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Buchveröffentlichungen  









Manfred Behrend

Rezension

Der Straßburger Marat

Michael Schneider: Der Traum der Vernunft.
Roman eines deutschen Jakobiners. Ein deutscher Linker im 18. Jahrhundert

Autor Michael Schneider ist ein marxistisch orientierter Philosoph, Sozialwissenschaftler, Journalist, Schauspieldramaturg und Professor an der Ludwigsburger Filmakademie. Außer Novellen und Essays hat er wichtige zeitgeschichtliche Arbeiten veröffentlicht, so 1990 "Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie" über den DDR-Anschluß an die Bundesrepublik, zwei Jahre später "Das Ende eines Jahrhundertmythos. Eine Bilanz des Staatssozialismus" über das Scheitern nicht der Theorie von Marx, wohl aber des unter Stalin begründeten Nominalsozialismus. Der vorliegende Roman gilt einem Mann aus dem 18. Jahrhundert: dem Franziskanermönch, Prediger, Hochschullehrer, Poeten und Politiker Johann Georg Schneider (1756-1794), der im Kloster Bamberg den Vornamen Eulogius bekam. Das Buch ist  historisch getreu und zugleich zeitnah.

    M. Schneider schildert den Weg seines Zunamensvetters mit Vor- und Rückblenden und auf verschiedenen Erzähler-Ebenen, stets spannend und detailliert. Er setzt uns über Elogius" Leben als Weinbauernsohn in Franken, Jesuitenschüler, zur Ketzerei neigender Studiose, Klosterinsasse und Streiter für Toleranz ebenso ins Bild wie über sein Wirken als Stuttgarter Hofprediger, der dem despotischen Souverän Carl Eugen von Württemberg die sozialen  Leviten las, und als Professor für Schöne Wissenschaften in Bonn, welcher sich gleichermaßen durch locker-amouröse Verse und Solidaritätsbekundungen mit dem Pariser Bastille-Sturm bei deutschen Oberen unbeliebt machte.

    1791 siedelte Eulogius Schneider, wie andere Aufmüpfige seines Landes, nach Frankreich über. Vom Haupt demokratischer Aufklärer rechts des Rheins wurde er zum führenden linken Jakobiner im Elsaß. Er fand auch hier rasch Gegner, zunächst im Straßburger Bürgermeister Dietrich, dann in dessen pseudojakobinischem Amtsnachfolger  Monet und ihren Clans, mit denen er und seine Anhänger u. a. um Durchsetzung statt Verschleppung der Judenemanzipation sowie um Brüderlichkeit zwischen den Angehörigen verschiedener Völker statt französierender nationaler Unterdrückung stritten. Eulogius agierte für die Rettung des Elsaß vor einer österreichischen Invasionsarmee, nicht minder für die Interessen sozial benachteiligter Sansculotten. Er erwarb den Ruf eines Straßburger Danton und Marat. Robespierre, der Wohlfahrtsausschuß in Paris und der von ihnen entsandte Kommissar Saint-Just waren dem deutschen Aufklärer und potentiellen Konkurrenten nicht gewogen. Sie nutzten ihn als Öffentlichen Ankläger eines Revolutionstribunals, das mit fahrbarer Guillotine durchs Niederelsaß zog, um Spekulanten, Schieber, Hamsterer und politisch Mißliebige zu richten, und sich dadurch bei vielen Einheimischen unbeliebt machte. Andererseits entzogen sie ihm während seiner Abwesenheit von Straßburg durch Verhaftsaktionen die Basis im dortigen Jakobinerklub und Gemeinderat. Nach seiner Rückkehr ließen sie ihn unter einem Vorwand festsetzen, an den Pranger stellen und nach Paris schaffen. Dort wurde er von Robespierre und Saint-Just im Konvent verleumdet, vom obersten Revolutionstribunal auf Grund gefälschter "Beweise" wegen angeblicher Untreue, Machtmißbrauchs, Bereicherung, Bedrückung von Patrioten und Verschwörung gemeinsam mit Ex-Maire Dietrich und dem Ausland gegen die Republik und die Freiheit des französischen Volkes verurteilt und am 2. 4. 1794 guillotiniert. Offen reaktionäre Kräfte diskriminierten ihn als nunmehr auch durch Seinesgleichen überführte "Hyäne von Straßburg".

    Die politischen Intrigen und Anwürfe, der Justizmord, die mit Terreur und Tugend-Heuchelei der Robespierreaner einhergehende Korruption jedweder Art im Staate, aber auch der Ausblick auf die reaktionären Entwicklungen nach Jakobinerherrschaft, Thermidor und napoleonischem Kaiserreich weisen Parallelen zu weit späteren historischen Ereignissen, etwa zum Stalin-Terror nach der Russischen Revolution, zu den Moskauer Schauprozessen gegen einst führende bolschewistische Revolutionäre und zur kapitalistischen Kolonialherrschaft ab 1990 im Osten Deutschlands und Europas auf, ohne daß der Autor dies ausdrücklich erklären muß. Rückblenden, politische Beichten anderer Häftlinge gegenüber dem Romanhelden, seine  Gespräche mit ihnen während des Gefängnisaufenthalts in Paris und in den Text eingefügte philosophische Betrachtungen dienen dazu, sowohl damalige deutsche Zustände als besonders den Aufschwung und Niedergang der Französischen Revolution Revue passieren zu lassen, die Klassen, Schichten, politischen Parteiungen und Persönlichkeiten während der Revolution, den oftmals traurigen Alltag und die inneren Widersprüche im Helden selbst darzustellen, die Schuldfrage an Gewaltakten zu erörtern und die damaligen, oft zeitlos-aktuell  wirkenden Anschauungen miteinander zu konfrontieren.

    In einem kann ich Michael Schneider nicht zustimmen: darin, daß er die an politischen Gefangenen und den Insassen von Armenhospitälern 1792 in Paris verübten Septembermorde, bei deren Darstellung es einem kalt über den Rücken läuft, sowie den Terror Robespierres  "der Masse des hungernden Volkes" anlastet, die ihre Führer dazu gezwungen habe. (S. 499)  Doch stehen dieser Stelle andere und überzeugendere gegenüber, in denen er die Inszenierung derartiger Gewalttaten "von oben", bedingt durch Furcht der damals Herrschenden vor selbst erdachten "Verschwörungen" zwischen ausländischen Mächten und einem Amalgam aus geschlagenen Konterrevolutionären, progressiv gesinnten und meist ärmeren Teilen des französischen Volkes sowie deren kosmopolitischen Freunden aus anderen Ländern, darunter Eulogius Schneider und Anacharsis Cloots, verdeutlicht. Wohl nicht von ungefähr legt der Verfasser die erwähnte Fehleinschätzung seinem Erzähler Jakob Nepomuk Brenner in den Mund, einem früheren Elogius-Freund, der jedoch auch spießbürgerlich-opportunistische Züge aufweist. Nur hätte M. Schneider sagen sollen, daß das nicht seine Meinung darstellt.

     Das Buch ist gut geschrieben, historisch informativ und politisch aufschlußreich. Berichtet wird auch über wenig bekannte Vorgänge, zum Beispiel den, daß ausgerechnet Ludwig XVI., im Hobby-Nebenberuf Metallhandwerker, die Köpfmaschine in Auftrag gab, fachmännisch  begutachtete und schließlich die Form des zu benutzenden Fallbeils bestimmte, mit dem er später selbst hingerichtet wurde. Historische Realitäten und Ergebnisse schriftstellerischer Phantasie sind in dem Buch kaum trennbar miteinander verwoben. Zu hoffen ist auf eine Zweitauflage des Romans im Taschenbuchformat und zum Taschenbuchpreis, damit er mehr Leser findet.


© Manfred Behrend


Quelle:  junge Welt, Berlin,  04.0 3. 2001


Michael Schneider: Der Traum der Vernunft.
Roman eines deutschen Jakobiners Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.

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