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Buchveröffentlichungen  









Manfred Behrend

Rezension

Die MEGA-Tragödie

Vom gescheiterten ersten Anlauf der Marx-Engels-Gesamtausgabe Beiträge zur Marx-Engels-Forschung.

Sonderband 1: David Borisovic Rjazanov und die erste MEGA, 278 Seiten.
Sonderband 2: Erfolgreiche Kooperation. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Moskauer Marx-Engels-Institut (1924-1928), 439 Seiten
Sonderband 3: Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931-1941), 460 Seiten
Argument-Verlag Berlin-Hamburg, 1997, 2000 und 2001

Ungeachtet intensiver „marxistisch-leninistischer“ Schulung wussten in der DDR lange Zeit nur wenige über die erste MEGA Bescheid. Meine Unkenntnis stellte sich heraus, als unseren Obertanen nach dem XXII. KPdSU-Parteitag Anfang der 60er Jahre auffiel, dass Stalin nicht mehr „in“ war. Sie wollten das Problem  auf gewohnt stalinistische Weise, durch Totschweigen, erledigen. In einem Buchprojekt, das ich als Lektor zu betreuen hatte, sollten die vielen Quellenangaben nach Marx/Engels/Lenin/Stalin, „Zur deutschen Geschichte“ durch andere ersetzt werden. Der stellvertretende Cheflektor meinte frohgemut, wir könnten ja die längst vorhandene Marx-Engels-Gesamtausgabe nutzen, da müsse alles drinstehen. Erkundigungen brachten uns darauf, dass das nicht ging: Die MEGA war ein Torso geblieben. Kurz davor hatte ich einen ihrer Bände in Händen gehabt. Ein französischer Genosse erklärte mir, hier stehe weit mehr von Marx, als im entsprechenden blauen Band der Marx/Engels-Werke (MEW). Wir fanden das empörend, hatten aber nur ein winziges Stück der MEGA-Tragödie erfasst.

Ein Gesamtbild von Entstehung und Ende des durch David Borisovic Rjasanov begründeten, 1927-1941 ansatzweise realisierten Projekts ergeben  die Sonderbände von Argument. Sie sind das Resultat deutscher und russischer Forschungen, vornehmlich auf Basis von Aktenfunden im früheren KPdSU-Archiv, heute Russisches Staatliches Archiv für Sozial- und Politikgeschichte Moskau. Gleichzeitig mit Aufsätzen enthalten die Bände Dokumente und Zeugenaussagen. Sie vermitteln einen Eindruck sowohl vom politischen Geschehen, als auch von der enormen Aufgabe, viele bisher ungekannte Originaltexte, Erstdrucke und Bücher mit Randglossen aufzuspüren, alles einzuordnen, mit den notwendigen Kommentaren, Anmerkungen und Fußnoten zu versehen und die Entwicklung des Denkens von Marx und Engels nachzuzeichnen. Die Publikation weist Doppelungen, Widersprüche und – speziell in Arbeiten Wladislaw Hedelers – z. T. verwirrende Zeitsprünge auf. Sie stellt keine Geschichte des ehrgeizigen und opferreichen Jahrhundertunternehmens MEGA dar, könnte aber ein wesentliches Zwischenergebnis auf dem Weg dorthin sein.

Sonderband 1 ist Leben, Werk und Kampf des Forschers und Revolutionärs Rjazanov (1870-1938) und dem Moskauer Marx-Engels-Institut (MEI) unter seiner Leitung bis 1931 gewidmet. Über ihn berichten vor allem die russischen Experten N. J. Kolpinskij und J. G. Rokitjanskij sowie der deutsche Experte Hedeler. Gleichzeitig werden das Verhältnis Rjazanovs zu Nikolai Bucharin, dem bolschewistischen Historiker Pokrovskij, dem menschewistischen Berliner Korrespondenten des Instituts Nikolaevskij, dem führenden MEI-Mitarbeiter Deborin, dem deutschen Engels-Biographen Gustav Mayer und wichtige institutionelle Vorgänge behandelt. In Band 2 und 3 finden sich, teilweise verstreut, zusätzliche Angaben.

David Goldenbach, der sich später Rjazanov nannte, wurde als Sohn einer vermögenden jüdischen Familie in Odessa geboren. Das Wirken für die Sozialdemokratie im Zarenreich brachte ihm neun Jahre Gefängnis und Verbannung ein, die er als „Universitäten des Lebens“ nutzte, um sich zum Wissenschaftler heranzubilden. Frühzeitig bekam er zu maßgeblichen deutschen Sozialdemokraten Kontakt. Bebel erlaubte ihm, im SPD-Archiv zu arbeiten. Mit der Mitwirkung an den Bänden „Aus dem Nachlaß von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle“ begann seine Tätigkeit als Kommentator und Herausgeber von Schriften der Klassiker. Zudem war er Geschichtsschreiber der ersten Internationale. Nach der Oktoberrevolution 1917 ordnete Rjazanov das Archivwesen Russlands als damals weltoffener Institution neu und gründete das MEI, das 1924 im bald erweiterten Moskauer Dologorukij-Palais unterkam. Als Direktor eines Instituts, das Forschung, Archiv, Bibliothek und Zeitschriftenredaktionen vereinigte, Bücher herausgab und ein intereuropäisches Korrespondentennetz unterhielt, wurde er zum hervorragenden Wissenschaftsorganisator. Zwar verhielt er sich zuweilen autoritär, wirkte aber bei der 1927 anlaufenden MEGA-Edition bahnbrechend und duldete keine Schlamperei. Mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung unter seinem Freund und früheren Lehrer Carl Grünberg sowie Felix Weil wirkten er und das MEI zeitweise eng zusammen.

Politisch hielt Rjazanov sowohl zu Menschewiki als Bolschewiki Kontakt, schloss sich aber bis 1917, als er mit den Interdistriktlern zur Lenin-Partei stieß, keiner Gruppierung an. Er bewahrte Lenin gegenüber seine Unabhängigkeit und trat ihm in vielen Fragen, von der innerparteilichen Demokratie bis zur bolschewistischen Alleinherrschaft, entgegen. Nach dem Tode Lenins wies er dessen Gleichstellung mit Marx als Theoretiker, den von Grigori Sinowjew kreierten „Marxismus-Leninismus“, den Kult um den verstorbenen Führer und den hierauf aufbauenden Stalinkult zurück, ebenso die Legende vom „Sozialismus in einem Lande“ und andere vom Generalsekretär verordnete antimarxistische Dogmen. Auch missbilligte er den seit 1928 von der Komintern forcierten Feldzug gegen „Sozialfaschisten“, der dazu führte, dass der SPD-Vorstand die Kontakte mit dem MEI abbrach. Rjazanovs Drängen auf strengste Wissenschaftlichkeit, die Ablehnung jeder Auslassung oder Verfälschung von Originaltexten trug gleichfalls zu Reibungen mit der Stalinbürokratie bei.  Sein Einsatz für Gerechtigkeit gegenüber Andersdenkenden, „Abweichlern“ wie Gegnern der Bolschewiki, die Beschäftigung marxistischer Fachleute aller sozialistischen Richtungen am MEI und in dessen Korrespondentennetz vergrößerte den Unmut der Herrschenden. So war ihnen Nikolaevskij ein Dorn im Auge, der dem Institut Unmengen von Material, vor allem Fotokopien, für die MEGA verschaffte. Nach dem ersten Moskauer Schauprozess 1936 publizierte er den möglicherweise auf Bucharin zurückgehenden „Brief eines alten Bolschewiken“, in dem umfassend über Konflikte in der KPdSU-Spitze wegen Stalins Kurs und über dessen Vorgehen berichtet wurde. Ebenso wie dieses Faktum enthalten die Sonderbände auch ein anderes nicht: dass Leo Trotzki der prominenteste Übersetzer eines Marx-Textes ins Russische war, hatte ihm doch Rjazanov „Herr Vogt“ in die Verbannung nach Alma Ata geschickt.

Jahre vor dem Kirow-Mord Ende 1934 wurden der Leiter und alle unsicheren oder unliebsamen Kantonisten auf Stalins Geheiß aus dem MEI entfernt. Das geschah nach mehrjährigen, zunächst sporadischen Attacken in der Presse, welche durch herabsetzende Flüsterpropaganda verstärkt wurden. Rjazanow ward am 15. 2. 1931 unter der falschen Beschuldigung verhaftet, er habe für die Menschewiki ihm übergebene Dokumente aufbewahrt, die sich dann aber nie auffinden ließen. Nach Saratow verbannt, kam er 1937 erneut in Haft, nun wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer „trotzkistischen“ Organisation. Auf Stalins Geheiß wurde er am 21. 1. 1938 zum Tode verurteilt und per Genickschuss liquidiert. Weder bei Vernehmungen noch vor dem Tribunal hatte er irgendeine ihm angedichtete Schuld zugegeben. „Er wurde“, wie Kolpinskij konstatiert, „erschossen, weil er Marxist war, sich nicht dem Stalinismus unterwarf, und weil er ein Gelehrter und eine ehrliche und unabhängige Persönlichkeit war. Nach seinem Untergang stirbt, oder genauer gesagt, wird die große Sache seines Lebens hingerichtet: die vollständige akademische und historisch-kritische Ausgabe des literarischen Nachlasses von Marx und Engels in der Originalsprache (MEGA).“ (S. 175) Mit Sicherheit hat dies das internationale Kapital erfreut.

Sonderband 2 birgt, beschrieben von Rolf Hecker, die Geschichte der Gesellschaft und des  Instituts für Sozialforschung in Frankfurt/Main in deren orthodox-marxistischer erster Entwicklungsphase, dazu die erstmals hier veröffentlichte Korrespondenz, die sich 1924/28 durch das Zusammenwirken mit dem MEI ergab. Auch die wissenschaftlichen Publikationsorgane „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ resp. „Marx-Engels-Archiv“ unterstützten einander. Gemeinsam unterhielt man die Marx-Engels-Verlagsgesellschaft (MEAV), um die deutsche Ausgabe der MEGA herauszubringen. Warum sich die Partner wieder trennten und das Frankfurter Institut die MEAV verließ, worauf das MEI sie als Berliner Marx-Éngels-Verlag GmbH weiterführte, wird durch die Darstellung und Dokumente nicht vollständig klar.

Der Sonderband 3 ist seinem Umfang nach der gewichtigste. Rokitjanskij berichtet über die Durchsuchung des Dolgorukij-Palastes seitens der OGPU nach Rjazanovs Inhaftnahme im Februar und die „Säuberung“ des MEI vom Gros der Mitarbeiter im März 1931. Die Durchsuchung hatte 15 Aktenbände zum Ergebnis, die kein Menschewiki-Dokument, wohl aber Belege für Rjazanovs Einsatz zugunsten politisch Verfolgter, Dienstkorrespondenz und Theoriearbeiten enthielten. Protokolle der von KPdSU und Komintern bestellten, in Abwesenheit der Betroffenen tagenden Überprüfungskommission sind zum ersten Mal abgedruckt. Von den 143 Angestellten wurden 131, von den 44 KPdSU-Mitgliedern unter ihnen 22 zur Entlassung vorgesehen resp. zur „Weiterbeschäftigung durch das ZK“ abkommandiert. Das Niveau der Apparatschik-Urteile erhellt aus Äußerungen des Stalin-Vertrauten Tovstucha, nun stellvertretender Institutsdirektor, des (von Rjazanov gefeuerten, jetzt wieder im Amt befindlichen) Parteizellensekretärs Kozlov und des Vertreters der Kreisleitung Sef. Sie erklärten eines ihrer Opfer zum „faulenden, ekligen antisowjetisch eingestellten Intelligenzlein“, das zudem pornographisch gesinnt sei, weil es gesagt habe, man könne schönen Frauen den Hintern küssen, ein anderes – Georg Lukács – zum philosophischen Abweichler und Idealisten; eine Gruppe Deutscher, speziell von der KPD hergeschickter, habe sich sämtlich „verdächtiger Auffassungen“ schuldig gemacht. (S. 38 f., 88 und 93) Sachlicher gehalten, wenngleich nicht minder bösartig ist der Bericht, den der neue Institutsleiter Adoratskij am 1. 4. 1931 dem Exekutivkomitee der KI erstattete. Er bezichtigte seinen Amtsvorgänger, „keinen Kampf gegen die Sozialdemokratie“ geführt und einen Marx-Brief deshalb zurückgehalten zu haben, weil dessen Autor 1881 missfällig über den jungen Kautsky urteilte. Adoratskij warf Rjazanov vor, er habe „abstrakte, parteilose Gelehrsamkeit kultiviert“ und eine populäre Marx-Engels-Ausgabe sabotiert, was genauso wenig wie alles andere zutraf. Zudem sei der Institutsgründer „vorwiegend im Rahmen derjenigen Arbeiten von Marx und Engels geblieben, wo sie noch Idealisten-Hegelianer waren“. (S. 115 f.) Hier wurde faktisch die Motivation dafür vorweggenommen, dass bestimmte Frühschriften in den MEW fehlen.

Hasserfüllt und dem Inhalt nach denunziatorisch waren die Attacken, die nach Ermittlungen Reinhard Müllers ein MEI-Mitarbeiter, der österreichische Stalinist und Majakowski-Übersetzer Hugo Huppert, 1930/31 in seinem Tagebuch ritt. Er nannte das Institut einen „Misthaufen von Zerfall und Fäulnis“, Durchgangsstätte für „kommunistische Prominente“ wie August Thalheimer, „Zufluchtsstätte für alle Gemaßregelten, Abgesägten und Ausgeschlossenen“, auch „Revisionisten“ à la Lukács. Rjazanov, den Huppert in einem Brief noch als „alten Maniaken“ (Wahnsinnigen) beschimpfte (S. 126), habe bei sommerlichen Auslandstourneen „alle verbotenen Stationen vom französischen Souvarine bis zum deutschen Brandler“ besucht und lange bei Menschenwiken verweilt. Seine Verhaftung und die „Säuberung“ des MEI wertete der Tagebuchautor dahingehend, der „Misthaufen von Konfliktstoffen“ sei derart gewachsen, dass nun auch die Außenwelt ihn wahrnehme. „Dieser Augenblick, auf den wir heimlich gehofft, ist endlich eingetreten!“ Hupperts Anwürfe zeugen nicht nur davon, dass der für wissenschaftliche Arbeit ungeeignete, sich benachteiligt fühlende Pamphletist Wut auf die Institutsobrigkeit und viele Kollegen akkumuliert hatte und das Tagebuch als Ventil nutzte. Wäre es Parteiinstanzen oder der Geheimpolizei in die Hand gefallen, was sehr leicht möglich war, hätte es schwersten Schaden angerichtet. Gleichzeitig bezeugte es Hupperts „Wachsamkeit“. Bei nächtlichen „Säuberungssitzungen“ der deutschen Sektion des Schriftstellerverbandes im September 1936 rühmte er sich Müller zufolge direkter Meldungen an die „Instanzen“. 1938 ging Huppert zu öffentlichen Angriffen auf die Sektionsspitze über, hatte damit aber den Bogen überspannt. Führende Mitglieder protestierten, und er verlor wegen „lügenhafter Verleumdungen“ seinen Posten als Leitungsmitglied. Kurz darauf verhaftet, erzählte er nachher einem Schriftstellerkollegen, man habe ihn mit „asiatischen Methoden“ gefoltert, die schlimmer als die von Willi Bredel im Buch „Die Prüfung“ beschriebene NS-Tortur wären. Das könnte eine Provokation gewesen sein, auf die jedoch der Zuhörer nicht hereinfiel. Eine Untersuchung gegen Huppert kam erst zwei Jahre später zustande. Dann wurde sie, was in solchen Fällen mehr als ungewöhnlich war, stillschweigend eingestellt. (S. 353 f.) 1945 zog Huppert als Sowjetmajor in Wien ein.

Ebenfalls im Band enthaltene Arbeiten Hedelers und dreier anderer Forscher gelten den Schicksalen von Mitarbeitern des MEI und seines 1931 durch Unterordnung unters Lenin-Institut entstandenen Nachfolgers Marx-Engels-Lenin-Institut (IMEL), ferner der Biographie des neuen Direktors V. V. Adoratskij. Von den Angestellten sind manche Stalins großer Tschistka zum Opfer gefallen – Alexander Emel (Lurje) schon beim ersten Schauprozess 1936, andere wie Karl Schmidt, der über Emel „berichtet“ hatte, und der „Brandlerianer“ Kurt Nixdorf später. Infolge interner „Säuberungen“ gab es 1938 im Institutsarchiv nur drei statt der vorgesehenen 30 wissenschaftlichen Mitarbeiter, so dass die Arbeit auch deshalb stagnierte.
Über Adoratskij (1878-1945), vordem Vizechef des Lenin-Instituts, vermelden die Autoren, er sei mit der Umwandlung des MEI in eine linientreue, vorrangig der Propaganda dienende Institution beauftragt worden und dem voll nachgekommen. Gleichwohl habe ihn der Diktator nicht geschätzt. Einem ZK-Sekretär rangmäßig gleichgestellt, wurde Adoratskij 1937 nicht zum Februar-März-Plenum des Zentralkomitees zugelassen, 1938 im Zeichen des mit Erscheinen der „Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang“ neuerlich intensivierten Stalinkults als Leiter des IMEL durch den Emporkömmling M. B. Mitin ersetzt. Nach seinem Amtsantritt hatte Adoratskij im institutseigenen „Marx-Engels-Archiv“, 1933 auch in einem Buch Briefe der Klassiker an führende Sozialdemokraten, die für einen späteren Band der MEGA bestimmt gewesen waren, separat veröffentlicht, insbesondere der Marxschen Anmerkung von 1881 über Kautsky wegen. In seinem Kommentar zur Publikation verdammte er gleichermaßen die Sozialdemokratie und Rjazanov. Zudem gab „Aduraki“, wie ihn böse Zungen nannten, von diesem und dessen Mitarbeitern weitgehend fertiggestellte MEGA-Bände unter seinem Namen heraus. Gleichzeitig wurden Bücher einer populären russischen Marx-Engels-Ausgabe einzig deshalb neu übersetzt, weil ihre bisherigen Interpreten nun „Parteifeinde“ waren.

Rolf Hecker würdigt in seinem Rapport über Fortsetzung und Ende der ersten MEGA 1931/41 den veränderten Editionsplan, in dessen Resultat die Arbeit an der Marx-Engels-Gesamtausgabe  spätestens im Herbst 1936 abgebrochen wurde, ausgenommen die an den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“. Diese erschienen 1939 und 1941 in Halbbänden vom Format, aber nicht mehr als Teil der MEGA. Der Inhalt dieser Marxschen Vorarbeiten und Exzerpte war z. T. brisant, die Darstellung schwer verständlich, so dass sie erst während der 60er Jahre im Westen reüssierte. (S. 252 f.)

 Die deutsche MEGA hatte 1933 durch Hitlers Machtübernahme einen beinahe tödlichen Schlag erlitten. Allerdings gelang es Hilde Vogel-Rothstein (später Eisler), einer Mitarbeiterin des Marx-Engels-Verlages zu Berlin, die Redaktionsunterlagen und Bestände des wesentlich der UdSSR gehörenden, nun von der Gestapo versiegelten Unternehmens in die Sowjetunion zu expedieren. Dort setzte die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter (VEGAAR) die Herausgabe der deutschen MEGA fort, solange der Vorrat reichte.

Das Sammeln von Marx-Engels-Dokumenten und anderen einschlägigen Materialien im Ausland war weitgehend ins Stocken geraten, nachdem das Korrespondentennetz infolge der „Säuberung“ zerrissen wurde und 1936 der unter Leitung Bucharins und Teilnahme Adoratskijs unternommene Versuch scheiterte, den Marx-Engels-Nachlass beim SPD-Vorstandsarchiv zu kaufen. Andere wesentliche Bestände bekam das IMEL deshalb nicht, weil seine Verantwortlichen mehrmals solange darum feilschten, bis das amerikanische Hoover-Institut sie sich schnappte. Die tüchtige Agnija Alexandrovna Majskaja, Frau des sowjetischen Botschafters in London und Nachfolgerin des britischen IMEL-Auslandskorrespondenten Stevens, konnte allerdings Marx- und Engels-Briefe aus dem Longuet-Nachlass und die Moskau noch fehlenden, ihm bislang verweigerten restlichen Protokollbände der Internationalen Arbeiterassoziation erwerben. Danach zu urteilen, was das MEI besaß, war es neben dem Amsterdamer IISG weiter die wichtigste Institution ihrer Art. Allerdings wurde der Bestand lange Zeit kaum wissenschaftlich genutzt.

Zu den interessantesten hier veröffentlichten Dokumenten zählen zwei Kapitel aus den Erinnerungen Hans Jägers, 1929/33 Geschäftsführer des Berliner Marx-Engels-Verlags. Nach ihrem Studium ist es unerfindlich, warum Kiepenheuer & Witsch die Memoiren nicht herausgebracht hat, als sie ihm in den 60er Jahren angeboten wurden. Behauptungen der damaligen Lektorin Carola Stern, die „politisch wichtigen Teile der Darstellung seien nicht gelungen“, sie enthielten „zuviel Rede, zu wenig Schreibe, zu viele Ungenauigkeiten“ (S. 375), sind nach dem zu urteilen, was hier vorliegt, schlicht falsch. Sollten andere, etwa politische Motive die Ablehnung verursacht haben?
Am Ende der durch die Argument-Sonderbände gespeisten Betrachtung muss leider festgestellt werden: Auch im MEGA-Fall wurde allgemein wenig aus der Geschichte gelernt. Für den Bekanntheitsgrad des ehrgeizigen wissenschaftlichen Unternehmens können große deutsche Nachschlagewerke als Messstab dienen. Meyers Neues Lexikon, zu DDR-Zeiten entstanden, enthält zur MEGA den dürftigsten Hinweis, der sich denken lässt, zu D. B. Rjazanov gar keinen. Selbstverständlich, ließe sich sagen, ist der aufrechte Mann und hervorragende Forscher doch erst 1958 juristisch und erst 1989/90, als das Lexikon längst  antiquarisch war, als Partei- und Akademiemitglied rehabilitiert worden.  Zwar erschien eine kleine Auswahl seiner Arbeiten und Briefe und von Erinnerungen an ihn 1993 beim Berliner Dietz Verlag als Buch. Ein entsprechendes, umfangreicheres russisches Projekt fiel indes der inzwischen im Lande ausgebrochenen „Freiheit und Demokratie“ zum Opfer. Der jüngste Brockhaus, heute Enzyklopädie-Flaggschiff der erweiterten BRD, kennt weder das Moskauer Marx-Engels-Institut oder dessen Nachfolger, noch die erste MEGA oder deren Begründer. Dass es der 1975 im zweiten Anlauf begonnenen Marx-Engels-Gesamtausgabe besser gehen wird als ihrer Vorgängerin, darf gehofft werden. Nach Ende des „Realsozialismus“ ist sie aus finanziellen Gründen mehrfach ins Schlingern geraten, hält sich aber noch.

Manfred Behrend (Berlin)


(HINTERGRUND, Osnabrück, Heft I/2003)









 

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