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Beiträge zur Geschichte  









Wolfgang Bernhagen

War der Untergang der DDR vorprogrammiert?

Wenn wir uns diese Frage vorlegen, so müssen wir sie heute mit 'ja' beantworten. Selbst ein solcher Politiker wie Peter Florin, einst für die DDR in der Außenpolitik tätig, mußte in einem Gespräch mit Wolfgang Leonhard bekennen: "Daß die DDR sich überhaupt 40 Jahre halten konnte, ist ein Wunder."(1) Hans Modrow, einst erster Sekretär der Bezirksleitung Dresden der SED und Nachfolger Willi Stophs als Ministerpräsident der DDR, äußerte sich wie folgt im Zusammenhang mit der Initiative 'Deutschland ewig Vaterland': "Was damals schwer zu begründen war, hat der Verlauf der Geschichte bestätigt. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten stand schon auf der Tagesordnung. Deshalb konnte die Initiative keine Flucht nach vorne sein, es ging vielmehr darum, nicht hinter der Entwicklung zurückzubleiben. Auch eine Dolchstoßlegende läßt sich aus dieser Initiative nicht ableiten. Die DDR hätte aus eigener Kraft noch das Jahr 1991 erreichen können."(2)

Die Ursachen für den Zusammenbruch der DDR und auch darüber hinaus des gesamten 'real existierenden Sozialismus' werden von einigen Autoren oft an Einzelpersonen festgemacht. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Name Michail Gorbatschows.(3) Für die DDR soll es Günter Mittag gewesen sein.(4) Andere wieder suchen die Gründe für den Zusammenbruch in anderen Faktoren. Jürgen Kuczynski beispielsweise meint: "Die Deutsche Demokratische Republik ist nicht durch den Sieg der kapitalistischen Bundesrepublik über sie untergegangen, sondern auf Grund der Nichtbewältigung innerer Widersprüche ihres Systems."(5) Der ehemalige Chefkommentator des Fernsehens der DDR, Karl Eduard von Schnitzler, macht die Ambivalenz sowjetischer Politik für den Niedergang der DDR verantwortlich.(6) Für Günter Mittag wiederum, der ja selbst als Mitverantwortlicher für den Untergang bezichtigt wurde, waren es wieder andere Gründe. Er schreibt: "Als der kalte Krieg zu Ende ging, war es auch mit der DDR zu Ende und es eröffnete sich die große und reale Perspektive der Vereinigung Deutschlands."(7)

Aber die Weltgeschichte lehrt, daß es sich in solchen Fällen nicht um Taten einzelner gehandelt hat. Das Römische Weltreich, das Osmanische Reich und auch das Spanische Weltreich brachen aus innerer Schwäche zusammen. Das geschah auch mit dem 'sozialistischen Lager' und damit wäre die Frage zu klären, wie es denn zu dieser Schwäche kam und die Sowjetunion 70 und die DDR 40 Jahre existieren konnten. Um diesen Ursachen näherzukommen, ist ein Exkurs in die Geschichte der Sowjetunion als dem 'ersten sozialistischen Land' notwendig.

Zur Entwicklung Sowjetrußlands

Im Oktober 1917 trat in Rußland eine revolutionäre Situation ein, die nach Lenin darin bestand, daß die herrschenden Klassen ihre Herrschaft nicht weiter unverändert aufrecht erhalten können, und die unteren Schichten nicht mehr so weiter leben wollen wie bisher, 2. daß sich Not und Elend der unterdrückten Klassen über das gewöhnliche Maß hinaus verschärft hat und 3. die Massen durch die genannten Ursachen zu verstärkter Aktivität gedrängt werden. Diese revolutionäre Kraft, oft subjektiver Faktor genannt, ist bereit, diese Verhältnisse zu verändern.

Für Lenin stand nach seiner Imperialismusanalyse(8) fest, daß es sich nur um eine proletarische Revolution handeln konnte, die dann den Weg zum Sozialismus freimachen würde. Und in der Tat war die provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution die Macht übernommen hatte, nicht in der Lage, die Forderungen der Massen nach Abschluß eines Friedensvertrages, der Lösung der Bauernfrage sowie die Mitbestimmung der Arbeiter in den Betrieben zu realisieren. Die Ententemächte forderten die Fortsetzung des Krieges und damit auch die Sicherung des in Rußland angelegten Kapitals. Die Gutsbesitzer wollten von einer Lösung der Bauernfrage nichts wissen und die Fabrikherren verbaten sich jede Einmischung in ihre Geschäfte.

Die Massen hatten sich von der provisorischen Regierung abgewandt und folgten den Sowjets, die sich zuerst in der Revolution von 1905 gebildet hatten und die im Februar 1917 zu neuem Leben erwachten und bald von den Bolschewiki dominiert wurden. Als dann die Forderungen nach einer proletarischen Revolution laut wurden, gab es Widerstand von seiten der Menschewiki, die der Meinung waren, es fehle in Rußland an Voraussetzungen für eine solche Revolution. Nach ihrer Auffassung gab es in Rußland zwar kapitalistische Betriebe, aber keinen Kapitalismus wie ihn Westeuropa kannte. Eine Bourgeoisie war landesweit nicht vorhanden, folglich hielten sie eine proletarische oder sozialistische Revolution nicht für möglich und die Machtübernahme durch die Arbeiter für undenkbar verständlich angesichts der Tatsache, daß es in Rußland 1896 erst 1.742.000 Arbeiter gegenüber vielen Millionen Bauern gab.(9) Sie waren der Meinung, sich an die Auffassungen von Marx und Engels zu halten, die eine proletarische Revolution nur in den industriell hochentwickelten Ländern Westeuropas und Nordamerikas für möglich hielten.

Lenin aber als Pragmatiker sah die Sache anders. Rußland sollte sozusagen die Weltrevolution beginnen, die sich dann in anderen Ländern fortsetzen würde. Sein weitreichender Blick schien ihn nicht zu täuschen, denn, wenn auch etwas später, kam es in Deutschland zu einer Revolution im Jahre 1918, desgleichen in Österreich. Im März 1918 bildete sich in Ungarn sogar eine Räterepublik, der 1919 die Bayerische Räterepublik folgte. Die Frage hieß nun, was sollte aus Österreich werden? In der Tat schien Europa Kurs auf den Sozialismus zu nehmen. Marx' Vorhersage schien sich zu bestätigen; nur in dialektisch nicht erwarteter Weise.

In Rußland selbst wurden 1917 die Dekrete über den Frieden, über den Grund und Boden sowie über die Nationalisierung der Banken erlassen, gefolgt von dem der Nationalisierung der Industrie. Der Weg zum Sozialismus schien frei. Jedoch schon bald stellte sicher heraus, daß es nicht zu einer proletarischen Weltrevolution kommen würde. Statt dessen begann in Rußland der Bürgerkrieg, der ganz andere Maßnahmen erforderlich machte. Eine starke Zentralisierung wurde notwendig und der Kriegskommunismus eingeführt. Man hing damals der Theorie an, daß mit der Herstellung des 'Volkseigentums an den Produktionsmitteln die Ware-Geld-Beziehungen verschwänden. Wadim Jerusalinskij schriebt dazu: "In den Anfängen verbanden die Bolschewiki die Selbstverwaltung mit einer waren- und währungslosen Wirtschaft. Militärkommunistische Methoden wurden nicht nur durch die Bürgerkriegssituation sondern auch durch theoretisch-doktrinäre Folgerungen des klassischen Sozialismusmodells bestimmt, durch den revolutionären Romantismus des fortgeschrittenen Proletariats."(10) S. Smirnow schreibt über den gleichen Fakt folgendes: "Nach Beendigung des Bürgerkrieges, als die Ablösung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer zur Debatte stand, widmete Lenin jener Wirtschaftsform die größte Aufmerksamkeit, die auf der Basis gesellschaftlicher Produktionsmitteleigentums eine hohe wirtschaftliche Aktivität versprachen. Lenin, der zunächst Marx' Idee übernommen hatte, wonach zusammen mit der Aufhebung des Privateigentums auch die Ware-Geld-Zirkulation verschwindet und zu direkten Verteilung der Produkte unter die Mitglieder der Gesellschaft übergegangen werden kann, mußte angesichts der reichen Erfahrungen konstatieren: 'Ohne persönliche Interessiertheit kommt nicht das Geringste dabei heraus.'"(11)

Der Versuch, die Theorie in die Praxis umzusetzen, erwies sich als nicht gangbar. Hinzu kam, daß man der realpolitischen Situation Rechnung tragen mußte. Diese Maßnahmen trafen eine Bevölkerung, die an die Ware-Geld-Beziehungen gewöhnt war, wie ein Schock, zumal sie ein neues Bewußtsein voraussetzten, das es zur damaligen Zeit gar nicht gab. Als das Dekret über den Grund und Boden herausgegeben wurde, schrieb Rosa Luxemburg auf dem Manifest der Kommunistischen Parte fußend: "Die Besitzergreifung der Ländereien durch die Bauern auf die kurze und lapidare Parole Lenins und seiner Freunde hin: Geht und nehmt euch das Land! führte einfach zur plötzlichen chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes im bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, und zwar Zerschlagung des großen Eigentums in mittleren und kleineren Besitz, des relativ fortgeschrittenen Großbetriebes in privaten Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet. Nicht genug: durch diese Maßnahme und die chaotische, rein willkürliche Art ihrer Ausführung wurden die Eigentumsunterschiede auf dem Lande nicht beseitigt, sondern nur verschärft."(12) Rosa Luxemburg sollte nun ihrerseits recht behalten. In der auf den Kriegskommunismus folgenden NÖP waren es gerade die Bauern, denen es im Gegensatz zu den meisten Proletariern am besten ging, wie es Paul Levi, der Herausgeber dieser unvollendeten Schrift 'Die russische Revolution', bemerkt.(13) Darüber hinaus starb der Staat nicht ab, im Gegenteil, die Wirtschaft, besonders die Industrie, der Handel und der Transport erforderten eine bestimmte Zentralisierung, die nicht abging ohne eine bestimmte Bürokratisierung, die andererseits Lenin nicht müde wurde zu bekämpfen.

Die Frage, die sich nunmehr ergab, war, wie jetzt weiter zu verfahren sei. Lenin war klar, von Sozialismus konnte noch keine Rede sein, trotz enteigneter Bourgeoisie, Nationalisierung von Bank- und Transportwesen und der Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern. So sagte er auf dem ersten Kongreß der landwirtschaftlichen Kommunen und Artels am 1. Dezember 1919: "Wir wissen, daß wir die sozialistische Orientierung nicht sofort einführen können, gebe Gott, daß unsere Kinder, vielleicht aber auch erst unsere Enkel die Errichtung des Sozialismus bei uns erleben."(14) Und ein Jahr später äußerte er sich ähnlich in seiner Rede am 2. Oktober 1920 'Die Aufgaben der Jugendverbände auf dem III. Komsomolkongreß': "Aber die Generation, die jetzt 15 Jahre alt ist, die wird die kommunistische Gesellschaft aufbauen. Und sie muß wissen, daß die ganze Lebensaufgabe im Aufbau dieser Gesellschaft besteht."(15) Diese Einsicht Lenins hielt ihn jedoch nicht davon ab, nach Neuem, das sich entwickelte und in Richtung auf den Sozialismus tendierte, Ausschau zu halten und darauf aufmerksam zu machen, so in seinem Artikel 'Die große Initiative', in dem er bezug nimmt auf die Initiative der Arbeiter, freiwillig am Sonnabend zu arbeiten und auf den Lohn zu verzichten, wobei die Arbeitsproduktivität erheblich höher lag, als an anderen Tagen. Dieser Fakt veranlaßte ihn zu folgender Aussage: "Die kommunistischen Subbotniks sind gerade deshalb von gewaltiger historischer Bedeutung, weil sie uns die bewußte und freiwillige Initiative der Arbeiter bei der Entwicklung der Arbeitsproduktivität beim Übergang zu einer neuen Arbeitsdisziplin, bei der Schaffung sozialistischer Wirtschaftsund Lebensbedingungen zeigen."(16) Sein breites Interesse galt auch dem Genossenschaftswesen, von dem er sagte: "Jetzt haben wir das Recht zu sagen, daß das einfache Wachstum der Genossenschaften für uns ... mit dem Wachstum des Sozialismus identisch ist, und zugleich damit müssen wir eine grundlegende Änderung unserer ganzen Auffassung vom Sozialismus zugeben."(17)

Perspektivisch gedacht war auch der von ihm initiierte GOELRO-Plan, der die Elektrifizierung des Landes vorsah und als Perspektivplan anzusehen ist. Die Gewinnung von Energie war die notwendige Voraussetzung für den Aufbau von weiteren Industrien. Hiermit wollte Lenin den Gedanken von Engels entsprechen, der über den Sozialismus schrieb: "Indem sich die Gesellschaft zur Herrin der sämtlichen Produktionsmittel macht, um sie gesellschaftlich planmäßig zu verwenden, vernichtet sie die bisherige Knechtung der Menschen unter ihre eigenen Produktionsmittel."(18)

Lenin war sich also darüber im klaren, daß nach eigenen Versuchen Marx'sche theoretische Vorstellungen in die Praxis umzusetzen, der Weg zum Sozialismus länger, steiniger und schwieriger werden würde, als vorausgesehen. Er mußte auch einsehen, daß zunächst erst einmal ein Staatskapitalismus entstanden war, indem sich erst keimhaft sozialistische Ansätze zeigten. Es blieb eben nur die Möglichkeit der NÖP.

Aber die NÖP erbrachte nicht die erhofften schnellen Gewinne. Die Bauern blieben weitgehend der Naturalwirtschaft verhaftet und die Industrie erbrachte nicht die notwendigen Gewinne. Damit konnte sie nicht in größerem Maße Mittel für die Akkumulation bereitstellen. Hier machte sich bemerkbar, daß es in Rußland keinen Kapitalismus gegeben hatte wie im Westen, sondern eben nur kapitalistische Inseln in einem Bauernland. Deshalb konnten nur Rohstoffe exportiert werden wir Holz,(19) Erdöl und Getreide.(20) Rußland hatte nicht wie England eine ursprüngliche Akkumulation - die Grundlage für die weitere kapitalistische Entwicklung - erfahren. Ob nun, das was nicht historisch stattgefunden hatte, mit der NÖP - nun zwar unter welthistorisch weiter entwickelten Bedingungen - aufholbar war, mußte zweifelhaft bleiben.

Auf dem XIV. Parteitag 1925 wurde die sozialistische Industrialisierung beschlossen, auf dem XV. Parteitag 1927 die Kollektivierung. 1928 begann der erste 5-Jahresplan anzulaufen. A. Kurski schreibt in diesem Zusammenhang:" Eine Besonderheit der sowjetischen Industriealisierungspolitik bestand ferner darin, daß die Industrialisierung in unserem Lande gestützt auf die inneren Akkumulationsquellen vor sich ging. Zum Unterschied von den kapitalistischen Ländern waren solche Akkumulationsquellen wie Ausplünderung der Kolonien oder knechtende Auslandsanleihen für die Sowjetunion unannehmbar. Gerade die Vorzüge des Sowjetsystems, die Beherrschung der Kommandohöhen der Wirtschaft durch den sozialistischen Staat gestatten es, auf die eigenen Kräfte des Landes zu rechnen und genügend eigene Mittel für die Industrialisierung aufzubringen."(21)

Angedeutet wird hierbei, der Begriff Kommandohöhen belegt es, daß die gesamte Industrialisierung samt Plänen wie eine Art militärstrategisches Unternehmen angegangen wurde, um nachzuholen, was historisch gesehen in Rußland nicht erfolgte. Dabei aber von Sozialismus im Sinne von Marx und Engels zu sprechen, wenn von sozialistischem Staat die Rede ist, dürfte zweifelhaft sein. Die Stalinschen 5-Jahrespläne waren im Prinzip der Versuch, dem Prozeß der ursprünglichen Akkumulation Westeuropas via Plan eine russische Variante hinzuzufügen - das Ganze aber als Sozialismus auszugeben. Von Plänen im Sinne Stalinscher Interpretierung ist bei Marx und Engels keine Rede. Engels ging beispielsweise davon aus, wenn er eine zum "planmäßigen Zusammenwirken" organisierte Gesellschaft im Auge hat, es sich bereits um eine vorhandene und hochentwickelte Industrie handelt,(22) die, wie er weiter schreibt, eine gesellschaftlich planmäßige Regelung der Produktion nach den Bedürfnissen der Gesamtheit wie jedes einzelnen nach sich ziehen sollte.(23)

Jedoch die Planung und die rigorose militärisch gestaltete Kommandowirtschaft brachten nicht die vorgestellten Ergebnisse. W. Leltschuk und L. Koschelewa schreiben in ihrem Artikel über die Industrialisierung der UdSSR: " Darf man jenen Recht geben, die in der Stalinschen Fälschung der Ergebnisse des Fünfjahresplans (des ersten W. B.) eine Bemühung sehen, die Moral der Werktätigen aufrechtzuerhalten und sie zu gewaltigen Leistungen anzuspornen? Nein, um so mehr als der Betrug an Partei und Volk einem anderen Ziel diente - den Glauben der Massen an den Weitblick und die Unfehlbarkeit des Führers zu vertiefen und die schweren Fehlkalkulationen zu verschleiern, die auf der Höhe jenes Arbeitsaufschwungs gemacht wurden, unter dessen Zeichen die ersten beiden Jahre des Planjahrfünfts standen."(24)

Barbara Sichtermann schreibt zu diesem Komplex: "Läßt man alle Rhetorik beiseite so läufts darauf hinaus, daß das rückständige revolutionäre Rußland sich selbst eine Diktatur verpaßt hat, um durch Abkoppelung vom Weltmarkt der unwürdigen Rolle eines Schwellenlandes, eines Experimentierfeldes des imperialistischen Kapitalismus, zu entrinnen und zugleich im Schutze der geschlossenen Grenzen und unter der Peitsche des Terrors die 'ursprüngliche Akkumulation' einen wirtschaftlichen Grundstock im Inneren aufzurichten, bis eine annähernde Gleichheit des Entwicklungsstandes den Wiedereintritt in die Weltmarktkonkurrenz, sprich Öffnung der Grenzen, Konvertierbarkeit der Währung etc. ohne Nachteile fürs Inland erlaubt hätte. Daß diese Gewaltkur mit Sozialismus bezeichnet wurde, weil seine Exekutoren, die Kader der Kommunistischen Partei zu Beginn des Jahrhunderts geglaubt haben, mit der Marxschen Theorie operieren zu können und diesen Irrtum, nachdem ihre Ideologie zur Sprache der staatlichen Legitimation geworden war, später nicht mehr korrigieren konnten - das war zusätzliches historisches Unglück, insbesondere für die Sozialdemokraten, die es sich bis heute gefallen lassen müssen, daß man ihr Verhältnis zur Freiheit in Zweifel zieht."(25)

Die ursprüngliche Akkumulation und später der Frühkapitalismus brachten auch ein soziales Denken hervor, das sich in Utopien äußerte wie bei Morus und Bacon im 17. Jahrhundert. Aber auch die utopischen Sozialisten wie Owen und Fourier, deren Denken noch stark der Aufklärung verhaftet ist, seien hier genannt. Im Gegensatz zu Morus und Bacon versuchten Owen und die Anhänger von Charles Fourier ihre Auffassungen in die Praxis umzusetzen, sogar mit teilweisem Erfolg. Owens Unternehmen in New Lanark als 'sozialistische' Mustersiedlung philanthropischer Prägung bestand in England 12 Jahre.(26) In den USA wurden von 1825 - 1827 neunzehn derartiger Gemeinden gegründet, von denen New Harmony die bedeutendste war. Aber nur 3 Jahre haben die Siedlungen hier bestanden. Fouriers Vorstellungen erfuhren 1843 mit der Gründung der ersten Phalanx Sylvania in Pensylvania ihre Verwirklichung, waren aber noch im selben Jahr gescheitert, trotzdem waren es immerhin mehr als 40 dieser Siedlungen. Es handelte sich um Landwirtschaftsbetriebe, die in den Jahren 1842 - 1852 gegründet wurden. Die berühmteste von ihnen Brook Farm in Massachusetts existierte immerhin 6 Jahre.(27) Über Brook Farm lesen wir bei Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: "In Brook Farm, einer Siedlung auf Aktienkapital gegründet, an dem freilich nicht wie Fourier wollte, alle Siedler beteiligt waren, bestand gleiche Pflicht zur kollektiven Arbeit, Entlohnung auf der Grundlage der Arbeitsleistung, unentgeltliche Bildung und medizinische Hilfe sowie gemeinsame kulturelle Freizeitgestaltung. Die Siedlung, die bis 1856 bestand und der meist Intellektuelle angehörten, wurde das Propagandazentrum des Fourierismus in den USA, das auch Philosophen und Schriftstelle wie Ralph Waldo Emerson und Nathaniel Hawthorne anzog und die amerikanische Literatur dieser Jahre stark beeinflußte, wobei sich die Gedankenwelt des Fourierismus freilich auch mit christlich sozialistischen Vorstellungen verflocht."(28)

Bleibt man bei der These, daß damals in der Sowjetunion die ursprüngliche Akkumulation nachvollzogen werden sollte, mußte man die Frage nach der Herkunft der Mittel für die Industrialisierung stellen. An Exportgütern, die Devisen bringen konnten, standen nur Rohstoffe wie Holz,(29) Erdöl und Getreide(30) zur Verfügung. Weltmarktfähige Produkte wurden in der Sowjetunion nicht hergestellt. Um mehr Getreide zu erhalten, wurde die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die Herstellung großer landwirtschaftlicher Flächen als Möglichkeit angesehen. Die Bauern waren auch hier, wie im England des 17. Jahrhunderts, die Opfer, nur, daß sie nicht von Grund und Boden verjagt wurden, um Schafen Platz zumachen, sondern um fester an die Scholle geschmiedet zu werden. Hinzu kam, daß, wie es hieß, das Kulakentum - die Großbauern - als Klasse (waren sie überhaupt eine?) liquidiert wurden - ihre Angehörigen über das ganze Land verstreut und meist in unwirtschaftlichen Gegenden angesiedelt wurden.

Das Problem war, wie man solche Kollektivwirtschaften schaffen sollte. Anhaltspunkte dafür gab es weder bei Marx, Engels und Lenin. Die Organisatoren konnten nur, wollten sie nicht auf die Frage gutsherrschaftliche Wirtschaft zurückkommen, sich auf quasi-sozialistische Vorstellungen allgemeiner Natur stützen. Ohne es subjektiv zu wollen, wurde bei dieser Umgestaltung eine Art von Fourierismus praktiziert, ein Sozialismus, der dem Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts entsprach.

Hören wir doch Charles Fourier selbst. Er schreibt nämlich: "Und doch hat man schon mehr als einmal vorausgesehen, welche Einsparungen und Verbesserungen sich ergäben, wenn man die Bewohner eines Weilers zu gemeinsamer Arbeit zusammenfassen, wenn man die zwei- bis dreihundert Familien eines Kantons nach ihrem Besitzstand und ihren Fertigkeiten vereinen könnte.

Dieser Plan, scheinbar anfangs ungeheuerlich und undurchführbar, weil sich die Leidenschaften dieser Vereinigung widersetzen würden, und dieses Hindernis dünkt uns umso erschreckenster, als es nicht schrittweise überwunden werden kann. Man kann nicht zwanzig, dreißig, vierzig, ja mehr einmal fünfzig Einzelpersonen zu einer landwirtschaftlichen Vereinigung zusammenfassen. Man braucht mindestens achthundert um die natürliche oder anziehende Vereinigung, deren Mitglieder durch Wetteifer, Eigenliebe und andere Motive, die mit dem angestrebten Vorteil vereinbar sind, zu Arbeit angetrieben werden: die Ordnung, um die es sich handelt, wird uns mit Liebe zur Landwirtschaft erfüllen, die bis heute abstoßend ist und die man nur notgedrungen und aus Angst nicht zu verhungern betreibt."(31)

Verfolgt man den Text weiter, so werden von Fourier Gruppen empfohlen, die miteinander konkurrieren und deren Mitglieder stets wechseln und zu wechselnden Arbeiten herangezogen werden. Nimmt man dann noch die von Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner für Brook Farm angegebenen kulturellen und sozialen Leistungen hinzu, so haben wir in der Tat einen sowjetischen Kolchos vorgezeichnet.

Wollte man das 19. Jahrhundert nachvollziehen - möglicherweise um ihm zu entwachsen - und um den Kapitalismus zu umgehen, erzwang das Vorhaben einen Sozialismus des 19. Jahrhunderts, keinen auf wissenschaftlicher Basis, sondern einen utopischen, denn wir müssen berücksichtigen, daß sich Entwicklungen weder umgehen noch überspringen lassen. Außerdem wußte in Rußland damals niemand, wie ein Kolchos, das man schaffen wollte, aussehen sollte, andererseits wollte man recht schnell sein Ziel, ein vollendet funktionierenden Kolchos zu erhalten, erreichen. Die Zeit der Entwicklung, die ein neues Projekt in der Realisierung braucht, war nicht vorgesehen. Im industriellen Bereich erinnert die Entwicklung ebenfalls an das 19. Jahrhundert und für die 'sozialistische Industrialisierung' schien Robert Owen Pate gestanden zu haben. So wurde in Magnitogorsk beispielsweise zuerst ein großes Werk ohne Maschinen und mit primitiven Arbeitsmitteln aus dem Boden gestampft. Bei Annelie und Andrew Thorndike lesen wir: "Das war die Baustelle für das Fundament des ersten Hochofens. Keine einzige Maschine gab es fort ein Bild, wie es in keinem kapitalistischen Industriestaat seinerzeit zu sehen war."(32) Erst später entstand die dazugehörige Stadt. Bei den Thorndikes heißt es dazu: "In solchen Zelten wurde der erste Winter überstanden und Temperaturen von minus 30° sind dort keine Seltenheit."(33)

Die von Robert Owen am 1. Januar 1900 übernommene Baumwollspinnerei in New Lanark war schon von David Dale und Richard Arkwright 1784 errichtet worden, später erst entstand ein eigenes Dorf für die dort tätigen Arbeiter! Unter Owens Leitung wurde das Leben in New Lanark total verändert. Bei Dietrich Franz heißt es dazu: "Er schuf einen Unterstützungsfond für Kranke, Unfallverletzte und Alte, an dem sich die Arbeiter mit einem Sechstel ihres Lohnes beteiligten. Andere Maßnahmen zielten auf die Bekämpfung der Kriminalität und den Alkoholmißbrauch, vornehmlich durch verstärkte Kontrollen, Aufklärung und vorbeugende Maßnahmen. Auf die Einschaltung von Polizei und Gerichte wurde bewußt verzichtet. Streitigkeiten aller Art wurden von einer Art Jury geschlichtet, die von den Bewohnern selbst ernannt wurde ... Durch die Firma wurden Lebensmittel, Brennmaterial und Kleidung angekauft und zu Preisen an die Arbeiter abgegeben, die um etwa ein Viertel unter denen der Privatgeschäfte des benachbarten Old Lanark lagen.

Der dennoch erzielte Gewinn von 700 Pfund wurde für die Schule verwendet. Es waren dies alles Maßnahmen, die sowohl der Firma, also auch den Arbeitern zugute kamen. Allerdings erwarb er sich deren endgültiges Vertrauen erst nach etwa sechs Jahren, als er bei einer viermonatigen Stillegung des Betriebes wegen Rohstoffmangels den vollen Lohn weiterzahlte. Ähnlich verfuhr er dann noch einmal 1817, als eine der vier Fabriken abbrannte."(34) Nimmt man nun wiederum das Buch von den Thorndikes zur Hand, so verblüffen folgende Überschriften wie 'Arbeiter ersetzen Polizei', 'Arbeiter sprechen Recht', 'Arbeiter verwalten ihre Stadt'.(35) Aber was und wie produziert wurde, darauf hatten die Arbeiter keinen Einfluß, das wurde von Staatsund Parteifunktionären bestimmt, ähnlich wie in New Lamark, wo Robert Owen die Oberherrschaft über die Fabrik behielt, denn er war ja ein Kapitalist und wollte Profit machen. Selbst die schon beim Aufbau der Werke in der Sowjetunion vorgenommene bessere Belieferung der Arbeiter mit Kleidung und Gebrauchsgegenständen sowie Lebensmitteln, die als Arbeiterversorgung deklariert wurde, erscheint Owen nachempfunden zu sein.(36)

Die auf den Baustellen gebildeten Schulen zwecks Liquidierung des Analphabetentums scheinen ebenfalls Owens Schule in New Lamark als Vorbild gehabt zu haben. Natürlich waren solche Vorhaben wie die Industrialisierung, die sich auf verschiedene Zweige erstreckte, nicht machbar ohne eine generalstabsmäßige Planung. Und so kam es zu den 5-Jahrplänen in der Sowjetunion, nach dessen dritten von 1938 - 1942 der Ausbau des Sozialismus vollendet sein sollte, d. h. es sollte danach eine Gesellschaftsordnung entstanden sein, die im 'Kommunistischen Manifest' wie folgt beschrieben wird: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Was das zu Beginn des Krieges mit der Sowjetunion erreicht? Wir müssen das leider verneinen. Lenin ging davon aus, daß sich die höhere Gesellschaftsordnung stets durch eine höhere Arbeitsproduktivität auszeichnet. Der Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland wurde auch dementsprechend interpretiert. Die Gründe für den Sieg aber müssen woanders gesucht werden, denn Georgi Shukow stellte in einem Gespräch mit Konstantin Simonow fest: "Die Deutschen waren uns beim Rüstungspotential in großem Maße überlegen. Beinahe dreifach waren sie uns bei Kohle, zweieinhalbfach bei Roheisen und Stahl überlegen. Mit einem Wort darf man es nicht vergessen, daß wir in der Zeit, da wir in den Krieg traten immer noch ein im Vergleich mit Deutschland industriell rückständiges Land waren."(37) Und Herbert Wolf bemerkt in diesem Zusammenhang: "Aber die Öffnung nach dem Westen, die sich de facto durch die sowjetische Besatzung Ostund eines Teiles Mitteleuropas im Gefolge des Krieges ergab, machte einen wachsenden Teil der Intelligenz und der Führungskader ohnehin das erschreckende Ausmaß des Rückstandes sowohl an Produktivität wie auch an Lebensniveau selbst gegenüber einem durchschnittlichen europäischen Standard deutlich."(38)

Die sowjetischen Soldaten nahmen sich deshalb, was sie nicht hatten beim Einmarsch. Karl Eduard von Schnitzler gibt ein diesbezügliches Gespräch mit Oberst Tulpanow wie folgt wieder: "Als ich 1946 aus Köln zu einem kurzen Besuch in Berlin weilte, fragte mich Oberst Tulpanow 'Was spricht man drüben über uns?', ich antwortete wahrheitsgemäß 'Diebstahl von Uhren und Fahrrädern, Vergewaltigungen ...',. Tulpanow mit hochrotem Kopf 'Die Schale ist zu dünn, wir haben es noch nicht geschafft.' Auf meinen fragenden Blick fuhr er ruhiger fort 'Bei den fernöstlichen Völkern der Sowjetunion gehörte noch vor zwei Menschenaltern die Frau zur Kriegsbeute und es galt das Recht der Plünderung. Wie sollten wir das in so kurzer Zeit aus den Menschen herausbekommen und dazu in einer Zeit der vielen blutigen, grausamen rohen Kriege gegen uns mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.'"(39) Mehr als eine Million deutsche Frauen sollte das genannte Schicksal erfahren haben, von angeblich sozialistisch erzogenen Menschen. Näheres dazu kann man bei Lew Kopelew nachlesen.(40) Nach dem Einmarsch war Deutschland in den Augen der Partei- und Staatsspitze ein besiegter Klassenfeind. Die Demontagen bis hin zum 2. Gleis der Eisenbahn begannen. Ja noch, als bereits kommunistische Funktionäre, meist Sowjetunionemigranten in wichtigen Schaltstellungen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur saßen, als es bereits bewaffnete Kräfte in der DDR gab, wurden noch weiterhin Reparationen aus laufender Produktion entnommen.

Wie sah es nun aus nach 70 Jahren 'sozialistischer' Sowjetunion mit der Entwicklung des Landes und des einzelnen. Bei Gorbatschow lesen wir in seinem Bericht auf dem Januarplenum des ZK im Jahre 1987: "In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine weitere unzulässige Erscheinung eingehen. Ich meine die Unduldsamkeit einiger Leiter gegenüber einem selbständigen Handeln und Denken ihnen untergeordneter Arbeiter. Nicht selten kommt es vor, daß man sich eines Mitarbeiters, sobald er selbständige Urteile zu äußern beginnt, die mit der Meinung des Sekretärs des Parteikomitees, des Leiters eines Ministeriums oder anderer zentralen Organe eines Betriebes, einer Einrichtung oder einer Organisation nicht übereinstimmen, unter allen möglichen mitunter auch äußerlich glaubwürdigen Vorwänden so schnell wie möglich zu entledigen sucht."(41)

Von einer freien Entwicklung eines jeden konnte wohl in der Sowjetunion keine Rede sein. Dazu lesen wir weiter bei Gorbatschow: "Unvermeidliche Folgen sind sinkendes Interesse für gesellschaftliche Angelegenheiten, Erscheinungen der Gleichgültigkeit und des Skeptizismus, sowie das Sinken der Rolle moralischer Anreize. Es vergrößerte sich die Schicht von Menschen, darunter auch Jugendliche, für die materieller Wohlstand und Bereicherung um jeden Preis das Lebensziel wurde. Ihre zynische Haltung nahm immer aggressivere Formen an, vergiftete das Bewußtsein der sie umgebenden Menschen und brachte eine Welle des Konsumdenkens hervor. Ein Ausdruck für den Verfall der sozialen Sitten waren die Zunahme der Trunksucht, die Verbreitung der Rauschgiftsucht und das Wachstum der Kriminalität.

Einen schädlichen Einfluß auf die sittliche Atmosphäre in der Gesellschaft hatten solche Tatsachen wie Mißachtung der Gesetze, Schönfärberei und Korruption, die Förderung von Katzbuckelei und Lobhudelei. Die echte Sorge um die Menschen, um ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen und um ihr soziales Befinden wurde nicht selten durch politische Kokettierung - die massenweise Vergabe von Auszeichnungen, Titeln und Preisen ersetzt. Es bildete sich eine Atmosphäre heraus, in der alles entschuldigt wurde, Anforderungen, Disziplin und Verantwortung ließen nach."(42)

Das war das Ergebnis einer siebzigjährigen 'sozialistischen' Entwicklung. Erscheinungen waren in der Sowjetunion zutagegetreten, die man eigentlich dem Kapitalismus zuschrieb. Die Entwicklung war nicht vorangekommen. Der Versuch, eine Utopie zu realisieren, war gescheitert. Hören wir, was Günter Reimann, bezogen auf das Jahr 1930, zu sagen hat: "Es ist leicht dort Beispiele zu finden, die alle möglichen Theorien bestätigen, vom Aufbau neuer Produktivkräfte, vom sozialen Aufstieg von Arbeitern und armen Bauern, von einer parasitären und korrumpierten Bürokratie, die die Staatspartei und Verwaltung durchsetzt, von tiefer Armut, vom Entstehen primitiver kapitalistischer Märkte und der Existenz frühkapitalistischer Elemente. Nur eines gibt es nicht Sozialismus. Die meist jungen Menschen leben im Geiste des Frühkapitalismus, mit Ausnahme einer intellektuellen Elite, die zum Schweigen und Lügen gezwungen wird."(43)

Viel schien sich von 1930 bis 1987 in der sowjetischen Gesellschaft nicht verändert zu haben, was Gorbatschow im Prinzip ja bestätigte.

Zur Entwicklung der DDR

Bestimmte Parallelen mit der Geschichte der DDR sind in diesem Zusammenhang nicht zu übersehen.

1945 war das Gebiet zwischen Elbe und Oder zur sowjetischen Besatzungszone geworden, die bis 1949 von einer sowjetischen Militärregierung regiert wurde. Keine wie auch immer geartete revolutionäre Situation, der eine Revolution folgte, waren zu verzeichnen. Wolfgang Weber allerdings glaubte, Anfänge einer sozialistischen Revolution zu bemerken, wenn er schreibt: "Zahlreiche Betriebe vor allem in den Industriezentren von Berlin, Thüringen und Sachsen waren von Belegschaften nach dem Zusammenbruch des Hitlerregimes spontan enteignet und gewählten Betriebsräten unterstellt worden, die den Wiederaufbau der Produktion in die Hand genommen hatten. Die früheren Eigentümer und Direktoren wurden rausgeworfen und daran gehindert, wie in den Westzonen wieder Besitz von ihrem Eigentum zu ergreifen."(44) Dieses Tun aber wurde von sowjetischer Seite nicht unterstützt. Statt dessen wurde auf Anweisung und mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht die Bodenreform, sprich die Enteignung der Großgrundbesitzer, durchgeführt. Erst nach dem Volksentscheid in Sachsen im Jahre 1946 erfolgte die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher wie es hieß, sprich, man begann, die Grundlagen für die spätere sogenannte volkseigene Industrie zu schaffen, und prompt folgte die Wirtschaftsplanung für 1948 und ein Zweijahresplan für 1949 - 1950. Dazu äußerte sich Walter Ulbricht auf einer Vorstandssitzung der SED: "Man kann sagen, daß unsere Parteileitungen zum ersten Mal in Verbindung mit der Annahme dieses Planes vor der Aufgabe stehen, zusammenhängend die gesamte politische, wirtschaftliche und organisatorische Arbeit nicht nur der Partei, sondern des Wirtschafts- und Staatsapparates zu leiten."(45) Die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD zur SED und die Umwandlung letzterer zur sogenannten Partei neuen Typus, ähnlich der der KPdSU (B) wurde auf die Tagesordnung gesetzt. Die Entwicklung in Richtung Sozialismus sowjetischer Prägung begann sich abzuzeichnen.

Im Aufruf vom 11. Juni 1945 der KPD war hingegen von Sozialismus, sowjetischem Vorbild o. ä. keine Rede, und in dem oft zitierten Artikel von Anton Ackermann 'Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus' in der Zeitschrift 'Einheit' Nr. 2/1946 konnte man lesen: "In allen Dingen, die nicht die oben bezeichneten Grundfragen der Umwälzung zum Sozialismus betreffen, wird in diesem oder jenen Falle die Entwicklung in Deutschland zweifellos einen weitgehend spezifischen Charakter tragen. Oder mit anderen Worten: im Einzelnen werden sich die starken Besonderheiten der historischen Entwicklung unseres Volkes, seine politischen und nationalen Eigenheiten, die besonderen Zügel seiner Wirtschaft und seiner Kultur außerordentlich stark ausprägen."

Ackermanns Artikel, der damals nach Aussage von Erich Honecker vom gesamten Zentralvorstand getragen wurde, und der, wie Andreas Maycha betont eher vordergründig als Verhandlungsangebot gegenüber der Sozialdemokratie angelegt war, und durchaus stalinistischen Denkstrukturen verhaftet war, führte dennoch, daß Ackermann mit folgenden Worten Selbstkritik übte: "Diese These vom besonderen deutschen Weg zum Sozialismus war ein Zurückweichen vor den antisowjetischen Stimmungen, vor der antisowjetischen Hetze, ein Zurückweichen im Sinne der Abgrenzung von dem Weg der bolschewistischen Partei ... Erfolg und Sieg der Arbeiterklasse sind nur möglich, wenn sich die Arbeiterparteien aller Länder nach dem Beispiel der bolschewistischen Partei der Sowjetunion orientieren, ihre Erfahrungen übernehmen und sich engstens an die Völker der Sowjetunion anlehnen."(46) Nur noch der sowjetische Weg zum Sozialismus sollte gelten. Die SED, zur Partei neuen Typus geworden, beschloß 1952 auf ihrer II. Parteikonferenz, daß der Sozialismus in der DDR planmäßig aufgebaut werden sollte.

Hatte man Bodenreform, Schulreform und die Enteignung der Naziund Kriegsverbrecher noch für demokratische Reformen als Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft der Vergangenheit verstehen können, so entpuppten sie sich eigentlich als Nachvollzug von Maßnahmen der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution, nur, daß sie im Gegensatz zu Rußland in der sowjetischen Besatzungszone statt vom Volk von der Besatzungsmacht initiiert wurden. Es handelte sich um puren Voluntarismus. Daß dies so war, belegt beispielsweise Heinz Schmidt (PDS) in einem Streitgespräch am 19. September 1992 in Gelsenkirchen mit seinem Diskussionsbeitrag zum Thema: "War die DDR sozialistisch?" Er sagte: "Wir haben immerhin die Kapitalisten bei uns mit Hilfe der Sowjets erst mal zum Teufel gejagt und das ist eine der wichtigsten Sachen. Und dann haben wir beraten und gesucht, in Versammlungen und Gesprächen, wie wir diese Gesellschaft (gemeint ist der Sozialismus, W. B.) aufbauen, die so auf deutschem Boden zum ersten Mal errichtet wurde."(47)

Die Forcierung des Aufbaus des 'Sozialismus' ging nach sowjetischem Vorbild vor sich. Zuerst wurde die Schwerindustrie aufgebaut,, so z. B. das Eisenhüttenkombinat Ost an der Oder, es folgte der Aufbau einer ganzen Stadt, einst Stalinstadt genannt - heute Eisenhüttenstadt - Magnitogorsk gab offenbar das Vorbild ab. Diese Forcierung wurde mit sinkendem Lebensstandard der Einwohner erkauft und führte zur Unzufriedenheit gerade der jüngeren Einwohner der DDR, die immer als Träger des Sozialismus dargestellt wurden. Dieses voluntaristische Handeln ging nun selbst der Sowjetunion zu weit, die an den Westgrenzen ihres Einflußbereiches keine zusätzlichen Konflikte wollte. Jedenfalls wurde einer Delegation, bestehend aus Walter Ulbricht, Fred Oelßner und Otto Grotewohl, die sich vom 2. - 4. Juni 1953 in Moskau aufhielt, ein Beschluß des Politbüros der KPdSU vom Mai 1953 überreicht. Auf die Massenflucht von Einwohnern der DDR in die Bundesrepublik bezogen heißt es dort: "Als Hautursache der entstandenen Lage ist anzuerkennen, daß gemäß den Beschlüssen der Zweiten Parteikonferenz der SED, gebilligt vom Politbüro des ZK der KPdSU (B) fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbaus des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war, ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowie innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen."(48) Und weiter unten heißt es: "1, Unter den heutigen Bedingungen (ist) der Kurs auf eine Forcierung des Aufbaus des Sozialismus in der DDR, der von der SED eingeschlagen und vom Politbüro der KPdSU (B) in seinem Beschluß vom 8. Juli gebilligt worden war, für nicht richtig zu halten."(49) Hier wurde versucht zu bremsen und die Entwicklung zu verlangsamen, nicht etwa abzubrechen, aber zu spät. Trotz Verkündung des "Neuen Kurses" kam es zu den Ereignissen des 17. Juni 1953. Man mußte selbst von der Parteiführung eingestehen, daß es zu Massenstreiks und Massendemonstrationen gekommen war. Die sowjetische Besatzungsmacht mußte durch ihr Eingreifen dafür Sorge tragen, daß in der DDR alles beim Alten blieb, daß also der von der SED angestrebte Sozialismus nicht infrage gestellt wurde, wenn man auch das übereilte Tempo einsehen mußte. Der Voluntarismus der Parteiführung wurde von der Sowjetunion weiterhin unterstützt. So wurde der Aufbau des Sozialismus für einen Teil der Bevölkerung immer fragwürdiger. Viele verließen weiterhin die DDR und kehrten diesem gesellschaftlichen Experiment den Rücken. Juri Kwizinskij schreibt dazu, auf das Jahr 1961 bezogen: "Die Lage wurde immer verzweifelter. In einigen Kreisen der DDR gab es bereits keinen Augenarzt, keinen Hals-Nasen-Ohren-Arzt oder keinen Gynäkologen mehr. Wie viele andere hochqualifizierte Fachleute strömten sie in den Westen. Auch in den Betrieben war es unruhig. Die Arbeiter sagten allmählich ganz offen, sie könnten nicht mehr in einem Staat leben, in dem sie nicht wüßten, ob die Schichtablösung am nächsten Morgen noch zur Arbeit kommt, oder ob sie sich schon längst davongemacht habe."(50) Weiter unten gibt dann Kwizinskij einen Wunsch Ulbrichts wieder, den er dem sowjetischen Botschafter gegenüber äußerte: "Perwuchin sollte Chrustschow mitteilen, wenn die gegenwärtige Situation der offenen Grenze weiter bestehen bleibe, sei der Zusammenbruch unvermeidlich. Als Kommunist warne er davor und lehne alle Verantwortung dafür ab, was weiter geschehe. Er könne diesmal nicht garantieren, die Lage unter Kontrolle zu halten. Das solle man in Moskau wissen."(51) Wieder mußte die Sowjetunion unter Einbeziehung der Auffassung der Partei- und Staatsführungen der anderen sozialistischen Länder wie 1953 die DDR retten. Es kam die Mauer. Nach anfänglich offensichtlicher Konsolidierung der DDR zeigte sich, daß das System und seine Strukturen nicht funktionierten. Selbst Karl Eduard von Schnitzler mußte bekennen: "Gewiß war die Versorgung mit Lebensmitteln nicht variabel genug, mit Waren des täglichen Bedarfs unzureichend. Aber niemand hat Hunger gelitten."(52) Die Versorgung hatte also ein sehr niedriges Niveau. Die Planung als die angeblich wichtigste Grundlage der Volkswirtschaft funktionierte nicht wie gedacht und entpuppte sich als das, wozu sie ursprünglich gedacht war, nämlich im Kriege, zuerst im I. Weltkrieg in Deutschland praktiziert, eine kontinuierliche Bereitstellung von Kriegsmaterial zu gewährleisten. Günter Mittag bemerkt dazu: "Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie Alfred Neumann, als er Anfang der sechziger Jahre Vorsitzender des Volkswirtschaftsrates der DDR war, sich aus den Akten des Volkswirtschaftsministeriums heraussuchen ließ, wie man im Kriege die Produktion einzelner Endprodukte mit all ihren Zulieferverflechtungen durch die Zentrale administrativ organisierte. Die Wirtschaft so zu leiten, schien seine Traumvorstellung gewesen zu sein."(53)

Andererseits, und das soll nicht unerwähnt bleiben, gab es ein sozialpolitisches Programm, das auf dem VIII. Parteitag kreiert wurde. Werner Eberlein, einst erster Sekretär der Bezirksleitung Magdeburg der SED, bemerkte dazu: "Die sozialpolitische Konzeption des VIII. Parteitages der SED schrieb die Forderungen der KPD in den 30er Jahren fest. Jedem Arbeit, billiges Brot, vier warme billige Wände. Nicht, daß sie für unsere Zeit keine Gültigkeit mehr hätten oder bereits realisiert wären. Aber es gab in den 70er Jahren einige neue ökonomische Spezifika, die zu berücksichtigen Ulbricht mit seinem 'Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung' (NÖSPL!) begonnen hatte. Meisterung von Wissenschaft und Technik bei gleichzeitiger Embargopolitik, forcierten Kreditboykott und Cocom-Sperrlisten - dem war mit blanker Agitation und Kopf in den Sand stecken nicht zu begegnen."(54)

Aber eben auch dank utopischer Vorstellungen vom Menschen, seinem Wesen und Bedürfnissen glaubte man mit blanker Agitation, mit Appellen an das Bewußtsein oder mittels sogenannter 'moralischer Anreize', wie es Gorbatschow formulierte, die Entwicklung voranzutreiben. Heinz Jung bemerkt allerdings, bezogen auf den XX. Parteitag der KPdSU, folgendes, was auch als zutreffend für die DDR angesehen werden muß: "Man kann doch nicht so tun, als ob die Menschen auf Dauer von Appellen hätten weiter leben können. Man kann doch dabei nicht nur ideologisch hoch motivierte kleine Gruppen ins Auge fassen, sondern muß die Mehrheit des arbeitenden Volkes sehen. Das hatte schon sehr früh das Experiment des Kriegskommunismus gezeigt.

Aber auch nach dem zweiten Weltkrieg war nach der Bewältigung der drängenden Aufbauprobleme eine Wende angesagt, sollte die Sache nicht Schiffbruch erleiden. Es stand ein ökonomischer Mechanismus mit neuen Antrieben auf der Tagesordnung. So lange Geld Verteilungsmedium sein muß, kann es ohne ein System materieller Interessiertheit keine auf Dauer funktionierende sozialistische Wirtschaft geben."(55)

Für Erich Honecker dagegen stand fest: "Unsere Schwäche bestand darin, daß wir offensichtlich nicht vermochten, unsere sozialistischen Ideale für den einzelnen erlebbar zu machen."(56) Andererseits kommt er aber auch zu der bemerkenswerten Einsicht, wenn er schreibt: "Es steht völlig außer Frage, daß wir in 40 Jahren keineswegs nur Erfolge erzielt haben, sondern, daß sich auch große Mängel in der Arbeit zeigten. Sie haben dazu geführt, daß eine beträchtliche Anzahl von Bürgern die DDR nicht bewußt als ihr Vaterland verstand."(57) Ideologische Beeinflussung und wie Prof. Jürgen Kuczynski sagt: "... recht kümmerliches aber absolut festes und umfassendes Netz sozialer Sicherung"(58) haben sich nicht als Stimulans für eine weitere Entwicklung erwiesen. Es war Wunschdenken, einer Utopie näher als der Wirklichkeit, denn damit wurde das Volk entmündigt. Eva Kellner und Angelika Soldan schreiben in diesem Zusammenhang: "... und das Nichtankommen des expropriiertem Eigentums beim Volk und beim einzelnen, eine für Vergesellschaftung gehaltene, aber wieder eine Minderheit privilegierende Verstaatlichung der Produktionsmittel andererseits - hierin hatte die neue Unmündigkeit des Volkes und des einzelnen ihren objektiven Grund."(59)

Nach all dem kommt Rolf Reißig zu folgendem Schluß: "Die Krise, der Niedergang hat tieferliegende systemimmanente Wurzeln, die im praktischen und theoretisch-konzeptionellen 'Konstruktionsfehler' des Realsozialismus insgesamt liegen. Die Krise und der Zusammenbruch der DDR sind deshalb auch nur als Teil der Krise und des Zusammenbruchs der gesamten 'realsozialistischen Systeme' Mittel-Ost-Europas zu verstehen und zu erklären."(60) Frank Adler kommt zur gleichen Ansicht, wenn er schreibt: "Das realsozialistische Gesellschaftssystem und seine Sozialstruktur litt von Geburt an unter einem Konstruktionsfehler, der von einem bestimmten Punkt an zu einem offenkundigen Defizit an Entwicklungsfähigkeit gegenüber den modernen kapitalistischen Gesellschaften des Westens führte."(61) Er nennt in diesem Zusammenhang 3 Punkte, die er für den Konstruktionsfehler hält:

    - "Unkontrollierbares Machtmonopol
    - Blockierte Subjektivität
    - Paternalistische nivellierende Verteilung von Lebensbedingungen."(62)

Beide Autoren erkennen meines Erachtens die Faktoren für den Untergang der DDR, stoßen aber meiner Meinung nach nicht bis zu den letztendlichen Ursachen für diese Erscheinungen vor, denn der Sozialismus verstand sich ja als erste von Menschen bewußt konzipierte und realisierte Gesellschaftsordnung, der ja ein von Menschen erdachtes Konzept zugrunde liegen mußte. Nun haben aber Marx und Engels keine näheren Ausführungen über die Gestaltung des Sozialismus hinterlassen, und auch bei Lenin finden sich nur vereinzelt Hinweise. Er wußte, daß es sich bei der Gesellschaftsordnung in Rußland nach 1918 allenfalls um einen Staatskapitalismus handelte, der Sozialismus sollte schrittweise aufgebaut werden - siehe GOELRO-Plan.

Stalin wollte in 2 Fünfjahrplänen eine sozialistische Gesellschaft errichten - das mußte Utopie bleiben, denn, wenn eine Gesellschaftsordnung entwickelt werden soll, so stehen im Prinzip nur Erfahrungen der Vergangenheit zur Verfügung. Hinzu kommt, daß diese einmal ins Werk gesetzte gesellschaftliche Umgestaltung ihre Eigendynamik entwickelte. Das Ergebnis war, daß man in Verbindung mit der sogenannten sozialistischen Industrialisierung, die ja, wie gesagt, in Rußland Züge der ursprünglichen Akkumulation trug, zwangsweise bei adäquaten Sozialismusvorstellungen, und die gegenüber das, was die utopischen Sozialisten anzubieten hatten, nicht hinaus, ankam. Da die Gesellschaft aber eine Eigendynamik entwickelte, die man nicht zu beherrschen fürchtete, kam es zu den von Frank Adler genannten Faktoren und somit eigentlich zur Selbstliquidierung dieser Gesellschaft. Der 'sozialistischen Gesellschaft' der DDR hafteten in der Tat utopische Züge an, und die Staatsfunktionäre verhielten sich wie die utopischen Sozialisten, von denen es im Kommunistischen Manifest heißt: "An die Stelle der gesellschaftlichen Tätigkeit muß ihre persönliche erfinderische Tätigkeit treten, an die Stelle der geschichtlichen Bedingungen der Befreiung phantastische, an die Stelle der allmählich vor sich gehenden Organisation des Proletariats zur Klasse, eine eigens ausgeheckte Organisation der Gesellschaft. Die kommende Weltgeschichte löst sich für sie auf in Propaganda und die praktische Ausführung ihrer Gesellschaftspläne."(63)

Es bleibt also nach wie vor die Frage nach der Gestaltung des Sozialismus offen. Andererseits fehlt es auch nicht an Versuchen, das, was der Sozialismus beinhalten soll, zu bestimmen. Barbara Sichtermann schreibt beispielsweise: "Der Sozialismus, abgestaubt und klar geschrieben, könnte vom 'System' zum schlichten Monitor werden, auf dem u. a. folgende in Ost und West flexibel anwendbare Programme erscheinen:

    - Soziale Sicherheit
    - Arbeit für alle (Modell Schweden)
    - Arbeitszeitverkürzung
    - Garantiertes Gemeineigentum
    - Genossenschaften
    - 'Die Wohnungsfrage' (so schon Engels)
    - Ökologischer Umbau
    - Basisdemokratie
    - Frauenquoten
    - Mitbestimmung
    - Plebiszit

Jedes dieser Stichworte ist lange schon in der Debatte, jedes entstammt im weitesten Sinne sozialistischem Denken. Keines ist erledigt, keines desavouiert."(64)

In letzerem möchte man Barbara Sichtermann zustimmen. Die angebotene Sicht aber geht vom Individuellen aus, wie sich das Einzelwesen die Gesellschaft wünscht. Der gesamtgesellschaftliche Aspekt fehlt, den Marx, dem man sicher sozialistisches Denken nicht absprechen kann, in der Kritik des Gothaer Programms wie folgt formuliert: "Nehmen wir zunächst das Wort Arbeitsertrag im Sinne des Produkts der Arbeit, so ist das der genossenschaftliche Arbeitsertrag, das gesellschaftliche Gesamtprodukt. Davon ist abzuziehen:

Erstens: Deckung zum Ersatz des verbrauchten Produktionsmittel.

Zweitens: Zusätzlicher Teil für die Ausdehnung der Produktion.

Drittens: Reserve oder Assekuranzfonds gegen Mißfälle, Störungen durch Naturereignisse etc."

Dann geht er auf die Konsumtion ein und räumt mit Recht der gesellschaftlichen Konsumtion Vorrang ein, wenn er schreibt: "Bevor es zur individuellen Teilung kommt, geht hiervon wieder ab:

Erstens: Die allgemeinen nicht zur Produktion gehörigen Verwaltungskosten.

Zweitens: Was zur gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen bestimmt ist, wie Schulen, Gesundheitsvorrichtungen etc.

Drittens: Fonds für Arbeitsunfähige etc., kurz für, was heute zu der sogenannten offiziellen Armenpflege gehört."

Und resümierend schreibt er folgenden Satz: "Erst jetzt kommen wir zu der "Verteilung", die das Programm unter Lassalleschem Einfluß bornierterweise allein ins Auge faßt, nämlich an den Teil der Konsumtionsmittel, die unter die individuellen Produzenten der Genossenschaft verteilt wird."(65)

All die von Barbara Sichtermann erhobenen Forderungen lassen ja solche Dinge wie Bildungs- und Gesundheitswesen, Sozialversicherung, Fürsorge für Alte, Behinderte und Erwerbsunfähige außer acht. Deutlich wird daran, daß die Frage nach dem Wesen des Sozialismus weiter in der Diskussion bleiben muß.

Auch eine andere Frage muß geklärt werden, nämlich, wie denn der Sozialismus der Zukunft realisiert werden soll. Sicher ist heute eine Oktoberrevolution, die ja den Weg zum Sozialismus öffnen sollte, nicht mehr möglich.

Die Gesellschaft muß sich, sofern man voraussetzt, daß der Sozialismus als Gesellschaftsordnung einmal Realität werden soll, ihren Weg dorthin suchen. Tatsächlich glaubten Marx und Engels, daß die Menschheit so oder so auf dem Weg zum Sozialismus fortschreitet. Thomas Marxhausen schreibt dazu: "Die Crux besteht darin, daß Marx und Engels der Überzeugung waren, den tatsächlichen Geschichtsprozeß wie er verlief und in Zukunft verlaufen muß, eingefangen zu haben. So heißt es im 'Manifest': 'Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, eine unter unseren Augen vor sich gehende geschichtliche Bewegung.'"(66)

In diesem Zusammenhang bemerkt Heiko Feldner: "Der Marxismus steckt in der Krise,. vor allem, weil das klassische Produktions- und Klassenkampfparadigma nicht greifen. Der Kapitalismus scheint die Nichtlösung seiner Konflikte zu beherrschen und, mit einer zweckrationalen Vitalität von geschichtlicher Einmaligkeit ausgestattet, alle auf gleicher Schiene konkurrierenden Systemansätze/Versuche überleben zu können."(67)

Bei de Äußerungen belegen, daß man jetzt auch bei den Linken beginnt, sich Marx und Engels nicht mehr wie Heilige, die im Besitz absoluter Wahrheit sind, zu nähern, sondern mit kritischem Blick, wie es sich für jeden echten Wissenschaftler gehört. Marx selbst hatte ja eine Lieblingsmaxime: "An allem ist zu zweifeln." Seit Marx' Ableben sind mehr als 100 Jahre vergangen, seine Arbeitsmethoden aber, in gesellschaftliche, ökonomische und politische Zusammenhänge einzudringen und diese offenzulegen, sind bis heute weder veraltet noch vergessen, sondern nachahmenswert.



© Wolfgang Bernhagen, Berlin 1994



Anmerkungen

1 Vgl. Wolfgang Leonhard, Spurensuche. Vierzig Jahre nach Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln 1992, S. 3072

2 Vgl. Hans Modrow, Aufbruch und Ende, Hamburg 1991, S. 125

3 Vgl. Willi Germs (DKP) in: "War die DDR sozialistisch?", Streitgespräch am 19. September 1992 in Gelsenkirchen. Eine Dokumentation herausgegeben von Rolf Vellay, Gelsenkirchen 1993, S. 17
Vgl. Heinz Jung, Abschied von einer Realität. Zur Niederlage des Sozialismus und zum Abgang der DDR. Tagebuch Sommer 1989 bis Herbst 1990 Historischer Abriß und Chronik von Fritz Krause. IMSF Forschung und Diskussion 6, Frankfurt am Main 1990, Vorwort des Herausgebers (Jürgen Reusch), S. 5
Vgl. Willi Diekhut, Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, Düsseldorf 1988, S. 561
Vgl. Erich Honecker, Moabiter Notizen, Berlin 1994, S. 12

4 Vgl. Carl-Heinz Janson, Totengräber der DDR. Wie Günter Mittag den SED-Staat ruinierte, Düsseldorf-Wien-New York 1991

5 Vgl. Jürgen Kuczynski, Ein Leben in der Wissenschaft der DDR, München 1994, S. 20

6 Vgl. Karl Eduard von Schnitzler, Provokationen, Hamburg 1993, S. 113

7 Vgl. Günter Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin und Weimar 1991, S. 206

8 Vgl. W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus in: W. I. Lenin, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, Moskau 1946, S. 767 ff.

9 Vgl. Joel Carmichael, Die russische Revolution, Von der Volkserhebung zum bolschewistischen Sieg, Hamburg 1967, S. 11, rde Sachgebiet Geschichte

10 Vgl. Wadim Jerusalinskij, Die neue Sicht der eigenen Geschichte, in: Marxistische Blätter 1/89, S. 78

11 Vgl. G. Smirnow, Über die Leninsche Sozialismuskonzeption, in: Hintergrund - Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik III/89, S. 36

12 Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, in: Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden, Berlin 1990, S. 128, Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung.

13 Vgl. Paul Levi, Einleitung zu: Die russische Revolution, eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlaß von Rosa Luxemburg, in: ebd. S. 190/91.

14 Vgl. W. I. Lenin, Rede auf dem I. Kongreß der landwirtschaftlichen Kommunen und Artels. In: W. I. Lenin, Werke, Bd. 30, S. 189.

15 Vgl. W. I. Lenin, Die Aufgaben der Jugendverbände (Rede auf dem III. Gesamtrussischen Kongreß der kommunistischen Jugendverbände Rußlands). In: W. I. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 289.

16 Vgl. W. I. Lenin, Die große Initiative. In: W. I. Lenin, Werke, Bd. 29, S. 413.

17 Vgl. W. I. Lenin, Über das Genossenschaftswesen. In: W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, S. 460.

18 Vgl. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft - Antidühring, Berlin 1948, S. 365.

19 Vgl. Rote Arbeit. Der neue Arbeiter in der Sowjetunion, herausgegeben von Jürgen Kuczynski, Berlin 1931, S. 160.

20 Vgl. H. R. Kniekerbocker, Der rote Handel droht! Der Fortschritt des Fünfjahresplanes der Sowjets, Berlin 1931, S. 164/165/190

21 Vgl. A. Kurski, Die Planung der Volkswirtschaft in der UdSSR, Moskau 1949, S. 60.

22 Vgl. Friedrich Engels, a.a.O., S. 183.

23 Vgl. Friedrich Engels, a.a.O., S. 346.

24 Vgl. W. Leltschuk - L. Koschelewa, Die Industrialisierung der UdSSR. Wahl des Kurses, in: Gert Meyer (Hrsg.) Wir brauchen die Wahrheit - Geschichtsdiskussion in der Sowjetunion. 2. überarb. und erw. Aufl., Köln 1988, S. 317, Kleine Bibliothek Politik und Zeitgeschichte 488.

25 Barbara Sichtermann, Was heißt hier Sozialismus?, in Freibeuter Nr. 43/1990, S. 57.

26 Vgl. Dietrich E. Franz, Saint Simon, Fourier, Owen. Sozialutopien des 19. Jahrhunderts, Köln 1988, S. 108.

27 Philip S. Foner/Reinhard Schultz, Das andere Amerika. Geschichte Kunst und Kultur der amerikanischen Arbeiterbewegung, 3. Aufl., Berlin 1986, S. 54.

28 Vgl. Joachim Höppner, Waldtraud Seidel-Höppner, Theorien des vormarxistischen Sozialismus und Kommunismus, Köln 1987, S. 47. Studien zur Dialektik.

29 Vgl. Rote Arbeit, a.a.O.

30 Vgl. H. R. Knickerbocker, a.a.O.

31 Vgl. Charles Fourier, in: Der Traum vom besten Staat, Texte aus Utopien von Platon bis Morris, herausgegeben von Helmut Swoboda, 3. Aufl., München 1987, S. 293 - 294. dtv Dokumente Nr. 2955.

32 Vgl. Annelie und Andrew Thorndike, Das russische Wunder, 4. Aufl., Berlin 1963, S. 173.

33 Vgl. Annelie und Andrew Thorndike, a.a.O., S. 171.

34 Dietrich F. Franz, a.a.O., S. 107 - 108.

35 Annelie und Andrew Thorndike, a.a.O., S. 171.

36 Vgl. H.R. Knickerbocker, a.a.O., S. 46 - 47.

37 Vgl. Erinnerungen von Marschall Georgi Shukow. Aufgezeichnet von Konstantin Sinow. In: Gert Meyer (Hrsg.) Wir brauchen die Wahrheit. Geschichtsdiskussion in der Sowjetunion. a.a.O., S. 229

38 Vgl. Herbert Wolf, Hatte die DDR eine Chance, Hamburg 1991, S. 8.

39 Vgl. Karl Eduard von Schnitzler, Der rote Kanal, Hamburg 1992, S. 316.

40 Vgl. Lew Kopelew, Aufbewahren für alle Zeit, München 1992, Abschnitt 11 in Ostpreußen, S. 91 ff. dtv Biographie 30024

41 Vgl. Michail Gorbatschow, Über die Umgestaltung und die Kaderpolitik der Partei. Bericht und Schlußwort des Generalsekretärs des ZK der KPdSU auf dem Plenum des ZK der KPdSU am 24. - 28. Januar 1987, Moskau 1987, S. 53.

42 Vgl. Michail Gorbatschow, a.a.O., S. 13.

43 Vgl. Günter Reimann, Berlin - Moskau 1932. Das Jahr der Entscheidung, Hamburg 1993, S. 10.

44 Wolfgang Weber, DDR - 40 Jahre Stalinismus, Ein Beitrag zur Geschichte der DDR, Essen 1992, S. 20.

45 Vgl. Andreas Malycha, Wladislaw Hedeler, Die Stalinisierung der SED, Mainz 1991, S. 23 - Podium IV.

46 Vgl. Andreas Malycha, Der "besondere deutsche Weg" zum Sozialismus. Eine Ackermann-Legende? in: Utopie Kreativ, Heft 6, Februar 1991, S. 55 ff. inb. S. 63.

47 Vgl. War die DDR sozialistisch?, a.a.O., Heinz Schmidt (PDS).

48 Vgl. Ein Dokument von großer historischer Bedeutung vom Mai 1953, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Heft 5/1990, S. 651.

49 Vgl. Ebd., a.a.O., S. 652.

50 Vgl. Juri Kwizinskij, Vor dem Sturm, Berlin 1993, zitiert nach einem Auszug in der Berliner Zeitung Nr. 68 vom 22. März 1993 - Ulbricht fürchtet eine Explosion.

51 Vgl. Ebd., a.a.O.

52 Vgl. Karl Eduard von Schnitzler, Der rote Kanal, Armes Deutschland, Hamburg 1992, S. 202.

53 Günter Mittag, a.a.O., S. 210.

54 Vgl. Werner Eberlein, Programmierte Niederlage?, in OhnMacht DDR-Funktionäre sagen aus, herausgegeben von Brigitte Zimmermann und Hans-Dieter Schütt, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 60.

55 Vgl. Dr. Heinz Jung (PDS) "Privilegien" ja, "Bourgeoisie" nein - Befreiungsaktion des XX. Parteitages (1956), in: War die DDR sozialistisch?, a.a.O., S. 46.

56 Vgl. Erich Honecker, Zu dramatischen Ereignissen, Hamburg 1992, S. 27

57 Vgl. Erich Honecker, a.a.O., S. 18.

58 Vgl. Katastrophen der gesellschaftlichen Situation in der Ex-DDR. Stefan Eggerdinger im Gespräch mit Jürgen Kuczynski, in: Streitbarer Materialismus Nr. 15, Dez. 1991, S. 10.

59 Vgl. Eva Kellner und Angelika Soldan, Die Reduktion des Individuums, eine Auseinandersetzung mit der sozialistischen Ethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4/1991, S. 432.

60 Vgl. Rolf Reißig, Der Umbruch in der DDR und der Niedergang realsozialistischer Systeme, in: BISS Public, wissenschaftliche Mitteilungen aus dem Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien, Heft 1/1991, S. 57.

61 Vgl. Frank Adler, Das Bermuda-Dreieck des Realsozialismus Machtmonopolisierung - Entsubjektivierung - Nivellierung. Rückblick auf die Gesellschafts- und Sozialstruktur der DDR und ihre Erosion, in: BIS Public, a.a.O., Heft 2/1991, S. 6.

62 Vgl. Ebd., a.a.O., S. 7.

63 Vgl. Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, S. 51.

64 Vgl. Barbara Sichtermann, a.a.O., S. 61.

65 Vgl. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 2, Berlin 1952, S. 14 - 15.

66 Vgl. Thomas Marxhausen, Tagtraum "Traum von einer Sache" Erwachen, in: Politische Theorien des Marxismus im Wandel historischer Entwicklungen. Bonn 1991, S. 185. Schriften der Marx-Engels-Stiftung, Bd. 17.

67 Heiko Feldner, Historische Mission des Proletariats?, in: Ebd., a.a.O., S. 150.










 

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