Start

Buchveröffentlichungen  









Manfred Behrend

Rezension

Vertaner Aufwand: die West-FDJ

Michael Herms: Hinter den Linien. Westarbeit der FDJ 1945-1956 Metropol Verlag Berlin 2001, 412 Seiten

Herms’ 1999 an der Berliner Technischen Universität verteidigte Dissertation ist die erste ausführliche Geschichte der westdeutschen Freien Deutschen Jugend. Zugleich werden darin deren Verflechtung mit der ostdeutschen Schwesterorganisation und das Wirken der befehlsgebenden Instanzen FDJ-Zentralrat, KPD- und SED-Spitze dargestellt, die ihrerseits in entscheidenden Fragen durch die Sowjetische Militäradministration (SMA) und Moskau inspiriert wurden. Die vorliegende Arbeit war erst möglich, als nach Ende des „Realsozialismus“ die Quellen der Partei- und Organisationshistorie zugänglich wurden. Ihre Ergebnisse drängen einem die Erkenntnis auf, dass sich auch in der Geschichte der westdeutschen FDJ das Mephisto-Wort: „Ein großer Aufwand, schmählich! ist vertan“ bewahrheitet hat. Im Namen unaufhaltsamen politisch-gesellschaftlichen Fortschritts wurde mit Ressourcen und Chancen Schindluder getrieben, was sich zugunsten der imperialistischen Reaktion auswirkte.

Die vier Kapitel historischer Darstellung beginnen mit 1945-1947. Entgegen früheren KPD-Gepflogenheiten wurde damals das Konzept einer „überparteilichen Jugendbewegung“ statt „Parteijugend“ durchgesetzt. Realisiert werden konnte es nur im Osten, wo SMA und KPD-, nach 1946 die SED-Führung das Sagen hatten. Es fand aber auch im Westen bei jungen Kommunisten, Widerstandskämpfern, „Edelweißpiraten“ und politisch indifferenten Jugendlichen Anklang. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung brachte es die anfangs unterschiedlich firmierende westdeutsche FDJ Mitte 1947 dennoch nur auf rund 50 000 Mitglieder, die zu 75 % proletarischer Herkunft waren. (S. 84) Neben der nach Westen weisenden „großen Politik“ und konkurrierenden Jugendverbänden trug hierzu das sogenannte Sektierertum mancher KPD-Genossen bei, die – zuletzt nachdrücklich 1948 -  auf einen Verband nach Art des KJVD orientierten.

Die im zweiten Kapitel behandelten Jahre 1947-1949 waren durch den beginnenden kalten Krieg und Auseinandersetzungen um Westanschluß oder ein neutrales Gesamtdeutschland, speziell auch durch die Wandlung der FDJ zum Kampfverband für Ziele des sowjetisch geführten „demokratischen Lagers“ – später „Weltfriedenslagers“ – gekennzeichnet. Ob dabei die vom Komsomolvorsitzenden Michailow im August 1947 seinem ostdeutschen FDJ-Kollegen Honecker übermittelte Instruktion zum „Vordringen des Verbandes in die Zonen Westdeutschlands“ (S. 90) eine so große Rolle spielte wie vom Verfasser vermutet, sei dahingestellt. Michailow war das Sprachrohr höherer Sowjetinstanzen. Die vom Berliner Zentralrat im Westen durchgedrückte politische Einseitigkeit im UdSSR- und SED-Sinn aber führte zum Scheitern des Projekts der FDJ, am westdeutschen Jugendring mit beteiligt zu sein. Danach hatte die Währungsreform 1948 schwerwiegende Auswirkungen auf die Finanzen und stoppte zeitweise die FDJ-Westoffensive.

Im Kapitel über 1949-1951 beschreibt der Verfasser die Folgen der nun längerfristigen deutschen Teilung, besonders aber der Stalinisierung für die West-FDJ. Zu ihm zählten der massenhafte Einsatz von DDR-Instrukteuren – zuletzt noch nach dem 17. 6. 1953 – in der Bundesrepublik, um dort lebenden Mitstreitern und BürgerInnen die richtige Linie beizubringen, was genauso kostspielig wie kontraproduktiv verlief. Ebenso gehörte dazu die „Säuberung“ von KPD und FDJ von Westemigranten und „Parteifeinden“. Erfahrene Funktionäre wurden durch unerfahrene, oft Kursanten sowjetischer Antifa-Schulen, ersetzt. Der Wandel der westdeutschen FDJ zum Kampagnenhelfer wider Adenauers Politik hatte eine drastische Einschränkung eigener Bündnisfähigkeit zur Folge. Angeregt durch Walter Ulbricht, wandte sich die FDJ-Spitze ehemaligen Führern der Hitlerjugend als möglichen Kampfpartnern gegen das Bonner Regime zu, musste aber den Plan schnell aufgeben, um nicht in den Sog des drohenden Verbots der neonazistischen SRP zu geraten. (S. 210 ff.) Die Teilnahme an Aktionen zur Rettung Helgolands vor britischen Bombenzielwürfen und gegen den Einbau von Sprengkammern in Brücken für den Kriegsfall hatte Kontroversen mit westlichen Besatzern zur Folge. Auch brachte es Kontakte zu Provokateuren mit sich, die  einen US-Militärzug in Bremen entgleisen lassen wollten. (S. 218) Einzelheiten über die  Affäre nennt Herms leider nicht. Sie führte nach meiner Kenntnis u. a. dazu, dass nicht daran beteiligte Instrukteure aus der DDR zur eigenen Sicherheit zurückgerufen wurden. Der für das erste FDJ-Deutschlandtreffen 1950 gehegte, von Honecker annullierte Plan zum „Berlin-Sturm“ diente Bundeskanzler Adenauer später als Argument, über die „Schutzlosigkeit“ der BRD gegenüber östlichen Invasionen zu klagen und sowohl die Vorarbeiten zum Verbot der westdeutschen FDJ, als auch die zur Wiederbewaffnung des Landes zu forcieren. (S. 206 ff.)

Das vierte Kapitel über Westarbeit 1951-1953 beginnt mit dem Verbot der Volksbefragung gegen die Remilitarisierung. Im Juni 1951, zwei Monate danach, wurde der FDJ jede weitere Betätigung in der Bundesrepublik untersagt, im Juli das Erste Strafrechtsänderungsgesetz beschlossen, das die Straftatbestände Hochverrat, Staatsgefährdung und Geheimbündelei wiedereinführte und so die wichtigsten juristischen Grundlagen zu Hafturteilen gegen 1409 FDJler legte. Herms wendet sich zu Recht gegen die Politik illegalen, im Ergebnis sinnlosen Kampfes gegen die Gesellschaftsordnung der BRD sowie zum Sturz Adenauers, den im November 1952 auch die KPD propagierte. Er versäumt es aber, mit gebotenem Nachdruck darauf hinzuweisen, dass Widerstand gegen die von Westdeutschland ausgehende Remilitarisierung und damit gegen fortgesetzte deutsche Teilung gerechtfertigt war.

Im Mai 1952 brachten KPD und FDJ mit Unterstützung bürgerlicher Gegner der Wiederbewaffnung eine „Friedenskarawane der Jugend“ in Essen zustande. Nach deren Verbot formierten sich mehrfach Demonstrationszüge, in deren einen die angeblich gefährdete Polizei hineinschoss. Dabei fand der junge Münchner Arbeiter Philipp Müller den Tod. Einerseits war in Essen der Versuch gescheitert, mit illegalen Massendemonstrationen gegen Adenauer vorzugehen. Andererseits trug der östliche Propagandafeldzug um den Märtyrer Müller dazu bei, Militarisierung und vormilitärische Ausbildung innerhalb der DDR, vor allem in deren Jugendorganisation, voranzutreiben. Aufschlussreich ist, dass beide Teile der FDJ, der westliche durch Absplitterungen, Verfolgung und Freiheitsstrafen, der östliche mit beginnender Bewaffnung und „Aufbau des Sozialismus“ durch Verlust von 700 000  Mitgliedern, schwere Einbußen erlitten. (S. 286) Sie waren vor allem das Resultat der Einbindung in die abenteuerliche UdSSR- und SED-Politik Anfang der 50er Jahre.

Im Überblick über die Zeit bis 1956 beschreibt der Autor den Fehlschlag geplanter Übereinkünfte der FDJ mit westdeutschen Jugendorganisationen und dem Bundesjugendring zwecks gemeinsamen Vorgehens gegen Wiederbewaffnung, EVG- und NATO-Beitritt. 1956 wurden das Gesetz zur allgemeinen Wehrpflicht verabschiedet und die KPD verboten. Letzteres hat Herms zufolge auch den langwierigen „Tod auf Raten“ der westdeutschen FDJ zum Abschluss gebracht. (S. 297)

Der Autor, der sich vorher bereits mit der Finanzierung dieser Organisation vom Osten her beschäftigte, stellt im fünften Kapitel Probleme der Verbands- und Funktionärsschulung dar. Die der Funktionäre geschah überwiegend an Partei- und Organisationsschulen der Ostzone bzw. DDR. Herms geht auf den Stalinisierungsprozess ein, der durch Schauprozesse in den volksdemokratischen Ländern, „Säuberungen“ und den Zwang zum Studium der „Geschichte der KPdSU (B). Kurzer Lehrgang“ angestoßen resp. beschleunigt wurde. Im Mittelpunkt standen die Vermittlung von „Marxismus-Leninismus“ als Glaubenskanon und die Erziehung der Mitglieder und Funktionäre zu befehlsausführenden Organen. Verbunden mit einer die Realitäten missachtenden Politik schadete das letztlich der eigenen Sache.

Der Autor hat einen aufschlussreichen Beitrag zur west- und gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte und zu ihrer Einbettung in die internationale Entwicklung geleistet. Unberücksichtigt ließ er das vielfach abschreckende Bild, das Sowjetunion, DDR und Volksdemokratien Bürgern der bald im Aufschwung befindlichen Bundesrepublik boten. Eine Reihe von Angaben ist korrekturbedürftig. Das Lied „Paddelboote klar, auf zur frohen Fahrt über den Rhein“ wurde nicht im Zusammenhang mit dem Schutz des Loreleifelsens 1950 kreiert, sondern bereits Jahre vorher in der FDJ gesungen. Die Jugendzeitschrift „Start“ erschien 1946/49 nicht im FDJ-nahen Verlag „Neues Leben“, vielmehr im Berliner Verlag. Stephan Hermlins zum FDJ-Schuljahr herangezogenes Buch „Die erste Reihe“ stellte keinen Roman, sondern eine Sammlung antifaschistischer und kommunistischer Biographien dar. (S. 218, 306 und 327)

Manfred Behrend


(Arbeiterstimme, Nürnberg, Nr. 139, 32. Jg., Frühjahr 2003)








 

GLASNOST, Berlin 1990 - 2019