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Buchveröffentlichungen  









Manfred Behrend

Rezension

Ernst Thälmann – Mensch und Mythos. Hrsg. von Peter Monteath.

GERMAN MONITOR No. 52. Editions Rodopi B. V., Amsterdam-Atlanta 2000, X und 208 S.


Der Band mit Beiträgen von neun AutorInnen basiert auf einer Thälmann-Tagung des Vereins „Aktives Museum Faschismus und Widerstand“ im Februar 1993, deren Ergebnisse damals keinen Verleger fanden. Dank der Initiative des Australiers Monteath konnten sieben Jahre später mehrere wichtige Vorträge von damals, z. T. aktualisiert, zusammen mit anderen Aufsätzen zur Thematik publiziert werden. Es entstand das bisher nuancenreichste Bild des parteikommunistischen Führers und der um seine Person gewobenen Legende.

Im ersten und zweiten Teil des Buches werden Angaben über Thälmanns Leben mit der Legende konfrontiert. Hermann Weber, Regina Scheer und Klaus Kinner berichten vorrangig über historische Ereignisse. Dabei gibt Weber eine Gesamteinschätzung. Scheer stellt Thälmanns Jugend frei von nachträglichen Korrekturen dar, wie sie 1948 Willi Bredel im Parteiauftrag anbrachte. Kinner würdigt den Aufstieg zum KPD-Vorsitzenden, den Pakt der damaligen Parteiführung 1928 mit Stalin gegen die „Rechte“, Thälmanns Rettung durch den KPdSU-Generalsekretär nach der Wittorf-Affäre und die Stalinisierung der KPD. Berichte der Thälmann-Kuriere über Äußerungen des prominentesten Gefangenen der Nazis ab 1933 sind Gegenstand eines Beitrags von Annette Leo. Wiederholt bat Thälmann, Stalin möge „seine geniale Kunst spielen“ lassen, „um mich frei zu bekommen“. (S. 88 f.) Doch ließ ihn der Diktator im Stich: Als Märtyrer im Kerker Hitlers war ihm der Unterführer lieber denn als potentieller Konkurrent in der Sowjethauptstadt. Ein weiterer Aufsatz Leos gilt der Legendenbildung um „Teddy“, wie der Mann von Anhängern genannt wurde. Die Autorin konstatiert, dass es zwei Arten Thälmann-Kult gab: den offiziellen, staatstragenden, der der Rechtfertigung der KPD-Politik vor 1933 diente und dann zum „Herzstück der Legitimation der SED“ wurde (S. 26 f.), und einen in der Parteibasis entstandenen, der den Proletarier gebliebenen Parteichef als „Projektionsfläche für untergründige, stille und beinahe rebellische Hoffnungen auf eine Alternative zum Sozialismus in der DDR“ nutzte. (S. 18) Fehler birgt der Artikel insofern, als vom Treffen am 7. 2. 1933 in Ziegenhals als der „letzten Tagung des Zentralkomitees der KPD“ die Rede ist, das es nicht war, der Ort dieses Treffens vom Ufer des Großen Zugs an das des Zeuthener Sees verlegt und behauptet wird, die SED habe Tatsachen wie Thälmanns Rettung nach der Wittorf-Affäre oder den Ausschluss innerparteilicher Konkurrenten verschwiegen. (S. 24 f. und 27 f.) In Wahrheit wurden diese Vorgänge, Anfang der 50er Jahre sogar die Sozialfaschismustheorie glorifiziert. Darüber, ob Thälmann 1924 oder 1925 Parteivorsitzender wurde, sind Weber, Kinner und Leo uneins.

Thema des besonders umfangreichen dritten Buchteils ist der Kult in der DDR. Egon Grübel, 1996 unter dem Pseudonym Thilo Gabelmann Verfasser des Stalinisten empörenden Buchs „Thälmann ist niemals gefallen? Eine Legende stirbt“, beschäftigt sich mit dem „Brief an einen Kerkergenossen“, der erstmals Oktober 1950 im „Neuen Deutschland“, danach in diversen Büchern und Broschüren erschien, bis 1994 auch bei der Thälmanngedenkstätte in Hamburg. Mit seinem „kämpferischen“ und zugleich salbadernden Ton stellte er vornehmlich ein Instrument zur Jugenderziehung dar. Er ist eine durch Streichungen und sprachliche Korrekturen bewirkte Fälschung, die Walter Ulbricht im Interesse der Story vom allzeit siegesgewissen, gütigen und weisen KPD-Führer einleitete und diverse Parteihistoriker vollendeten. Das As unter diesen Historikern, Lothar Berthold, fälschte auch die 1965er Thälmann-„Briefe aus dem Gefängnis“, wobei er vorsichtshalber die im Parteiarchiv lagernden Originale sperren ließ. (S. 99) Interessant ist Grübels Hinweis, Thälmanns in allen Parteipublikationen ungenannt gebliebener “Kerkergenosse“ sei kein sozialistischer Mitkämpfer, sondern ein krimineller Verbrecher gewesen. Ob die Gestapo diesem Hans-Joachim Lehmann die Feder führte, wie Grübel spekuliert, sei dahingestellt. Verdächtig ist die Sache auch deshalb, weil Lehmann nach seiner Enttarnung gegenüber der SED, von der er sich Vorteile versprach, spurlos verschwunden ist. (S. 97 f.)

Die 1954 bald nach Erstaufführung des von der Parteispitze befohlenen DEFA-Films „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“ verfasste Polemik des Altkommunisten Erich Wollenberg (1892-1973) räumt mit den ärgsten darin enthaltenen „heroischen“ Lügen auf. Ein anschließender Beitrag des Mitarbeiters der DEFA-Stiftung Berlin Detlef Kannapin auch über den zweiten Film „Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse“ ist in der Aussage schwächer. Doch birgt auch er der historischen Wahrheit dienende Argumente, so gegen die Tendenz, alles Gute sei zur Weimar-Zeit und danach von stalintreuen Parteikommunisten ausgegangen, das Üble insbesondere vom lenkenden US-amerikanischen und deutschen Monopolkapital, von diesen dienstbaren Sozialdemokraten und KPD-Abweichlern.

Peter Monteath stellt in seinem Artikel fest, in der DDR habe es 331 Thälmann-Gedenkstätten gegeben, dazu mehrere Gemälde, zahlreiche nach dem Vorsitzenden benannte Straßen und Plätze, einen dito Pionierpark, die den Jungen Pionieren vorbehaltene Plakette usw. Die Teilnehmern an der gescheiterten Westberlin-Demonstration im August 1951 verliehene Thälmann-Medaille der FDJ ist ihm entgangen. Das Hauptaugenmerk Monteaths und eines weiteren Beiträgers, Martin Schönfelds, gilt den ab 1946 – zuerst in Meerane – aufgestellten Thälmann-Denkmalen in der DDR. Sie entfernten sich immer mehr vom menschlichen Vorbild hin zur „Kombination von spätstalinistischem Byzantinismus und modernistischer Symbolhaftigkeit“, die dem 1986 auf Honeckers Weisung in Berlin-Prenzlauer Berg installierten Koloss Lew Kerbels eignet. (S. 170) Aufschlussreich sind auch mitgeteilte Details über Rangeleien um die Gestaltung. Das Kitschigste wurde verhütet. Zwecks Integrierung des Kerbel-Monuments in die auf dem Boden des ehemaligen Gaswerks angelegte Parklandschaft waren z. B. ein Aussichtsturm, um Thälmann ins Auge blicken zu können, die Denkmalsinstallierung auf rotierender Drehscheibe und die Konfrontration mit automatischen Winkelementen angeregt worden. (S. 201)

Der Verfasser erinnert daran, dass der Widerstand gegen die zum Anlegen des Parks notwendige Gasometersprengung einer der ersten sichtbaren Vorboten weitverbreiteter Unzufriedenheit mit Honeckers Regime war. (S. 195) Die Proteste in den 90er Jahren gegen den geplanten Denkmalsabriss waren meines Erachtens weniger auf Erhalt eines fragwürdigen Kunstwerks als darauf gerichtet, ein weiteres Unternehmen zum Plattwalzen jedweder Erinnerung an den zweiten deutschen Staat zu vereiteln.


© Manfred Behrend










 

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