Start

Buchveröffentlichungen  











Manfred Behrend

Rezension

Leo Trotzki: Stalin. Eine Biographie. Übersetzt von Raymond Kuhlmann. Arbeiterpresse Verlag, Essen 2001, 505 S.


Die deutsche Zweitausgabe von Trotzkis Stalinbiographie ist, von Fehlerkorrekturen und dem Nachwort abgesehen, mit der 1952 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen ersten Ausgabe identisch. Von den zwölf Kapiteln hat der Autor sieben fertiggestellt. Fünf Kapitel und beide Nachträge blieben fragmentarisch und wurden durch Übersetzer Charles Malamuth komplettiert, z. T. durch Auszüge aus anderen Trotzki-Schriften.

Der Verfasser stellt den Lebensweg seines schlimmsten Widersachers von der Geburt über den Besuch der Pfarrschule Gori und des Tifliser Priesterseminars bis zur Tätigkeit als Berufsrevolutionär dar. Ebenso wenig wie anderen gelang es ihm, aufzudecken, dass Stalin ab 1921 seinen Geburtstag vom 18. 12. 1878 auf den 21. 12. 1879 verlegte. Das enthüllten erst 1990 die Moskauer "Iswestija". Trotzki stellte aber genügend Unwahrheiten in der offiziellen Stalinbiographie fest, die wesentlich auf Berijas erfundener Historie der sozialdemokratischen Organisationen Transkaukasiens 1934 und der vom Generalsekretär mitverfassten "Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang" 1938 beruhte. Seine Forschungen ergaben: Nicht "Koba", wie Josef Dschugaschwili sich nach einer Romangestalt nennen ließ, sondern andere führten die georgische und kaukasische Sozialdemokratie. Er war in untergeordneter Position an organisatorischer Arbeit und Flugblattagitation beteiligt und trat weder bei Demonstrationen und Komiteegründungen, noch in der Revolution von 1905 oder bei Überfällen auf Geldtransporte hervor. Seiner Karriere wegen bemühte er sich, ab 1912 als Stalin firmierend, um Anschluss an die bolschewistische Auslandsleitung. Zugleich strebte er Einvernehmen mit menschewistischen Partei-Liquidatoren an und suchte Lenins Linie schroffer Abgrenzung von ihnen zu unterlaufen. Als die "Prawda" auf bolschewistischen Kurs gebracht wurde, befand sich Stalin in Krakau und Wien. Er erarbeitete dort 1913 mit Lenins Hilfe seinen einzigen Theoriebeitrag  "Der Marxismus und die nationale Frage". (195 ff.) In den Gefängnis- und Verbannungsjahren beschäftigte er sich nicht mit theoretischen Studien.  

Das umfangreiche siebente Kapitel ist Vorgängen von 1917 gewidmet. Stalin, unterdes ZK-Mitglied, kommt an manchen Stellen nicht vor, weil er inaktiv oder abwesend war. Nach der Rückkehr aus Sibirien verdrängte er im März in Petrograd  linke Bolschewiki aus ZK-Büro und "Prawda"-Redaktion, um danach mit Lew Kamenew einen "gemäßigten" Kurs zu steuern. Beide unterstützten bedingt die bürgerliche Provisorische Regierung, unbedingt den von Sozialrevolutionären und Menschewiki dominierten Petrograder Sowjet, der die Regierung an der Macht hielt. Sie waren für Fortsetzung des Krieges als "Vaterlandsverteidigung" und den Vorschlag der Menschewiki, die Sozialdemokratie wiederzuvereinigen. Arbeiter der Großbetriebe lehnten dergleichen ab. Lenin forderte nach Rückkehr aus dem Schweizer Exil eine radikale Korrektur der Parteipolitik. Seine Aprilthesen orientierten auf Kampf bis zum Sturz der Regierung, Aufklärung der Massen über Menschewiki und Sozialrevolutionäre als deren Helfer, Durchsetzung der Sowjetmacht und revolutionäre Lösung aller wichtigen Fragen. Trotzki verdeutlicht, dass hierum hart gerungen wurde. Stalin schloss sich formal der neuen Linie an, leistete ihr aber weiter Widerstand. Während der Verleumdungskampagne gegen Lenin und Sinowjew als "deutsche Agenten" zählte er zu denen, die den Vorschlag, beide sollten einer gerichtlichen Vorladung folgen, zurückwiesen. Als Lenin später zum Aufstand drängte, Sinowjew und Kamenew aber öffentlich davor warnten, sorgte Stalin mit dafür, dass sie in der Partei blieben.

Von den unvollendet gebliebenen Kapiteln behandelt das achte Konflikte um den Brester Frieden und Stalins Tätigkeit als Volkskommissar für Nationalitätenwesen. Hinsichtlich Brest-Litowsk äußerte Letzterer angesichts der bolschewistisch-linkssozialrevolutionären Mehrheit für einen "revolutionären Krieg", Trotzki habe mit seiner "mittleren" Position: weder Fortsetzung des Krieges noch Unterzeichnung eines Diktatfriedens den Ausweg aus schwieriger Lage gewiesen. (315) 20 Jahre später fälschte er den "Ausweg" zum versuchten Dolchstoß in den Rücken der Sowjetmacht um.

Kapitel neun und zehn informieren über Vorgänge im Bürgerkrieg, darunter Konflikte mit der von Stalin geförderten "Zaritzyner Tendenz" – administrative Unordnung und Aufsässigkeit gegenüber der Moskauer Zentrale – in Woroschilows X. Armee, über Kämpfe mit Judenitsch und Denikin sowie mit Polen. In dem Russland von diesem aufgezwungenen Krieg setzten Lenin und die Mehrheit der KPR-Führer gegen Trotzkis, Radeks und Rykows Warnung auf einen Marsch nach Warschau, durch den sie die polnische Revolution auslösen wollten. Die Rote Armee erlitt eine Niederlage. Zur Katastrophe trug die eigene Südgruppe unter Stalin bei. Sie drang befehlswidrig weiter in Richtung Lemberg vor, statt den offensiv gewordenen Polen in die Flanke zu fallen. Gleich den Revolutionsereignissen wurden auch die militärischen später falsch dargestellt. Zum Polenkrieg ziehen Stalins Fälscher Trotzki zweier entgegengesetzter Verhaltensweisen. Einerseits sollte er es als "kleinbürgerlicher Revolutionär" für unzulässig erachtet haben, "die Revolution von außen her nach Polen hineinzutragen"; andererseits habe er gegen Lenins und Stalins Willen Revolutionsexport "auf der Spitze der Bajonette... nach Europa"  vorgehabt. (390 f.) Verknüpft mit falschen Vorstellungen über Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, ist die zweite Legende immer noch im Schwange.

Entwicklungen vor und nach Lenins Tod sind Gegenstand des elften und zwölften Kapitels. So die von Stalin mitbewirkte Angliederung Georgiens und Unterdrückung der besten dortigen Bolschewiki; Lenins Plan, mit Trotzki gegen die in Staat und Partei wuchernde Bürokratie anzugehen; die Vorbereitung einer "Bombe" Lenins gegen Stalin für den XIII. Parteitag, die nicht mehr gezündet werden konnte; Auseinandersetzungen um den 1923  versuchten "deutschen Oktober"; der Streit des Triumvirats aus Sinowjew, Kamenew und Stalin mit 46 führenden Bolschewiki und Trotzki nach deren Forderung, die  innerparteiliche Demokratie wiederherzustellen. Im letzten Fall ist Malamuth beim Ergänzen ein Fehler unterlaufen. Er behauptet, die ZK-Resolution vom 5. 12. 1923 für offene Aussprachen in der KPR (B) sei ohne Trotzki zustande gekommen. (412) Tatsächlich wirkte dieser hochgradig daran mit und konnte im wesentlichen seinen Standpunkt durchsetzen. Allerdings war das ein Pyrrhussieg.

Von den Nachträgen ist der über die thermidorianische Reaktion wichtig. Der zweite, "Ein Kinto an der Macht", ist es weniger. Im ersten befasst sich Trotzki mit Ideen, die Stalins Gruppe im Kampf gegen die linke Opposition nutzte. Erstens wurde diese bezichtigt, zu Lasten der Bauern eine "Überindustrialisierung" anzustreben; zweitens Trotzkis "permanente Revolution" attackiert und durch das "defensive" Dogma vom "Sieg des Sozialismus in einem Land" ersetzt; drittens zog Stalin, um Privilegien für die Bürokratie "marxistisch" zu begründen, gegen die "Gleichmacherei" zu Felde. (440 ff.)

Der Anhang besteht aus Trotzkis Artikel über drei Konzeptionen der russischen Revolution. Es sind das menschewistische Konzept, bis zum Sieg der Demokratie die liberalen Bourgeois zu unterstützen, das Lenins zur Erweiterung des Revolutionsrahmens durch eine "demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" und das ab 1905 von Trotzki  auf Marxscher Grundlage entwickelte Konzept der permanenten Revolution. Angesichts der konterrevolutionär gewordenen Bourgeoisie sind danach demokratische Ziele nur durch die Diktatur des Proletariats erreichbar, die den Anstoß zu Arbeiterrevolutionen in den kapitalistischen Hauptländern geben würde; mit ihrer Hilfe könnte die sozialistische Etappe auch in Russland beginnen.  

Trotzkis Stalinbiographie blieb Fragment. Als NKWD-Agent Mercader am 20. 8. 1940 den Hieb mit dem Eispickel vollführte, wurden Teile des vorhandenen Manuskripts zerstört. Das im Nachwort Wolfgang Zimmermanns zitierte Urteil Isaac Deutschers, selbst wenn es Trotzki vergönnt gewesen wäre, die Biographie zu vollenden, würde sie sein schwächstes Werk sein, ist ungerecht. Entgegen Deutschers Ansicht war Stalin, anders als Cromwell und Napoleon, kein Hüter und Treuhänder, sondern Totengräber der Revolution. Die russische Gesellschaft erfuhr durch ihn keine derart "gründliche und vielseitige Umschichtung, dass eine Rückwärtsentwicklung ausgeschlossen erscheint". (490 f.) Durch Beihilfe zur Machtübernahme der Bürokratenkaste und Liquidierung der Oktober-Revolutionäre leitete Stalin selbst die Rückwärtsentwicklung ein.  

Wahr sind folgende Erkenntnisse Trotzkis: Erstens das von 1909, auch im Bolschewismus existierten antirevolutionäre Züge, die "eine furchtbare Gefahr erst nach dem revolutionären Siege zu werden" drohten. (255) Zweitens die in dieser Biographie: "Um das stalinistische Regime zu errichten, war nicht eine bolschewistische Partei vonnöten, sondern die Ausrottung der bolschewistischen Partei." In dem totalitären Organisationsgefüge, das sie ablöste, "lagen alle für die Reaktion notwendigen Elemente eingeschlossen, die sie unter der offiziellen Fahne der Oktoberrevolution mobilisierte". (449 bzw. 454)

Wiederholt verweist der Autor auf Eigenschaften Stalins, welche diesen mit zu seiner  unheilvollen Rolle befähigten. So auf die Bedenkenlosigkeit, mit der er theoretische Standpunkte taktischen Wendungen anpasste, auf seine Verschlagenheit  und Kunst der Heuchelei. Letztere veranlasste ihn, im Kampf gegen den "Trotzkismus" zeitweise wie ein unparteiischer Schiedsrichter aufzutreten, wodurch seine Partner als hauptverantwortlich für die Kampagne erschienen. (446) Neben zutreffenden Urteilen unterlaufen Trotzki Fehlurteile, beispielsweise wenn er sich in Stalins Gefühlswelt hineinzuversetzen sucht und meint, dieser habe auf Lenins Aprilthesen hin "nur Hilflosigkeit und scheelen Neid" verspürt. (254) Der Satz, in historisch bedeutsamen Fragen sei persönlicher Hass ein minderwertiges und verächtliches Gefühl, das blind macht, ist zweifellos richtig. (414) Der Autor selbst war nicht immer frei davon.

In einer Zeit weitverbreiteter Gleichsetzung von Bolschewismus und Stalinismus ist Trotzkis letzte große Arbeit "ein wichtiger Beitrag zur Klärung der Grundfragen des vergangenen Jahrhunderts", konstatiert Zimmermann. (491) Er deutet damit die fortdauernde Aktualität des Werkes an. Ungeachtet mancher Lücke bringt es dem Leser, noch dazu auf spannende Art, wichtige, z. T. kaum bekannte Details der russischen und der Revolutionsgeschichte nahe.

Manfred Behrend, Berlin 2001








 

GLASNOST, Berlin 1990 - 2019