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Buchveröffentlichungen  











Rezension

Manfred Behrend

Leichen aus dem Keller der SPD

Frank R. Reitzle (Hrsg.): Philipp Scheidemann: Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil. Klampen Verlag, Lüneburg 2002. 236 S., Hardcover, 19,80 Euro.


Auch die sozialdemokratische Bewegung hat Leichen im Keller. Bisweilen wird eine exhumiert, bzw. es taucht neues Belastungsmaterial auf. Solches ist in einer Mitte der 30er Jahre von Philipp Scheidemann (1865-1939) verfassten "Kritik der deutschen Sozialdemokratie und ihrer Führung" enthalten, die mit anderen zeitgenössischen Texten  erstmals in diesem Buch veröffentlicht wird. Der einstige Mit-Vorsitzende, Chef der Reichstagsfraktion, Volksbeauftragte und erste Reichsministerpräsident der Partei hat kaum oder gar nicht bekanntes Material beigesteuert, mit dem Geschichte exakter gestaltet werden kann.

Interessant sind die taktischen Meinungsverschiedenheiten, die nach Scheidemann bei  Übereinstimmung im Ziel zwischen ihm und dem anderen SPD-Chef, Friedrich Ebert d. Ä., aufkamen. So ließ sich Erstgenannter im Oktober 1918 nur mit Mühe ins Kabinett Prinz Max von Badens entsenden und verließ es baldmöglichst wieder, weil nach seiner Meinung die Sozialdemokratie keine Verantwortung für das Ende des Krieges übernehmen sollte. Ebert dagegen verlangte, sich jetzt nicht zu "versagen". Scheidemann drang auf rasche Abdankung des Kaisers. Ebert suchte sie hinauszuzögern und erbat sich, durch  Max von Baden zum Kanzler-Nachfolger ernannt, den Prinzen als Reichsverweser, um eine konstitutionelle Monarchie zustande zu bringen. Scheidemann rief am 9. November die "Deutsche Republik" aus. Er dachte, sie würde eine günstige Vereinbarung mit der Entente schließen und den "Bolschewismus" abwenden können, rief aber beim Antirepublikaner Ebert Verdruss hervor.

1919 sprachen sich der nunmehrige Reichspräsident und die Nationalversammlung für die Unterzeichnung des Friedensdiktats von Versailles aus. Scheidemann trat demgegenüber nicht nur mit dem Satz "Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?" (S. 129) hervor, sondern auch von seinem Posten zurück. Einen Monat später protestierte er gegen die Äußerung seines Ebert ergebenen Amtsnachfolgers Gustav Bauer, die Regierung werde sich überlegen müssen, wie im Interesse der Vertragserfüllung mit der Entente "jeder unüberlegte Streik verhindert werden kann". (S. 132)

Aktuell erscheinen Fälle, in denen Scheidemann ab 1919 vor der äußersten Reaktion warnte. So hatte der preußische Oberst Reinhardt die SPD-geführte Reichsregierung "Lumpengesindel" genannt. Scheidemann verlangte seine sofortige Entlassung, biss aber bei Ebert und Reichswehrminister Noske auf Granit. In einer Volksversammlung und im Reichstag erklärte er, Jahre vor Reichskanzler Wirth: "Der Feind steht rechts!" (S. 139) Die zeitweise Einstellung des Kampfes, verbunden mit dem Abgang ins Kasseler Oberbürgermeisteramt, hat sich der Autor nie verziehen.

Bald darauf warnte er mehrfach erneut vor reaktionären Umtrieben in der Reichswehr und um sie. Nach dem Kapp-Putsch 1920 feierte Scheidemann den Etappensieg über militärische Gewalt als "Tatsache von weltgeschichtlicher Bedeutung", durch die Arbeiterschaft dank ihrer Geschlossenheit erreicht. (S. 144) Er betrieb zugleich Noskes Ablösung als Minister, erwähnt dies aber nicht in seiner Schrift und verharmlost sogar Noske als nur "vertrauensselig" gegenüber den Militärs. (S. 145) Das Feuer gilt weiter Friedrich Ebert. In rechtsextremen Kreisen machte sich Scheidemann so unbeliebt, dass die Organisation Consul ihn 1923 vor dem Rathenau-Mord mit einem Blausäure-Attentat bedachte und die Nazis später drohten, ihn nach der Machtübernahme am Brandenburger Tor aufzuhängen.

Im gleichfalls hier abgedruckten Rapport Scheidemanns über Flucht und Emigration ab 1933 übt er scharfe Kritik an der Haltung der SPD-Spitze zur Hitlerbewegung. Er erinnert sich der Weisung: "Keiner darf auf eigene Faust etwas unternehmen. Der Parteivorstand ist auf alles vorbereitet und wird im richtigen Moment auf den Knopf drücken." (S. 30) Zur Enttäuschung Scheidemanns und vieler anderer tat dieser nichts und überließ dem Todfeind kampflos das Feld. Anders als der deutsche Pensionär Noske und die Gehalt beziehenden SPD-Führer in Prag litt Scheidemann bittere Not. Die Partei hatte für ihn nichts übrig, nur ausländische Genossen sorgten für etwas Unterstützung. Er selbst vermochte für geringes Honorar (etwa 3,50 RM je Artikel) kleinere Arbeiten in der Auslandspresse abzusetzen, nicht allerdings die größeren. Das gilt auch für die ebenfalls hier erstmals veröffentlichte Schrift "Zum Neuen Weltkrieg führt Hitlers Politik", in der er nachwies, dass "Mein Kampf" alle wesentlichen später angesteuerten Expansionsziele enthält. Der Verfasser kritisierte zugleich den Westen, der Hitler überall, besonders in Spanien, gewähren ließ.

Erwähnt werden muss auch, dass Scheidemann seine Mitverantwortung für das Zusammengehen mit reaktionären Militärs am Anfang der Weimarer Republik und Vorgänge wie den Mord an Luxemburg und Liebknecht schlicht "vergaß". Er machte mehrfach die Linke für von Rechten und rechten Sozialdemokraten provozierte Zusammenstöße verantwortlich und gab sogar den Kommunisten die Hauptschuld am NS-Sieg. (S. 219) Die SPD-Führung nach 1945 ließ sich durch solcherart Linientreue nicht beirren. Sie blockierte den Abdruck der Exilschriften und folgte dabei der von Ollenhauer im Brief an Scheidemanns Tochter Louise ausgegebenen Parole, "dass es im Interesse der Partei liegt, wenn das Manuskript, in dem sich Ihr Vater ja teilweise sehr kritisch mit der offiziellen Politik der Partei in der Weimarer Republik auseinandersetzt, nicht in der gespannten Situation veröffentlicht wird". (S. 8) Auch früheren SED-Genossen dürfte diese Denkungsart bekannt vorkommen. Die "Situation" dauerte an. Erst Scheidemanns Urenkel Hans Pirschel und dessen Freund, der Herausgeber, haben  die Exil-Schriften ein Dreivierteljahrhundert danach publizieren können.

Manfred Behrend, Berlin 2002


(Unter dem Titel "Im Interesse der Partei" in Neues Deutschland, Berlin, 23. 5. 2003 zum 140. Gründungstag der deutschen Sozialdemokratie veröffentlicht)








 

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