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Buchveröffentlichungen  











Manfred Behrend

Rezension

Kurt Gossweiler: Die Taubenfuß-Chronik oder Die Chruschtschowiade. Band I, 1953 bis 1964. Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung, München 2002, 412 S.

Acht Jahre lang war Gossweiler SED-Funktionär, danach wurde er Faschismusforscher. Hier erörtert er - mit Rückblicken und Vorschau - Entwicklungen der parteikommunistischen Bewegung und des "sozialistischen Lagers" wesentlich von 1953 bis 1957. Er sammelte zeitgenössisches Material, bereitete es auf und kommentierte es, letztmals 1997. Die Jahre, in denen er sich neben seiner Aspirantur damit beschäftigte, waren für ihn eine Untergrund-Kampfzeit. Er wollte nachweisen, dass – wie ein hochkarätiger französischer Stalinist behauptet hatte – Chruschtschow Trotzkist sei, für später "Aufklärung" darüber vorbereiten und inzwischen intern Dampf ablassen. Im Kreis der Genossen, die oft anders dachten als er, sah er sich zum "geistigen Einzelgängerdasein" verurteilt. (9 und 21 ff.) 1957 verdross ihn, dass eine Aktion gegen den KPdSU-Chef fehlschlug. Über den geglückten Coup von 1964 freute er sich.

Im stillen Kämmerlein hatte Gossweiler ermittelt, dass es auch in der kommunistischen Welt Gute und Böse sowie den Kampf zwischen ihnen gab. Gut und wahr ist demnach das ärgste Märchenbuch der Historienschreibung, die "Geschichte der KPdSU (B) – Kurzer Lehrgang" von 1938, sind die Anklagen und Geständnisse der vorangegangenen Moskauer Prozesse und ihrer Nachfolgeverfahren, die Beschlüsse parteikommunistischer Instanzen der Stalinzeit. Böse ist die Wahrheit darüber.

Als Helden erachtet der Verfasser den mit unermesslicher Autorität und Popularität ausgestatteten Stalin (331 und 348), den "Führer der Echten" Molotow (303), Malenkow und Berija, den Franzosen Guyot, den Albaner Enver Hodscha, Mao Tse-tung, der den "Kurzen Lehrgang" positiv einschätzte (190), die tschechoslowakischen KP-Führer wegen ihrer Ablehnung, Stalinopfer zu rehabilitieren, und Ungarns "stolzen und standhaften Marxisten-Leninisten" Rakosi, "die tragischste Gestalt der revolutionären kommunistischen Bewegung". (19 und 107) Die SED-Führung lobt der Autor, weil sie kein "wehleidiges Geflenne über die Fehler der Vergangenheit" zuließ. Bei ihr gebe es keine "Verräter und Agenten vom Schlage Imre Nagys". (227 und 329) Gossweiler entging, dass der von ihm damals höher als Ulbricht geschätzte Schirdewan 1958 wegen internen Streits, in dem er Konsequenzen im Kampf gegen den "Personenkult" verlangt hatte, gestürzt wurde und somit ebenfalls nicht astrein war. Ein 1956er Schirdewan-Zitat: "Die Entartung kommt... auf Taubenfüßen" (1) nahm er in den Buchtitel auf. Entgangen ist ihm, dass auch Togliatti, den er seiner Kritik an Chruschtschow wegen preist, ein Ketzer gewesen ist. Erklärte er doch im Juni 1956, am System müssten tiefe Veränderungen vorgenommen werden, u. a. wegen "der Notwendigkeit, wirksame Garantien gegen solche Fehler wie die Stalins zu schaffen". Der Verfasser unterschlägt das Zitat.

Von imperialistischen "Hintermännern" abgesehen stellte Chruschtschow seiner Meinung nach den Luzifer dar. Er sei ein "ferngelenkter Langzeitagent", der sich an die Parteispitze emporlaviert habe und nun "nichts Geringeres betreibt, als über die Verwandlung der bolschewistischen Partei in ein Werkzeug der Destruktion... das Land reif zu machen für die Restauration des Kapitalismus". (21, ähnlich 209) "Gesellenstück" der Chruschtschow-Führung sei der 17. Juni 1953 in der DDR gewesen. (225) Tatsächlich gemeint ist der Neue Kurs, den Berija, Malenkow und Molotow mitoktroyierten. Gossweiler rügt den KPdSU-Chef besonders wegen seiner Geheimrede von 1956, einer "nachträglichen Bestätigung der jahrzehntelangen Hetze der Trotzkisten und des anderen Gesindels" gegen Stalin unter Verwendung von Lenins Testament, einem "Hauptrequisit im Arsenal der Trotzkisten". Er verdammt Chruschtschow als "gelehrigsten Schüler Hitlers", der in Demagogie selbst Goebbels übertreffe und dessen Landwirtschaftsprogramm den Stempel "Made in USA" verdiene. (74, 300, 308 f. und 341) Zwei andere Unholde, Tito und Gomulka, kommen ähnlich schlecht weg. Ersterer sei "Dollarpensionär" und "eine Mischung aus Göring und Operettendiktator"; er habe "ohne jeden Anlass zwischen den kommunistischen Parteien eine Auseinandersetzung heraufbeschworen". (180, 190, 212 und 230) Gomulka verkündete Gossweiler zufolge "ein ausgesprochenes Kulaken-Programm", als er auf Freiwilligkeit beim Genossenschaftsbeitritt bestand, und erging sich "in gemeinster antikommunistischer Hetze", indem er (Togliatti gleich) den "Persönlichkeitskult" ein System nannte. (138 und 143) Zu den Schurken zählt neben Nagy auch Janos Kadar. Den jahrelang als US-Agentenführer im Ostblock diffamierten Noel Field attackiert der Autor trotz Gegenbeweisen als "Mitarbeiter von Allen Dulles". (117) Robert Havemann sei "unglaublich demagogisch", weil er das Hören des US-Senders Rias durch Studenten auf mangelnden Kontakt der SED-Oberen zu den Massen zurückführte und für "Verwirklichung der Leninschen Normen des Parteilebens" eintrat. (157)

Das Weltgeschehen ist in Gossweilers Sicht ein Komplott der Bösen, wobei im Hintergrunde Imperialisten die Fäden ziehen. Seine Argumentation läuft auf das Muster hinaus, das Stalin und dessen Helfer den Moskauer Schauprozessen zugrunde legten. Entsprechend trug dies Buch ursprünglich den Titel "Die große, ungeheuerliche Verschwörung und ihre Liquidierung". (24 f.) Von den Invektiven und falschen Thesen hat der Autor keine revidiert. Er meint das heute noch so. Die Fülle inzwischen zugänglicher Dokumente und Fakten beeindruckt ihn nicht. Er wappnete sich durch solide Scheuklappen dagegen. Gossweilers vornehmste Eigenschaft ist, jede ihm genehme Behauptung blind zu glauben und in gleicher Art wie seine Vorbilder zu agieren.

Den Gipfel der Verschwörungsphantasien erklimmt er mit dem Anhang "Unverdächtige Quellen über die Rolle des Mordes zur Vorbereitung der Konterrevolution". Darin listet er Todesfälle internationaler kommunistischer Führer wie Gottwald, Bierut, Thorez und Togliatti als angeblicher Chruschtschow-Opfer auf, kolportiert das Gerücht, bei Stalins Tod hätten Mediziner nachgeholfen, und suggeriert, auch der einstige Chefankläger Wyschinski sei umgebracht worden. (381 ff.) An anderer Stelle (348) nennt er neben Berija Shdanow und Dimitroff Opfer der "Konterrevolution". Da sie schon 1948 bzw. 1949 starben, müsste Stalin hier mit Hand angelegt haben.

Zwecks weiterer "Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung" will Gossweilers gleichnamiger Verlag noch einen zweiten Band herausbringen. Der erste hat als politpsychologische Charakterstudie und durch Auszüge von Texten, die sonst schwer zu finden sind, seinen Sinn. Als Darstellung aktuell-historischer Entwicklungen ist er wegen der zugrunde liegenden, dem subjektiven Idealismus verpflichteten Verschwörungskonstruktion wertlos.

Manfred Behrend, Berlin 2002

(Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, 44. Jg., Heft 1, März 2002)








 

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