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Beiträge zur Theorie  










Martin Blumentritt

Zu K. R. Poppers "Kritischer Rationalismus" - Teil 8

Das bedeutet allerdings einen Realitaetsverlust der Theorie. Man kann nicht die unmittelbare, konkret vorliegende Wirklichkeit, direkt mit einem objektiv Notwendigen konfrontieren. Dann waeren tatsaechlich die Handlungen der Individuen vollstaendig unfrei und sie waeren reine Marionetten von Funktionszusammenhaengen, von denen sie sich dann auch niemals befreien koennten.

Wie ist denn nun das Verhaeltnis von Notwendigkeit und Wirklichkeit zu begreifen, wenn nicht deterministisch (in den drei Varianten: dogmatisch, skeptisch oder kritisch rationalistisch)? Ohne einen Begriff von Moeglichkeit sind wir nicht in der Lage, Notwendigkeit zu begreifen. Wirkliche Ereignisse muessen moeglich sein. Z.B. ist es nicht moeglich sich vom Dach eines Hochhause zu stuerzen und dann gemaechlich und heil unten anzukommen. Das Fallgesetz z.B. gibt die notwendige Regel an, nach der eine Sache geschehen kann, naemlich der Fall. Das Gesetz, das notwendige Verhaeltnis gibt also eine Moeglichkeit an. Es wird nicht angeben, ob eine Sache auch tatsaechlich geschieht. Ob es also eine Wirklichkeit im Sinne einer realisierten Moeglichkeit gibt, laesst sich aus dem Gesetz gar nicht ableiten.

Daraus laesst sich allerdings auch nicht das Gegenteil erschliessen, dass alles zufaellig sei. Das ist der Mangel aller Theorien, die die Wirklichkeit als jeweils unmittelbare nehmen. Dann fallen Moeglichkeit und Wirklichkeit nur per accidens (durch zufaelliges Zusammentreffen) zusammen. Denn wenn es in der Zukunft doch noch Faelle geben koennte, die ein Gesetz falsifizieren, dann ist die Wirklichkeit der Erkenntnis nur noch zufaellig.

Die Wirklichkeit ist aber nur zufaellig im Sinne der realisierten Moeglichkeit. Die Moeglichkeit selber ist aber keinesfalls zufaellig. Wir koennen durch naturwissenschaftliche oder durch historische Forschung herausfinden, was moeglich und was nicht moeglich ist und zwar mit absoluter Notwendigkeit. So ist es fuer eine Gesellschaft z.B. unmoeglich zu existieren, wenn nicht in irgendeiner Form ein Aneignungsprozess der Natur stattfindet, vom Sammeln und Jagen, Arbeiten bis hin zur wissenschaftlich-technischer Aneignung von Natur. Daher ist fuer die Gesellschaftswissenschaft eine Analyse der gesellschaftlichen Formen und Funktionen der Naturbeherrschung notwendig. So gibt der Stand der Produktivkraefte an, was im Prinzip produziert werden kann. Ob dieses auch geschieht, ist eine weitere Frage. Produktivkraefte haben ja nur den Status der Moeglichkeit. Sie muss erst in einer bestimmten Form von Produktionsverhaeltnissen realisiert werden, um zu existieren. Diese begrenzen noch einmal die Entfaltungsmoeglichkeiten der produktiven Kraefte.

Popper reflektiert auf diese Problematik nur sporadisch im Zusammenhang mit dem Problem des Determinismus und Indeterminismus, wobei er, wie wir schon wegen seines Falsifikationismus ahnen, er die letztere Position einnimmt:

"Ich bin ..ein physikalischer Indeterminist: der physikalische Indeterminismus ist fuer mich eine notwendige Voraussetzung fuer jede Loesung unseres Problems. Man muss Indeterminist sein; doch ich werde zu zeigen versuchen, dass das nicht genug ist."(Objektive Erkenntnis S.252)

Den Indeterminismus laesst er nur fuer die Quantenmechanik rein gelten, dass das problematisch ist, muesste man in einer Heisenbergkritik darlegen, worauf ich jetzt verzichte. Popper sucht tatsaechlich etwas "zwischen reinem Zufall und reinem Determinismus"(a.a.O. 254) "Wir moechten ja wissen, wie nichtphysikalische Dinge wie Zwecke, Ueberlegungen und Werte physikalischer Aenderungen in der physikalischen Welt herbeifuehren koennen."(ebenda)

Popper will dazu eine "Steuerungstheorie" einfuehren, wie sie bei Descartes Zirbeldruesentheorie vorliegt(S.258), das war der Punkt in dem res cogitans und res extensa, denkende und ausgedehnte Substanz zusammenkommen sollten, der auf Descartes folgenden Okassionalismus hatte ja dann Gott fuer das Zustandekommen der Uebertragungg von Denken in die ausgedehnte Welt der Physik einfuehren muessen. Das Leib-Seele- Problem stellt sich also Popper, um das Determinismusproblem zu loesen, das aus seiner zu engen Kopplung von Notwendigkeit und Wirklichkeit folgt. Die dialektische Theorie hat damit ja keine Probleme, weil sie der Notwendigkeit die Modalitaet der Moeglichkeit zuschreibt, nicht der Wirklichkeit, die aus einer Einheit von Zufall und Notwendigkeit besteht.

Popper loest das Problem in Objektive Erkenntnis nicht befriedigend, wie er selbst meint. Es ist auch unter Beibehaltung seiner Praemissen nicht loesbar, wie ich zu zeigen versuchte. Spaeter sieht er sich zu immer neuen Modifikationen seiner Theorien gezwungen, so in der Zusammenarbeit mit Eccles. Er fuehrt eine Dreiwelten-Theorie ein, nach der es eine physikalische, die psychische und eine 3.Welt, eine Welt der "Erzeugnisse des menschlichen Geistes, wie Erzaehlungen, erklaerende Mythen, Werkzeuge, wissenschaftliche Theorien (wahre wie falsche), wissenschaftliche Probleme, soziale Einrichtungen und Kunstwerke."(Popper/Eccles, Das Ich und sein Hirn, S.64)

Die "Gegenstaende der Welt 3" koennen ihm zufolge auch der Welt 1 angehoeren, weil sie physikalische Gegenstaende sind. Wie problematisch die Trennungen auch sind, Poppers Betrachtung beruehrt sich partiell mit der der dialektischen Theorie, die ja auch von einer 2.Natur spricht, allerdings nicht im Sinne einer Mehrweltentheorie und davon ausgehen, dass die Formen menschlicher Praxis sich verselbstaendigen. (Die popperianisch angehauchte Theorie von Habermas beruft sich sodenn auch darauf.)

"Natuerlich sind Theorie Produkte menschlichen Denkens (oder, wenn man will, menschlichen Verhaltens - ich moechte nicht um Worte streiten). Dennoch haben sie einen Grad an _Autonomie_: sie koennen objektive Konsequenzen haben, an die bis dahin niemand gedacht hat und die _entdeckt_ werden koennen, entdeckt im gleichen Sinne, in dem eine existierende, aber bisher unbekannte Pflanze oder ein unbekanntes Lebewesen entdeckt werden kann. Man kann sagen, dass Welt 3 nur zu Anfang Menschenwerk ist, und dass Theorien, wenn sie einmal da sind, ein Eigenleben zu fuehren beginnen: sie schaffen unvorhergesehene Konsequenzen, sie schaffen neue Probleme."(a.a.O. S. 65)

Dies beruehrt in Manchem die von Marx aufgewiesene Problematik des Warenfetischismus. Geld ist ja so etwas wie das, was Popper der Welt 3 zuordnet, es ist verdinglichte, fetischisierte Praxis, die an Dingen erscheint und die doch sich von den Intentionen und Einblicken der Agierenden verselbstaendigt.

Allerdings schreitet Popper dann nicht wie Marx oder die Kritische Theorie fort zu einer Kritik von Prozessen, die sich verselbstaendigt haben, um diese wieder in die selbstbewusste Taetigkeit zurueckzuholen und bewusst zu gestalten (Kritik der Entfremdung und Verdinglichung).

Popper hatte schon mit seiner Geschichtsphilosophie des trial-and- error, die von der Amoebe bis Einstein einen Fortschritt sieht, die Erkenntnistheorie in Erkenntnispsychologie oder -biologie hinabgezogen. Das treibt er in der Diskussion mit Eccles weiter. Damit naehert er sich in Manchem den alten logischen Positivisten wieder. Auch beruehrt er das Problem der Induktion in einer Fussnote: "Es wird nicht behauptet, dass etwa Induktion, weil sie logisch ungueltig ist, in der Psychologie _a priori_ nicht existiert, sondern einfach, dass wir _versuchen_ sollten festzustellen, ob Psychologie ohne Induktion funktioniert."(a.a.O. S. 511)

Das ist fuer einen Erkenntnistheoretiker starker Tobak, Psychologie a priori! Die Erkenntnistheorie hat mit solchen Fragen nichts zu tun, sondern handelt von Geltungsfragen, der Frage quid juris. Denn die Psychologie ist selber eine Erfahrungswissenschaft, die Bedingungen unterliegt, die vorausgesetzt sein muessen, damit Erkenntnis zustande kommt. Sie setzt die Erkenntnistheorie, die sie sein will bereits schon voraus. Damit ist das Unternehmen tautologisch.

Kant hatte die Wissenschaften zum Ausgangspunkt genommen und per Abstraktion alles abgesondert, was sich auf Erfahrung zurueckfuehren laesst, was auf Sinnesdaten angewiesen ist. Davon ist ja nur empirische Erkenntnis moeglich. Von der Form her aber schreibt der Verstand Kant zufolge den Gestaenden die Gesetze vor. Dass wir ohne Anwesenheit von realen Gegenstaenden uns diese vorstellen koennen, beweist das. Es bedarf demnach einer Vermittlung von reiner analytischer Logik und Anschauung, was bei Kant durch den Schematismus der reinen Verstandesbegriffe geleistet wird. Die Welt fuegt sich ja ohne weiteres unseren Vorstellungen, wir koennen mit ihnen die Natur aneignen und veraendern. Die Natur wird aus einem Ansich fuer uns, indem wir selber die Erscheinungen hervorbringen, die wir vorher im Gemuet ante-zipiert haben, vorweg-genommen haben. Im Gegensatz zu Kant ist allerdings von einer Historizitaet des A priori, der Ueberempirischen Bedingungen der Moeglichkeit von Erfahrung auszugehen, die jeweils in Bezug auf die Natur und die Ordnung der Welt, unterschiedliche Schemata hervorbringen, die man aus ihrer Anwendung auf das Material der Erkenntnis zu rekonstruieren kann, so unterscheidet das magische Schema sich von den verwandtschaftlichen usw. Diese ueberempirischen Denkformen biologisch, physiologisch, soziologisch usw. herzuleiten, wuerde eine bereits schon unter den Erkenntnisbedinungen Stehendes, Vermitteltes zum Ersten erheben. Dies wiederholt positivistisch die Aporien der traditionellen Metaphysik, die stets die Supposition eines Zweiten fuer eine Erstes betrieb.

Somit faellt auch der Poppersche "kritische Rationalismus" in den selben Irrationalismus zurueck, ist also weder kritisch, noch rationalistisch.

Ich breche vorlaeufig die Diskussion ab, da das Grundlegende abgehandelt ist und der Rest leicht aus dem Vorhergehenden abzuleiten ist, inder Hoffnung, das die Staerken Poppers nicht in der Kritik untergegangen ist und gezeigt worden ist, dass das Lesen Poppers nicht bloss dazu dient, nichts daraus zu lernen und das was man kritisiert, ausschliesslich fuer falsch zu halten. Die Kritik des Falschen als falsche Ansicht des Wahren, ist immer auch "rettende Kritik" (Walter Benjamin).

© Martin Blumentritt, Hamburg 1995


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