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Marxismus, "destruktive Aufklärung" und Shoa![]() Manfred BehrendIn seinen historischen Essays stellt Traverso Unterschiede zwischen den Antisemitismen in Frankreich und Deutschland sowie die Einzigartigkeit von Auschwitz, genau gesagt der Shoa insgesamt, dar. Die Vernichtung der Opfer aus biologischer Motivation heraus war hier - genau wie im Fall der Sinti und Roma - kein Mittel, sondern Zweck. Instruktiv ist die Schilderung des Warschauer Ghettoaufstands 1943, in dem eine kleine Schar junger Jüdinnen und Juden, allein auf sich gestellt, bis zum Tod gegen militärisch und zahlenmäßig weit überlegene SS-Truppen kämpfte. Die Ansicht des Autors, das Ereignis sei damals deshalb kaum beachtet worden, weil zur selben Zeit die Rote Armee zur Gegenoffensive in Stalingrad antrat (S. 133), trifft nicht zu. Vielmehr war die deutsche 6. Armee schon zerschlagen. Die Isoliertheit der Ghettokämpfer liegt offensichtlich auf gleicher Ebene wie das Ausbleiben deutscher Proteste gegen die Judenverfolgung, jeder polnischen, französischen und italienischen Partisanenaktion gegen Deportationen jüdischer Menschen oder Bombardierung der SS-Bewacher von Vernichtungslagern durch alliierte Flugzeuge. Bereits im Vorwort hat Traverso die wesentlich progressive Judenemanzipartion im 19. Jahrhundert zugleich als zwiespältig gekennzeichnet. Sie verwandelte die Betroffenen in gleichberechtigte Bürger, doch sollten diese dafür ihre Identität aufgeben, also aufhören, Juden zu sein. Die liberalen und sozialistischen Erben der Aufklärung, so der Autor, hätten es nicht gewagt, dies uniformisierende Paradigma anzugreifen. Der Kampf für Emanzipation machte der Pflicht zur Assimilierung Platz. Im 20. Jahrhundert seien dann die europäischen Juden aller emanzipatorischen Errungenschaften beraubt worden. Schließlich hätten die Nazis sie zu Unmenschen deklariert und vernichtet. (S. 8 f.) Den Marxismus wertet der Verfasser als wirkungsmächtigstes und lebendigstes emanzipatorisches Denken der Moderne. Er wirft ihm andererseits - prinzipiell zu Recht - vor, den Völkermord an den Juden lange Zeit kaum wahrgenommen zu haben. (S. 11) Leo Trotzki und Walter Benjamin seien Ausnahmen gewesen, die sich vom seit der II. Internationale eingewurzelten Glauben an einen durch Produktivkraftentwicklung verursachten unaufhaltsamen Menschheitsprogreß gelöst hatten. So sagte Trotzki 1938 voraus, ein neuer Konflikt - der II. Weltkrieg - könnte zur physischen Auslöschung der Juden Europas führen. Benjamin skizzierte 1940 eine neue historische Sicht, bei welcher die Idee der Katastrophe den Fortschritts-Mythos ersetzte. (S. 81) Traverso würdigt hieran anschließende Versuche, im Rahmen des Marxismus "Auschwitz zu denken" - solche der Frankfurter Schule seit Mitte der 40er Jahre und den Versuch Ernest Mandels Ende der 80er. Mandel, dem dies Buch gewidmet ist, sah wie Hannah Arendt im extremen Rassismus der Imperialisten und Kolonialisten einen Keim zum Holocaust; dieser Keim bringe das Übel in seiner schlimmsten Form dann hervor, "wenn der rassistische Wahnsinn mit der tödlichen partiellen Rationalität des modernen industriellen Systems verbunden wird". (S. 23) Eben das geschah in den durchrationalisierten Vernichtungslagern der Nazis. Aus anderer Motivierung als deren spezifischem Rassenwahn wurde es aber noch bei weiteren Gelegenheiten praktiziert. Die Erkenntnis von der "destruktiven Dimension der Aufklärung" (S. 84) und einer unermüdlichen technischen Weiterentwicklung, die angeblich nur Segen stiftet, verallgemeinert Traverso in dem Satz: "Statt den Eisenkäfig der gesellschaftlichen Beziehungen zu sprengen, werden das Wachstum der Produktivkräfte und der technische Fortschritt zur Basis der modernen totalitären Behemoths wie des Faschismus, des Nationalsozialismus und - in anderer Form - des Stalinismus. Nach Auschwitz, Hiroshima und Kolyma besteht heute die Alternative nicht mehr zwischen Sozialismus und dem Niedergang der Menschheit, sondern eher zwischen einem Sozialismus, verstanden als neuer Zivilisation, und der Vernichtung der Menschheit." (S. 33) Der Autor kritisiert den linksbürgerlichen Intellektuellen Jean-Paul Sartre, weil dieser in seinen "Überlegungen zur Judenfrage" 1945 überholte und falsche Maßstäbe anlegte, beispielsweise beim Pogrom stehen blieb und zu Auschwitz fast ungebrochen schwieg, mithin die Tiefe und Dramatik des Problems nicht erfaßte. Er wirft Daniel Jonah Goldhagen vor, in "Hitlers willige Vollstrecker" 1996 den entscheidenden bürokratisch-industriellen Aspekt der "Endlösung" ebenfalls nicht einbezogen, die Bedeutung der Vernichtungslager und Gaskammern kleingeredet und als Wurzel der Shoa einen vorgeblich strukturellen Makel deutscher Geschichte ausgemacht zu haben, welcher durch die demokratische Umerziehung nach 1945 verschwunden sei. Derlei Argumente entlasten die Hauptschuldigen am millionenfachen Massaker und bagatellisieren gleichzeitig heute drohende Gefahren. Traverso greift die rechtskonservativen Historiker Ernst Nolte, Francois Furet und Stéphane Courtois an, die in den 80er und 90er Jahren eine neue antikommunistische Welle hochpeitschten. Durch Verleumden der russischen Revolution als "totalitaristisch", Darstellung von Auschwitz als einer Kopie "asiatischer" Barbarei und generelle Kriminalisierung des Kommunismus (Nolte bzw. Courtois) suchten sie weiteren Ansätzen zur menschlichen Emanzipation vorzubeugen. Der Verfasser polemisiert andererseits gegen "linke" Historiker und Politologen, die in einfacher Umkehrung des Nolte-Schemas den Stalinismus als "Ergebnis der schweren faschistischen Bedrohung" hinstellen. (S. 173) Im letzten Essay erörtert der Verfasser Norman Geras‘ Buch "The Contract of Mutual Indifference. Political Philosophy after the Holocaust", London 1998. Hier und in anderen Publikationen wendet sich der englische Mitstreiter gegen die aus Besitzindividualismus resultierende moralische Indifferenz, welche die Verhinderung und Ahndung politischer Verbrechen ausgerechnet "dem die Gewalt monopolisierenden Apparat und Instrument der schrecklichsten Katastrophen unserer Epoche", dem Staat, überträgt. (S. 181) Schon Victor Serge, bemerkt Traverso, habe sich keinen Sozialismus vorstellen können, der den Menschen nicht respektiert. Andere Marxisten hätten gleichartige Standpunkte eingenommen. Die Arbeit von Geras stelle in diesem Rahmen "einen ersten (und den am meisten fortgeschrittenen) Versuch dar, ausgehend von einer Kritik der politischen Philosophie zu einer ethischen Neufundierung des Sozialismus zu kommen". (S. 189) Auch wegen der Übersetzung Paul B. Kleisers und Ulla Varchmins ist Traversos Buch trotz teilweise schwieriger Problematik gut lesbar. Den Ausführungen über Schwachstellen im bisherigen Marxismus wird manch Linker nicht ohne weiteres zustimmen, zumal der Autor seine Thesen oft apodiktisch vorbringt. Doch konfrontiert uns diese Arbeit - was allemal nützlich ist - mit Fragen, die sich viele noch nicht gestellt haben. Sie regt zu weiterem Nachdenken an - auch über eine eventuell nötig werdende Weiterentwicklung der Theorie. © Manfred Behrend Quelle: INPREKORR, Köln, 01/2001 Enzo Traverso: Nach Auschwitz. Die Linke und die Aufarbeitung des NS-Völkermords. Neuer ISP Verlag, Köln 2000 ISBN 3-929008-22-X, 220 Seiten, Paperback, 29,80 DM ![]() ![]() ![]() |
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GLASNOST, Berlin 1990 - 2019 |
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