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Buchveröffentlichungen  









Manfred Behrend

Rezension

Michael Pittwald: Ernst Niekisch. Völkischer Sozialismus, nationale Revolution, deutsches Endimperium. PapyRossa Verlag, Köln 2002, 355 S.

Der aus Schlesien stammende Feilenhauersohn und Volksschullehrer Ernst Niekisch (1889-1967) findet bis heute auf unterschiedliche Art Beachtung. Tätigkeit unter Sozialdemokraten und Kommunisten, Kritik an Hitler und sechs Jahre Zuchthaushaft im Dritten Reich weisen ihn als progressiv aus. Doch ist die Ideologie, die er verfochten hat, reaktionär und z. T. faschistisch. Die Rezeptionsgeschichte seines Wirkens im ersten Kapitel erweist, dass er bei Liberalen und Linken auf Kritik stößt, während völkisch Gesinnte, der nationalrevolutionäre Flügel des BRD-Neonazismus und der 1992 wiedererweckte Hofgeismarer Kreis der Jungsozialisten ihm applaudieren.

Im zweiten Kapitel zeichnet der Verfasser Niekischs Biographie seit dem SPD-Beitritt 1917, seine Rolle als Vorsitzender des Augsburger Arbeiter- und Soldaten- bzw. des bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrats 1918/19 nach. Er trat für bürgerlichen Parlamentarismus und gegen Rätemacht ein. In der SPD, der er nach Beitritt des rechten USPD-Flügels zu ihr 1922 wieder angehörte, unterstützte er den nationalistischen ersten Hofgeismarer Kreis. Seiner auf ein Bündnis mit Sowjetrussland gegen den Versailler Vertrag gerichteten Konzeption halber wandte sich die SPD 1926 von ihm ab, worauf er den Widerstandskreis und die Zeitschrift "Widerstand" gründete. Mit Gesinnungsfreunden wie dem wegen Kapp-Putsch-Teilnahme 1920 aus der SPD ausgeschlossenen August Winnig und Angehörigen des 1923 am Hitlerputsch beteiligten Bundes Oberland steuerte er, 1926/28 auch in der Alten Sozialdemokratischen Partei, einen Kurs gegen die Weimarer Republik. Er und die Seinen verbanden sich u. a. mit Strassers "Schwarzer Front", mit den Brüdern Jünger, Arnolt Bronnen und Ernst von Salomon. Als Konkurrenten der NSDAP suchten sie deren Machtantritt zu verhindern. Niekisch kritisierte vor dem 30. 1. 1933 öffentlich, danach intern mit verbaler Schärfe Hitler – so wegen dessen zeitweiliger Neigung zu legalem Vorgehen. (75) Dass er und seine Anhänger, wie Vorwortautor Martin Bennhold meint, Hitler als zu rechtsextrem erschienen und deshalb verfolgt wurden (9), trifft jedoch nicht zu. Sie waren ihm lästig und hätten ihm in kritischer Zeit gefährlich werden können.

1945 schloss sich Niekisch der KPD an, wirkte aber anfangs mehr mit der SPD zusammen. Seine Schrift "Europäische Bilanz" erschien 1951 dank Grotewohls Intervention, nachdem ein gegen Juden gerichtetes Kapitel daraus entfernt worden war. Im SED-Machtbereich war Niekisch, weiter Westberliner, in Volkskammer und Kulturbund aktiv; zugleich hielt er Kontakt zur BRD-Intelligenz. Reibereien mit der Partei führten an der Humboldt-Universität zur vorzeitigen Emeritierung. Als Druckkulisse wurden – ein im Buch fehlendes Detail – studentische Randalierer gegen ihn eingesetzt. Nach Kritik von seiner Seite an dem Kurs, der zum 17. 6. 1953 führte, zog sich Niekisch aus dem politischen Leben zurück. Doch wurde er weiter mit DDR-Medaillen geehrt und stand bei sowjetischen Politikern in hohem Ansehen. Im Westen wurden ihm, obwohl prominente Bundestagsabgeordnete ihn unterstützten, bis kurz vor seinem Tod wegen früherer Ost-Nähe Entschädigungszahlungen für den Zuchthausaufenthalt unter Hitler verweigert.

Im dritten Kapitel steht Niekischs "Widerstandsideologie" zur Debatte. Sie richtete sich gegen Fremdherrschaft über Deutschland und deren innerpolitische Stützpfeiler – nach dem ersten Weltkrieg gegen Versailles, Frankreich und die Weimarer Republik, nach dem zweiten gegen USA und Adenauer. Niekisch plädierte für Anlehnung an die Sowjetunion. Wie in anderen während der Weimar-Zeit entwickelten Volksgemeinschaftskonzepten wurden auch in seinem die Arbeiter gepriesen. Sie sollten aber ganz dem Staat untertan sein. Die soziale Frage resultierte laut Niekisch aus einem allein durch die Siegermächte verursachten Elend. Staatliche Oberhoheit über die Wirtschaft sollte nicht die Profite schmälern, aber die Ökonomie in den Dienst von Rüstung und Expansion stellen. An der Staatsspitze müsste ein vom Vertrauen aller getragener Führer stehen. Der Verfasser benennt Feindbilder der "Widerstandsbewegung". Dazu gehörten das "römische" Abendland, Christentum und das Frankreich ab 1789, das Gleichheitsprinzip, Liberalismus und Feminismus, städtisches statt ländliches Leben und die Juden. (161) Niekischs Rassismus ist nicht auf Massenmord gerichtet. Doch gibt es auch zu dem Hitlers Parallelen, die Pittwald nicht erwähnt. Nach blutiger Abrechnung mit "verräterische(n) Bundesgenossen des auswärtigen Feindes" im Innern (157) sollte das "französische Europa" mit Russlands Hilfe in Schutt gelegt, "ein deutsch beherrschtes Mitteleuropa" errichtet werden. (176) Deutsche "Arbeitssoldaten" mit Slawen und Tataren als formbarem Rohstoff würden den Ostraum neu ordnen. Danach wäre gegen "Veramerikanisierung" und "asiatisches Chaos" ein "Endimperium" durchsetzbar. (182 ff.)

Der Autor präsentiert im vierten und fünften Kapitel Ferdinand Lassalle und Johann Gottlieb Fichte als geistige Vorläufer Niekischs. Fichte (1762-1814) propagierte nach Preußens Niederlage von 1806 einen Krieg der Deutschen als allen anderen überlegenes, weil germanenstämmiges "Urvolk" gegen Frankreich. Ihr Nationalcharakter sollte sich "allmälig über die gesamte Menschheit" verbreiten. (220 f.) Zuvor hatte Fichte den "geschloßnen Handelsstaat", ein Gemeinwesen mit dichten Grenzen, Außenhandelsmonopol und Staatskapitalismus vorgeschlagen, das den Bürgern "Nationalehre" anerziehen und im Expansionsfall "natürliche Grenzen" ansteuern solle. (320 ff.) Lassalle (1825-1864) zielte darauf ab, die Arbeiter unter einem "national-sozialen Führer" für den deutschen Einheitsstaat zu begeistern. Im Innern sollte ein "soziales Königtum" installiert werden. (204 ff.) Pittwald verweist darauf, dass der ebenfalls auf Preußen orientierte Niekisch seinen Vorgängern in vielem folgte, sich aber von Lassalles Wohlfahrtsstaat 1925 verabschiedete. (209) Das Buch regt an, weiter über Verbindungen zwischen Nationalismus, völkischem Pseudosozialismus und der Arbeiterbewegung bis in ihre kommunistische Fraktion hinein, aber auch über mögliche Beiträge von dieser Seite her zum "Realsozialismus" und dessen Ende nachzudenken.


Manfred Behrend








 

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