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Manfred Behrend
Rezension
Zweitauflage der KPD/O-Geschichte
15 Jahre nach Erscheinen seines zusammen mit Erwin Gräff verfassten
Buches über die Geschichte der KPD(O) hat der Autor eine 125 Seiten stärkere
Zweitauflage herausgebracht. Bei allem, was am Ableben des "Realsozialismus"
zu bedauern ist – es bot zugleich die Chance, an Akten zu kommen, die vordem
hermetisch weggesperrt waren. Zwar ist die Geschichte nicht, wie Bergmann
meint, auch nach hinten offen (S. 386), da sie sich keineswegs zurückdrehen
lässt. Doch fördert bisher unbekanntes Material bislang verschwiegene
Tatsachen zutage und ermöglicht neue Einblicke ins vergangene Geschehen.
Kapitel eins über Vorgeschichte und geistige Wurzeln der am 30. 12.
1928 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (Opposition) entspricht
mit Ausnahme von Abschnitt 1.8 über Entwicklungen in Moskau weitgehend
der ersten Auflage. 1.8 aber weist aus, dass Kampagnen gegen "rechte" Kommunisten
schon unter Kominternpräsident Sinowjew einsetzten. Bereits im Frühjahr
1922 hatten Brandler, Thalheimer, Walcher und Zetkin Grund, sich über
Briefzensur im Zentrum der Weltbewegung zu beschweren und der KI mehr kollektive
Führung sowie weniger Apparat zu empfehlen. (S. 35) Nach dem Oktoberdebakel
1923 in Deutschland wurden Thalheimer und Brandler in Moskauer "Ehrenhaft"
genommen. 1925 urteilte auf Betreiben der ultralinken neuen KPD-Spitze ein
Gericht der KP Russlands wegen angeblicher Fraktionsbildung über sie
und ihre Mitangeklagten, darunter Radek. Es verdonnerte sie zur Nichtbetätigung
in KPD und Komintern. Hierüber wurde erstmals in einem von Bergmann,
Jens Becker und Alexander Watlin edierten Buch (Rez. in ArSti 103, März
1994) berichtet. Nun findet dieser Vorgang auch in der neuen Geschichte der
KPD(O) seinen Niederschlag. Der darauf folgende Abschnitt würdigt Thalheimers
Kritik am Entwurf des KI-Programms 1928 und die Entmachtung Bucharins als
Chef der Komintern.
Kapitel zwei bis fünf gelten der Entwicklung bis zum Machtantritt der
NSDAP in Deutschland. Schwerpunkte sind die politische Plattform der KPD(O),
ihre Faschismustheorie, der Kampf gegen Hitler, Notverordnungskurs, fortschreitenden
Sozialabbau und "Sozialfaschismus"-Doktrin, für die Einheitsfront
der Arbeiter und eine auf Kooperation statt Spaltung gerichtete Gewerkschaftspolitik,
der teils externe, teils interne Streit um das Herangehen an Vorgänge
in der Sowjetunion und an die von der SPD abgespaltene SAP und die verzweifelten
Versuche, durch Gewinnung der großen Arbeiterparteien zum gemeinsamen
Kampf die Nazidiktatur zu verhindern.
Die Darstellung ist gelungen. Gleichwohl gibt es Detaileinwände. Dass
z. B. der Streit mit der KPD, wie in der politischen Plattform beschrieben,
nur taktische Fragen betraf, aber doch "über die Existenz der kommunistischen
Partei" entschied (S. 65), ist ein unversöhnlicher Widerspruch, was auch
gesagt werden sollte. KPdSU, KI und alle von ihnen abhängigen Parteien
dienten nicht mehr der Revolution, sondern vornehmlich der Erhaltung bürokratischer
Herrschaft über die UdSSR; Bergmann steuert Fakten bei, nach denen KPD(O)
und IVKO das sukzessive erkannten. Die Sozialisierungskommission wurde nicht,
wie er auf Seite 89 behauptet, von der Weimarer Nationalversammlung 1919,
sondern vom Rat der Volksbeauftragten 1918 eingesetzt sowie bald nach den
Märzkämpfen wieder aus dem Amt gedrängt. Erst ihre Nachfolgerin
ab 1920 hatte Zeit zum "Staatsbegräbnis dritter Klasse" für soziale
Transformationen. Bei Erwähnung des Volksentscheids mit Stahlhelm, Deutschnationalen
und Nazis gegen die sozialdemokratische Preußenregierung (S. 95) lässt
Bergmann unerwähnt, dass die KPD-Führung außer Heinz Neumann
dagegen war, von Stalin und Molotow jedoch zur Teilnahme gezwungen wurde.
Das Wort von den "kleinen Zörgiebels" galt nicht, wie der Verfasser meint,
SPD-Proleten (S. 122 und 147), sondern – was noch schlimmer war – deren Kindern.
Trotzkis Ausfälle gegen die KPD(O) kommentiert er mit den Worten, sie
habe glücklicherweise nicht mit gleicher Münze zurückgezahlt.
(S. 170) Wie anders soll man es aber nennen, dass die KPD-Opposition
Zwangsmaßnahmen gegen angeblich von "Trotzkisten" inszenierte Streiks,
dann sogar "antitrotzkistische" Ausfälle und Terrorurteile der ersten
Moskauer Prozesse für berechtigt erklärte? (S. 164, 298 und 300)
In Kapitel sechs bis acht stellt Bergmann die illegale Tätigkeit in
Nazideutschland, Probleme wie das der Volksfrontpolitik, die Beziehungen
zur KP-Opposition und zu linkssozialistischen Parteien anderer Länder
und die IVKO (Internationale Vereinigung der Kommunistischen Opposition) dar.
Neues Material ist über Verfahren vor NS-Tribunalen, das Schicksal Verurteilter
und das der Genossinnen und Genossen in sowjetischer Emigration angefallen.
Der Zoll, den aufrechte Kommunisten zahlen mussten, war ungemein hoch.
Beeindruckt hat mich erneut der Wandlungsprozess in der Einstellung von
KPD(O)-Emigranten zum Stalinismus. Katalysator war der Spanische Bürgerkrieg
1936-1939. Gestützt auf das einst von der Oktoberrevolution errungene
Vertrauenskapital, würgte darin die UdSSR gemeinsam mit der KP Spaniens,
deren katalanischem Ableger PSUC, mit rechten Sozialisten und Anarchisten
sowie bürgerlichen Demokraten die soziale Revolution ab und lähmte
die Widerstandskraft gegen den Faschismus. Die Unterdrückung der
ihnen nahestehenden POUM lehrte die KPD(O)-Führer auch den Mechanismus
der Moskauer Prozesse durchschauen. Im "Internationalen Klassenkampf" brandmarkten
sie die Schändung der proletarischen Diktatur "durch eine Bürokratenclique,
die... die persönliche Diktatur ihres Anführers durch eine blutige
Verfolgung von Tausenden und Abertausenden von Kommunisten zu befestigen
sucht,... die... Lakaiendienste für die imperialistische Bourgeoisie
der demokratischen Länder leistet, wobei sie in Spanien die Rolle des
Schlächters der proletarischen Revolution übernimmt." Im März
1938 fügten sie hinzu, Verteidigung der Sowjetunion erfordere
"die Unterstützung der Bestrebungen der Werktätigen der SU nach
Beseitigung der persönlichen Diktatur Stalins und der Bürokratenwirtschaft..."
(S. 302 f.) Bergmann hat darin Recht, dass die IVKO Härte und Festigkeit
des Stalinschen Apparats unterschätzte. (S. 304) Die KPdSU, von ihr
als gesund angesehen, hatte den Todeskeim in sich. Sie war außerstande,
den Prozess des Übergangs zum Sozialismus in Gang zu setzen.
Mitte der 30er Jahre wandelte sich das Verhältnis der KPD-Opposition
zum Krieg. Es galt nicht die Niederlage jener kapitalistischen Länder
herbeizuführen, die mit der Sowjetunion gegen Nazideutschland kämpfen
würden, wohl aber weiter für die soziale Revolution in jenen Ländern
zu wirken. (S. 315) Trotzki stimmte übrigens hierin wie in anderen Fragen,
so der einer entschiedenen Gegenposition zur Volksfront, sachlich mit Brandler/Thalheimer
überein. Interessant wäre zu erfahren, weshalb es 1938 an der Spitze
der IVKO zur Frontbildung Borochowicz gegen Thalheimer kam. Die Zitate aus
dessen Artikel über die Lage vor dem Münchner Abkommen weisen nichts
aus, das zu beanstanden wäre. (S. 325 f.) Mein Unverständnis in
dieser Sache liegt möglicherweise darin begründet, dass Bergmann
die Argumente der Thalheimer-Kritiker nicht offen legt.
Kapitel neun und zehn haben die Arbeit nach 1945 und die Bedeutung der KPD(O)
für die deutsche und internationale Arbeiterbewegung zum Inhalt. Sie
sind z. T. durch Umstellungen und Zusätze modifiziert. Auffallend ist,
dass die früheren KPD(O)-Mitglieder auf Basis der Erwägungen Thalheimers
und Brandlers entgegen KPD und SPD nicht als Hilfstruppe der jeweiligen Besatzungsmacht
agierten, sondern konsequent Interessen der deutschen Arbeiterklasse vertraten.
Sie verwandten sich für Abrechnung der Deutschen selbst mit dem Faschismus,
gegen Vertreibungen aus den bisherigen Ostprovinzen und gegen Demontagen.
Auf den Vorwurf, Nationalisten zu sein, erwiderten Brandler und Thalheimer:
"Der Kampf für die unentbehrlichen Grundrechte der Nation ist kein ‚Nationalismus’.
Es ist, wie Friedrich Engels wiederholt betont hat, die unentbehrliche Voraussetzung
für den sozialistischen Internationalismus, dass jede Nation zunächst
einmal ‚Herr im eigenen Hause ist’... Wir würden nur dann den Nazis in
die Hände arbeiten, wenn wir ihnen allein den Kampf um die Grundrechte
der Nation überlassen würden... Bourgeois, Junker und Nazis haben
als führende Klassen der Nation den vollständigsten Bankrott erlitten,
der je war. An ihrer Stelle muss die Arbeiterklasse die Führung der Nation
übernehmen." (S. 352)
Die Gruppe Arbeiterpolitik und ihre Nachfolger im Westen würdigt der
Autor wiederum nur kurz. Manches an Erinnerungswertem ist verloren gegangen.
Doch hätte sich aus "Arbeiterpolitik" und "Arbeiterstimme" auch
manches herausholen lassen. Die Darstellung des Umgangs von KPD und SED mit
KPD(O)lern ist ausführlicher. Daran, dass die Parteibürokratie durch
Verfolgung allen kritischen Denkens den sozialistischen Aufbau der SBZ/DDR
und deren Selbstbehauptung im Wettbewerb der Gesellschaftssysteme schadete,
besteht kein Zweifel. (S. 388) Doch ist es unexakt, die Bürokratie pauschal
als "unterwürfig" zu bezeichnen. Das war sie nach oben, nicht nach unten.
Generell ist das Buch inhaltsreich und beweiskräftig. Die für
Kapitalsoffensive und Abbau der Demokratie am Ende der Weimarer Republik
– einen Vorgang, der verteufelt aktuell erscheint – wesentliche Denkschrift
"Aufbau oder Niedergang" des Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom
2. 12. 1929, in dem die spätere Entwicklung quasi vorgezeichnet war,
bleibt bedauerlicherweise unerwähnt.
Spezielle Beachtung verdienen die Kurzbiographien. Sie nehmen 168 statt
vordem 96 Seiten ein. Die Zahl der Lebensläufe erhöhte sich auf
mehr als 360. Vor allem kamen frühere DDR-Bürger hinzu. Doch sind
auch GenossInnen aus Westdeutschland und anderen Staaten, NS-Verfolgte und
Stalin-Opfer stärker vertreten. Entgegen SED und PDS, die im "Biographischen
Lexikon" zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1970 bzw. im Handbuch
"Die SED" von 1997 nur höhere Funktionäre annotierten, und der
SPD, die meines Wissens gar nichts tat, hat Bergmann auch einfache Mitglieder
aufgenommen. Die Zugänge sind Jochen Czerny und Andreas Herbst mit zu
verdanken.
Zu den Zugängen zählen die unter Stalin in der UdSSR Verfolgten
Tatjana Beck, Otto Möller und weitere Elgersburger Glasarbeiter, Friedrich
Stucka, Edda Tennenbaum und deren Sohn Kasimir Jan, ebenso der Literaturwissenschaftler
Hans Mayer, aus der DDR Hermann Grothe, Eugen Podrabsky, der laut Bergmanns
Autobiographie zwielichtige Hermann Scheler und Rudolf Wunderlich, den die
Zentralleitung des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer
entließ, weil er 1970 Kamerad Havemann zur Befreiungsfeier des Zuchthauses
Brandenburg einlud. Ostdeutsche Genossen wurden meist während der Parteiüberprüfung
1951 repressiert, die sich mit in erster Linie gegen ihre frühere Organisation
richtete. KPD-Mitgründer Grothe, später Vorsitzender des Reichsausschusses
der Betriebsräte, war von der KPD 1929 ausgeschlossen worden, weil
er nicht auf der RGO-Liste kandidieren wollte. 1951 begann erneut ein Kesseltreiben
gegen ihn. Der einstige NS-Verfolgte blieb standhaft. Er erklärte der
Grundkommission, Thälmann sei ein Ultralinker und nicht Stalin, sondern
Trotzki engster Mitarbeiter Lenins gewesen. Hierauf schloss ihn die Kreisparteikontrollkommission
aus der SED aus, wogegen seine Parteigruppe protestierte. Es bedurfte harter
"Überzeugungsarbeit", sie weich zu klopfen. (S. 452 f.) Die Lage wurde
noch ernster dadurch, dass die in Grothes Umgebung in der Schorfheide zahlreichen,
von Hass erfüllten Nazis, die vormals Gefolgsleute des "Reichsjägermeisters"
Göring waren, durch den SED-Gewaltakt Auftrieb erhielten. In weniger
schweren Fällen waren Urteile gegen die einstigen KPD(O)-Genossen milder.
Meist wurde ihre Mitgliedschaft auf die Zeit nach der SED-Gründung oder
nach erneutem KPD-Eintritt 1945 zurechtgestutzt. Verschiedentlich ist ihnen
aufgegeben worden, zwei besonders langweilige und verlogene Bücher zu
studieren: den "Kurzen Lehrgang" der Geschichte der KPdSU (B) und die offizielle
Stalinbiographie.
© Manfred Behrend, Berlin 2002


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