dazu bei, das linke Lager nicht
nur in unzählige Einzelteile zu zerreißen, sondern es auch strategisch zu
desorientieren. So mannigfaltig ihre Ursachen aber sein mögen, das geringe
Interesse an marxistischer Theorie und Analyse trug einen hohen Anteil daran.
Dies wiederum läßt sich am ehesten damit erklären, daß die Realität des
"Realsozialismus" selbst demotivierend wirkte. Man stelle sich eine Jugend
vor, die aus spontaner Gesellschaftskritik heraus eine Alternative sucht und
dabei auf ein abschreckendes Beispiel stößt, das sich als sozialistisch
bezeichnet und dessen Ideologie dies begründet. So mag diese Jugend vielleicht
außerstande sein, deren Verzwicktheit zu entwirren, ihr Fühlen jedoch ertastet
viel sicherer den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Dabei geht
oft auch Wertvolles verloren, weil der Betrug sich vorzugsweise mit dem
Anschein des Echten schmückt. Die marxistische Theorie fiel dem zum Opfer,
wodurch die Möglichkeit ungenutzt blieb, dem Irrtum zu begegnen. Dies ist in
etwa das Bild der alten Misere.
Das Bild der neuen Misere drückt Lähmung aus. Das Abgelehnte, ja vielfach
Gehaßte existiert nicht mehr; es hatte nicht einmal geschichtlichen Bestand.
Dahingefahren ist damit auch die letzte Hoffnung, es irgendwann verbessern zu
können. Diese Lähmung ist der nicht mehr zu übertreffende Höhepunkt der
Verwechslung. Es wird keinen neuen Anfang geben, solange sie das politische
Denken der Linken beherrscht.
Spielarten der Verwechslung
Von der herrschenden Klasse zu erwarten, sie werde sich von einer bisher
erfolgreichen Strategie gegen die Linke durch deren Anpassung abbringen lassen,
ist naiv. Das kapitalistische System spaltet und zersplittert ununterbrochen
die Gesellschaft, so daß es ständig eine wie auch immer geartete Linke
hervorruft, die bekämpft wird, auch wenn der höchste Ausdruck ihres
Widerstandes nur noch darin besteht, sich die Augenbrauen abzurasieren.
Sie wird nicht nur dabei bleiben, daß es sich um den auf Marx und Engels
zurückzuführenden Sozialismus gehandelt habe. Sie wird nicht ruhen, solange es
ihr nicht gelungen ist, dieses "Unrechtssystem" mit den Exzessen der
Nazidiktatur gleichzusetzen. Auf diese Weise hofft sie, die sozialistische
Idee in einem rotbraunen Cocktail aufzulösen und zugleich die eigene Geschichte
zu bereinigen. Vor diesem Hintergrund muß eine paralysierte Linke wie ein
unter erdrückender Beweislast zusammengebrochener Angeklagter wirken, ihr
Schweigen wie ein Geständnis.
Hilfloses Schweigen und gezielte Verwechslung sind altbekannte Spielarten. Neu
ist eine denunziatorische Beflissenheit, die sich auf die Seite der Anklage zu
retten sucht und ihre kontraproduktive Rolle als linke Politik verbrämt. Es
sind die Repräsentanten der PDS, die sich als Kronzeugen anbieten, wobei
allerdings noch nicht geklärt ist, ob sie sich ihres Treibens bewußt sind. Sie
behaupten schlankweg, der Sozialismus habe existiert. Doch im Gegensatz zu
damals, als sie ihn als SED-Funktionäre noch lobten, machen sie ihn heute
schlecht. Und weil er eben schlecht war, werben sie nun für einen neuen
Gesellschaftsvertrag. Das wirft natürlich die Frage auf, in welchem Milieu ihr
Denken geprägt wurde.
Soll dieses Milieu, sollen diese Verhältnisse sozialistisch gewesen sein? Hier
zeichnet sich das Ausmaß der Absurdität schon deutlicher ab. Hier erhebt sich
wider alle Vernunft eine bizarre, dreiste Behauptung. Die Gleichsetzung des
stalinistischen Systems mit dem noch niemals verwirklichten Sozialismus als
Träger der humanistischten Idee ist der Versuch, die Vernunft selbst zu
zerstören.
Wie das mitunter vonstatten geht, demonstrieren Gysi und die Brüder Brié in
ihrer Antwort an Branstner ("Neues Deutschland" 8./9. April 1995, Seite 10).
Sie schreiben: "Am Rande wollen wir anmerken, daß wir den Begriff des
Klassenkampfes auch aus terminologischen Gründen nicht verwenden. Er hat sich
durch stalinistische und poststalinistische Praxis unumkehrbar vom Marxschen
Klassenkampfbegriff entfernt."
Naheliegend wäre, den Marxschen einfach wieder zu verwenden. Doch folgt man
dieser Mixtur aus marzahnischer Advokatenlogik und Polit-Dadaismus, verlöre
beispielsweise ein ahnungsloser Arzt "unumkehrbar" seine medizinischen
Fähigkeiten allein dadurch, daß sich ein pfuschender Betrüger seines Namens
bedient.
Wie offen noch die Wunden sind und wie folgenschwer sich derartige Verdrehungen
auswirken könnten, verdeutlicht die Schlußbetrachtung eines Artikels in der
linken Zeitschrift "Arranca!" Nr. 6/95. Da heißt es auf Seite 21: "Heute
dagegen scheint der Sozialismus besiegt und unattraktiv. Das liegt nicht
hauptsächlich an der massiven Medienpropaganda und der Wohlstandszufriedenheit
in den reichen Ländern, sondern vor allem an der Geschichte des linken Projekts
selbst. Der Sozialismus gilt heute als das Modell eines totalen Staates, in
dem die allmächtige Partei dem Individuum die Luft zum Atmen nimmt. Kein
Wunder, daß dafür fast niemand mehr kämpfen will."
Gysis Haltung dazu ist klar: "Wer den Sozialismus leugnet, versucht aus der
Geschichte zu flüchten", wird er im "Neuen Deutschland" (Nr. 29./30.Mai 1993)
zitiert.
Gegenüberstellungen
In einem Gespräch mit der "Wirtschaftswoche" (Nr. 17/20. 4.1995) weist der
Soziologe Ulrich Beck die "Sehnsucht nach der starken Hand" zurück und betont
die Notwendigkeit von Freiheit und Demokratie als Grundlage schöpferischer
Weiterentwicklung und höherer Produktivität. In dieser Frage hat Beck
unbedingt recht: Repressive Systeme töten auf Dauer jede Kreativität ab und
verlieren damit ihre gesellschaftlichen Erneuerungskräfte. Ihre Produktivität
sinkt. Dies wiederum führt zur weiteren Verschärfung der staatlichen
Repression und damit in die berühmte historische Schieflage, in der sie mit
wachsender Geschwindigkeit zerfallen.
Becks oben genannte Ansicht ist wesentlicher Bestandteil sozialistischer
Zielsetzung, obwohl er selbst wohl kein Sozialist ist. Er spricht vom
"Zusammenbruch des Sozialismus" und führt auf Seite 54 aus: "...das System war
der Versuch, soziale Sicherheit ohne Freiheit zu verwirklichen. Dieser Versuch
ist gescheitert." So exakt Beck aber den letalen Systemwiderspruch des
"Realsozialismus" erfaßt, so sehr ist er Opfer der Verwechslung, die ihn davon
abhält, diesem Gedanken weiter nachzugehen. Es war nämlich die im Verhältnis
zum Westen unterentwickelte Produktivität, die keine Freiheit zuließ, durch die
wiederum eine höhere Produktivität erst stimuliert worden wäre. Hätte er Marx
zu Rate gezogen, hätte er erfahren, daß eine dem Kapitalismus unterlegene
Arbeitsproduktivität nicht das Merkmal einer sozialistischen Gesellschaft ist.
Im "Vogtlandboten" (3. Jhg. Nr. 4, April 1995) schreibt MdL Dr. Monika
Runge aus Leipzig: "Die Frage, ob das Gesellschaftssystem, welches in den
osteuropäischen Ländern existierte, Sozialismus war oder ob gar kommunistische
Revolutionen stattfanden, ist für eine sozialistische Partei keine beliebige
Frage."
Wie hart Monika Runge am Kern der Sache liegt, wird deutlich, wenn nun zwei
Positionen direkt gegenübergestellt werden. Die eine stammt von Prof. Klaus
Kisker, die andere vorzugsweise von Gregor Gysi:
In einem Referat, das Kisker am 13. Februar 1991 in Berlin-Dahlem hielt und
das in einem Rundbrief des "Marxistischen Arbeitskreises" der SPD
veröffentlicht wurde, sagt er folgendes: "Aber die große Koalition von Jelzin
über Glotz, Lafontaine und Blüm bis hin zu den sogenannten Neokonservativen,
alle, die heute von dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus sprechen,
machen zwei bemerkenswerte Fehler: Sie übersehen, daß nicht der Sozialismus,
sondern eine Mischung aus Feudalismus mit sozialistischen Versatzstücken in
eine Krise geraten ist und sie leisten eine beachtliche Verdrängungsarbeit,
indem sie die Warnsignale, die das Ende der zivilisatorischen Funktion der
kapitalistischen Systeme anzeigen, übersehen."
Im "Neuen Deutschland" vom 12. April 1995 wird Gysi auf Seite 5 aus einem
Streitgespräch zitiert, in dem es um die Eigentumsfrage geht: "... dem habe
Gysi entgegen gehalten, daß der Sozialismus sich trotz wichtiger Fortschritte
nicht als Alternative durchsetzen konnte. Im Sozialismus ist die
Eigentumsfrage rigoros entschieden worden. Eine wirkliche Alternative für das
jetzige System stehe noch aus, meinte Gysi. Sozialismus bleibe weiter das Ziel
der PDS. Auf längere Sicht sehe er aber keine Chance für dieses Ziel."
Insofern ist Gysi konsequent; denn wenn er den gescheiterten "Realsozialismus"
unter Aufbietung seiner geistigen Kräfte für Sozialismus hält, muß er von
diesem Ziel ablassen. Was ihn allerdings bei dieser Einstellung veranlaßt,
einer sozialistischen Partei mit seinen Geistesblitzen voranzugehen, sollte er
seiner zutraulichen Basis bei Gelegenheit einmal verklickern.
Zwischenbilanz
Bei der Frage, wie nun eine tragfähige Ausgangsposition für eine sozialistische
Strategie des 21. Jahrhunderts zu erarbeiten ist, genügt es nicht, die
behauptete Existenz des Sozialismus unter Hinweis auf die von den marxistischen
Klassikern erarbeiteten Kriterien nur zu verneinen, obwohl das für die Analyse
unerläßlich ist. Wenig geeignet ist, den Widerspruch nur formal aufzuheben,
also die behauptete Existenz zu verneinen, um das Ziel neu anstreben zu können.
Es gilt herauszuarbeiten, daß dieser "Realsozialismus" nicht etwa nur ein
unvollständiger Sozialismus war, der unter Umständen noch eine Chance gehabt
hätte. Die strategische Blockade läßt sich nur überwinden, wenn sich erweist,
daß es sich um eine nichtprogressive Formation gehandelt hat, deren Weg in die
historische Sackgasse vorgezeichnet war und die zu keinem Zeitpunkt auch nur
die geringste Ähnlichkeit mit dem hatte, was in der marxistischen Theorie als
Sozialismus definiert wird.
Denn gehen wir davon aus, welch eine zentrale Rolle die Entwicklung der
Produktivkräfte in der marxistischen Theorie spielt und schauen wir uns an, aus
welchen Bedingungen dieser angebliche Sozialismus gestartet ist, ergibt sich
ein Bild, das eine nähere Betrachtung verdient.
Tatsächlich wirft aber auch die Analyse der aktuellen kapitalistischen
Entwicklung zwingend die Frage auf, wann denn jemals all die technologischen
Revolutionen, Innovationen und Rationalisierungsschübe, eben die im modernen
Kapitalismus rasant vorangeschrittene Produktivkraftentwicklung dem
"Realsozialismus" entweder vorausgegangen ist oder wenigsten während seines
Bestehens stattgefunden hat, die nach Marx erst die objektiven Bedingungen für
den Übergang zum Sozialismus bildet. Hier sind wir wieder bei jenem berühmten
Satz von ihm, den der Geschichtsverlauf nun auch bestätigt hat: "Eine
Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt
sind, für die sie weit genug ist, und höhere Produktionsverhältnisse treten nie
an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der
alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind."
Angesichts der eklatanten ökonomischen und politischen Rückständigkeit auf der
einen Seite und der marxistischen Vorstellung auf der anderen, daß Sozialismus
nur eine dem Kapitalismus überlegene Formation sein könne, muß doch endlich
einmal in aller Konsequenz der Frage nachgegangen werden, warum denn
ausgerechnet das Gegenteil davon als Sozialismus gehandelt wird. Die
sozialistische Bewegung steht vor drei konkreten Aufgaben: 1. die Verwechslung
zu überwinden; 2. die Analyse des Kapitalismus auf einen aktuellen Stand zu
bringen; 3. den Ausblick zu skizzieren und die Strategie zu entwerfen.
Formations- und Sozialismusbegriff
Der Marxsche Formationsbegriff umreißt die Gesamtheit der
Produktionsverhältnisse, also der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, der
realen Basis und des juristischen und politischen Überbaus. Aus ihm ergibt
sich, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein der Menschen bestimmt. Das
bedeutet für die Methodik, daß eine Epoche von ihrer ökonomischen Basis her
aufzuschlüsseln ist.
"In großen Umrissen", schreibt Marx im Vorwort "Zur Kritik der Politischen
Ökonomie", "können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche
Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Formationen
bezeichnet werden."
Dies ist eine Absage an jeden Geschichtsautomatismus. Der dialektische Lauf
der Geschichte impliziert demnach "nichtprogressive" Epochen. Folgen wir den
Klassikern, daß sich Sozialismus nur im Weltmaßstab und nur dann durchsetzen
läßt, wenn das kapitalistische Sytem zur Fessel weiterer
Produktivkraftentwicklung geworden ist, ist festzustellen, daß der
"Realsozialismus" nicht von diesen Bedingungen ausgegangen ist.
"Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker auf
einmal und gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der
Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt" (
K.Marx, F.Engels: Deutsche Ideologie, Ausgewählte Werke, Bd. I. Seite 226).
Für die definitorische Eingrenzung des Sozialismusbegriffs ließen sich auf der
Grundlage der Arbeiten von Marx und Engels folgende Kriterien ableiten:
a) Höhere Entwicklung der Produktivkräfte, also höhere
Arbeitsproduktivität als der Kapitalismus.
b) Tendenz zur Aufhebung der Arbeitsteilung, damit die Befreiung des
Individuums als reines Anhängsel des Produktionsapparates (freie
Wahl des Arbeitsplatzes und Freizügigkeit).
c) Tendenz zur Aufhebung der Unterschiede zwischen Stadt und Land.
d) Tendenz zur Aufhebung der Unterschiede zwischen körperlicher und
geistiger Arbeit.
e) Staatliche Tätigkeit nur, um die Überführung der Produktion in
unmittelbare Selbstverwaltung der Gesellschaft zu erreichen
(Absterben des Staates).
f) "Höhere" Form der Demokratie (Presse-, Versammlungs- und
Wissenschaftsfreiheit, Streikrecht usw.).
War oben davon die Rede, daß eine Epoche von ihrer ökonomischen Basis her
aufzuschlüsseln ist, gilt dies auch für die Analyse des "Realsozialismus".
Die politische Realität des stalinistischen Systems
Gehen wir nun zur Wirklichkeit dieses Systems über, läßt sich feststellen, daß
es das Resultat einer gescheiterten Revolution ist. Als Stalin den noch von
Lenin eingeleiteten Versuch abbrach, durch Nachholen der kapitalistischen Phase
(NEP) die Produktivkräfte zu entwickeln, war Rußland ein Land, das sich
objektiv noch nicht sehr weit von seiner feudalistischen Vergangenheit entfernt
hatte, seine Strukturen in vieler Hinsicht noch feudalistisch waren.
Auf diese archaischen Zustände, auf dieses von Welt- und Bürgerkrieg
zurückgeworfene Land wandte Stalin seine "Theorie vom Sozialismus in einem
Land" an. Diese Theorie hatte nichts mit der marxistischen gemeinsam. In
ihrer praktischen Anwendung bedeutete sie die Durchführung der ursprünglichen
Akkumulation mit äußerster Gewalt. Terror und Gewalt waren somit die Mittel,
mit denen Stalin seine Herrschaft antrat. Es ist der Widersprüchlichkeit der
russischen Revolutionsgeschichte zuzuschreiben, daß es Stalin gelang, sein Werk
als die Fortführung der Revolution Lenins auszugeben. Anders wäre nicht zu
erklären, warum sich dennoch ein ungeheurer Idealismus freisetzte, der den
maßlosen Terror zunächst überdeckte
Es kann aber nur dieser Idealismus gewesen sein, der Stalins Werk zunächst
gedeihen ließ. Terror allein hätte nicht gereicht. Die Industrialisierung
Rußlands war eine gigantische Leistung. Es darf jedoch nicht übersehen werden,
daß sie nichts Neues schuf, sondern nachholte, was es im entwickelten Westen
längst gab. Aber hinter diesem für die Verhältnisse Rußlands wahrhaft
titanischen Werk wütete eine blutige Despotie, die das Volk mehr und mehr in
Lethargie und Angst trieb. Die vom Zarismus übernommenen Herrschaftsstrukturen
trugen nun zwar neue Bezeichnungen, unterschieden sich von ihm aber oft nur
dadurch, daß sie noch schlimmer waren. Rußland machte zwar einen gewaltigen
Sprung in seiner Entwicklung, aber die Hoffnungen der Revolution erfüllten sich
nicht. Im weiteren Verlauf starb der Idealismus ab. Allein beherrschendes
Element blieb der Terror. Noch einmal, und zwar nach dem faschistischen
Überfall, entstand eine von Idealismus getragene Initiative. Aber schon bald
setzte die Agonie des Systems ein.
Stalins Tod 1953 beendete zwar die Formen äußersten Terrors; dennoch blieb die
Sowjetunion bis zu ihrem Ende ein System der Unfreiheit und politischen
Unterdrückung. Das Stalinsche Gesellschaftsmodell sollte der Versuch sein, den
Sozialismus unter Umgehung der kapitalistischen Epoche zu errichten.
Der eigentliche Preis dafür lag lange in den verborgenen Schichten des Systems.
Der Aufbau des Sozialismus in einem Land, und nach dem 2. Weltkrieg in einer
Zone, erschöpfte die Kräfte sowohl der sowjetischen als auch der anderen Völker
des "Realsozialismus". So war der Preis nichts anderes als der tödliche
Systemwiderspruch selbst.
Bei den sogenannten Bruderländern muß vieles anders bewertet werden, besonders
in der CSSR und der DDR, die zuvor zum Westen gehörten und weit höher
entwickelt waren. Aber die Satelliten der SU waren sowohl Instrumente ihrer
Außenpolitik als auch Objekte ihrer Wirtschaft. Auf Dauer breiteten sich
Auszehrung und Stagnation über den gesamten Ostblock aus. Es war nur
folgerichtig, daß die sterbende SU auch den "Realsozialismus" ihrer Satelliten
beendete. Ziehen wir ein vorläufiges Resümee, läßt sich feststellen, daß es
zwar anfangs gelungen war, enorme industrielle Leistungen zu vollbringen, die
politischen Errungenschaften aber weit hinter denen der
bürgerlich-demokratischen Revolution zurückblieben. So brachte das Stalinsche
System eine nichtprogressive Epoche hervor.
Widerspruch und Sackgasse
Wir haben oben gesehen, daß Marx und Engels völlig andere Ausgangsbedingungen
setzten, die im Jahre 1917 nicht vorhanden waren, und schon gar nicht in
Rußland. Stalin ging wohl davon aus, daß der Aufbau des Sozialismus im
isolierten und rückständigen Rußland möglich sei. Er mag vielleicht sogar
angenommen haben, daß, wenn der Anschluß an die Entwicklung des Westens
erreicht worden ist, Druck und Gewalt nicht mehr notwendig wären. Betrachten
wir noch einmal das Jahr 1917, ist leicht zu erkennen, daß in diesem Jahr
sowohl der Zarismus untergegangen als auch die sozialistische Revolution
proklamiert worden ist. Lenins Konzept der Revolution in Permanenz, also
zunächst der Vollendung der bürgerlichen Revolution, wurde von Stalin nicht
weiterverfolgt. Lenin war trotz mancher Spekulation in seinen strategischen
Erwägungen klar, daß es keinen direkten Weg zum Sozialismus geben könne.
Stalin aber ging den direkten Weg. Es gab also keine vollendete bürgerliche
Revolution, damit auch keine im politischen Leben verankerten bürgerlichen
Freiheiten. Was Rußland kennzeichnete, waren nicht die demokratischen
Errungenschaften der bürgerlichen Epoche, sondern die immensen Rückbleibsel des
Feudalismus. Dies war der Zustand, aus dem Stalin sein Land in den Sozialismus
treiben wollte. Begünstigt wurde dieses Unterfangen durch den noch lebendigen
Geist der Oktoberrevolution, der Quelle des oben erwähnten Idealismus.
Aber was wurde - genauer betrachtet - erreicht? Die Industrialisierung war
erreicht, aber die Kräfte des Volkes waren erschöpft. Von einem Wohlstand der
Massen konnte keine Rede sein. Und mit dem Nachlassen der Begeisterung
stagnierte auch die industrielle Entwicklung. Was war geschehen?
Der Versuch, Sozialismus aus dem Boden zu stampfen, war gescheitert, weil die
systembedingte Unfreiheit nun anfing, auf das Stalinsche System
zurückzuschlagen; abgesehen von all den inneren und äußeren ungünstigen
Faktoren, die hier nicht weiter behandelt werden können.
Stalins Modell trug nur eine begrenzte Entwicklungspotenz in sich. Der
Systemfehler war von vornherein installiert. So ergab sich ein kritischer
Punkt, von dem ab gesellschaftliche Erneuerungskräfte notwendig gewesen wären.
Aber der Idealismus war aufgezehrt. Aus Zwang und Terror heraus konnte nichts
mehr gedeihen. Die Wirtschaft war in einen stumpfsinnigen Trott
gefallen,unfähig, aus ihrem expansiven Zustand herauszukommen. Es wurden zwar
gewaltige Mengen produziert, aber mit einem ebenso gewaltigen Aufwand und einer
noch gewaltigeren Ressourcen-und Naturvernichtung. Der dumpfe
bonarpartistische Polizei- und Militärstaat Stalins erwürgte die
gesellschaftliche Kreativität. Der für die weitere Entwicklung notwendige
qualitative Sprung zur intensiven Wirtschaftsweise und damit zur Steigerung der
Arbeitsproduktivität konnte sich in diesem Klima nicht freisetzen.
In dem Maße, in dem sich der Systemwiderspruch seinem Kulminationspunkt
näherte, stagnierte die gesamte Entwicklung. Und jenseits dieses Punktes
setzte der allgemeine Zerfall des Systems ein. Die Schieflage war entstanden.
Immer wieder ist heute zu hören, es hätte anders kommen können, es wäre möglich
gewesen, doch noch die Produktivität zu steigern und auf dieser Grundlage
demokratische Verhältnisse zu schaffen. Aber alle zur Verfügung stehenden
Mittel - vor allem subjektive und außerökonomischer Zwang - wurden eingesetzt!
Es ist aber das Unsinnigste überhaupt, darauf zu beharren. Es zeigt nur, wie
stark immer noch die Illusion wirkt, mit der sich der "Realsozialismus" nährte.
Am Ende nutzte auch die allmächtige Geheimpolizei nichts mehr - im Gegenteil:
Ihre Tragödie bestand darin, daß sie vorantrieb, was sie eigentlich verhindern
wollte. Der Widerspruch zwischen den reaktionären politischen Verhältnissen,
die sich verselbständigt hatten, und den ökonomischen Erfordernissen sprengte
das stalinistische System kurz vor Ausgang des 20. Jahrhunderts auseinander.
Die historische Sackgasse wurde offenkundig.
Was war es nun?
Feudalismus vor dem Hintergrund industrieller Entwicklung zu behaupten, ist ein
Wagnis. Aber jede historische Epoche trägt auf der Grundlage ihrer
ökonomischen Entwicklung politische Merkmale. Herrschaftliche Willkür
kennzeichnete den Feudalismus. Die bürgerliche Demokratie ist Ausdruck des
Kapitalismus. Und die sozialistische Demokratie wäre Ausdruck des Sozialismus.
Sehen wir uns den "Realsozialismus" unter diesem Aspekt an, sehen wir neben
seiner erreichten Industrialisierung zugleich aber auch seine vorbürgerlichen
politischen Verhältnisse. Seine politische Realität läßt sich beim besten
Willen nur mit feudalen Zuständen vergleichen. Reiseverbot, Paßentzug,
Arbeitszwang, Mauer, Bevormundung usw. waren konkret. Das vom Rest der Welt
abgeschlossene Industrieterritorium der "realozialistischen" Länder läßt sich
unbedingt mit der Schollengebundenheit des Feudalismus vergleichen.
Konkret blieb es eine Ausbeutergesellschaft. Sozialistisches Eigentum
existierte nicht. Der staatliche Besitz trug die irreführende Bezeichnung
"Volkseigentum". Die Verfügungsgewalt aber hatte die Partei, die
uneingeschränkt darüber herrschte, und zwar als institutionalistisches,
kirchenähnliches Gebilde, was übrigens ebenfalls eher an Feudalismus erinnert.
Der "Realsozialismus hat den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus
verzögert, an dessen unterem Ende er nach seinem Scheitern gelandet ist.
Bisher ist der Streit ohne geeignete Gegenposition geführt worden, so daß der
Begriff "Stalinismus" ohne Bezug blieb. Stalinismus war aber nicht nur Terror,
Verbrechen, reine Erscheinung. Stalinismus war die Konzeption, die dieses
Gemisch aus Feudalismus und Industrialisierung hervorbrachte. Das Resultat
seines Wirkens läßt sich daher am ehesten als "Industriefeudalismus"
bezeichnen. Das aber mit Sozialismus zu verwechseln, ist absurd.
© Willi Géttel, Berlin 1995
Fortsetzung Teil II


|
|