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Buchveröffentlichungen  











Manfred Behrend

Rezension

Mario Frank: Walter Ulbricht. Eine deutsche Biografie. Siedler Verlag Berlin 2001, 540 Seiten.

Das Buch erschien sechs Jahre nach der Ulbricht-Biographie" Norbert Podewins (BzG 3/96, 117 ff.) und ist umfangreicher als diese. Hinsichtlich Detailthemen und Bewertung ähneln sich beide. Der in der Schweiz aufgewachsene, in Westdeutschland promovierte, im Anschlussgebiet zum Geschäftsführer eines Druck- und Verlagshauses aufgestiegene Mario Frank erwähnt jedoch den früheren Angehörigen des SED-Apparats Podewin nur am Rande, wofür ihn dieser im ND vom 30. 3. 2001 mit der Rezension "Eine deutsche Biografie, die den Biografen entlarvt. Das hat Ulbricht nicht verdient" abstrafte.

Frank beginnt mit einer Chronologie gravierender DDR-Ereignisse bis September 1953. Die Stellung des damaligen Generalsekretärs des ZK der SED war durch den Neuen Kurs der sowjetischen Führung nach Stalins Tod und eine Mehrheit von Gegenspielern im eigenen Politbüro gefährdet, wurde aber mit dem Eingreifen der Sowjetarmee am 17. Juni gegen die Arbeiter-Rebellion gerettet. Unter Ausnutzung von Berijas Sturz in der UdSSR verstand es Ulbricht, seine Gegner an der SED-Spitze zu entmachten.

Vier Kapitel sind der Kindheit und Jugend des am 30. 6. 1893 in Leipzig geborenen Schneidersohns, seiner Tätigkeit als KPD- und Komintern-Funktionär vor 1933, im westlichen Exil bis 1938 und in der Sowjetunion bis 1945 gewidmet. Seine Arbeit trug vorwiegend organisatorischen Charakter. Angaben über die Entwicklung des Mannes im innerparteilichen Kampf, nach 1933 auch um die KPD-Führerschaft, seine Rolle als Abgeordneter im Sächsischen Landtag und im Reichstag, die  Auseinandersetzungen mit Nazi-Gauleiter Goebbels in Berlin, das Ringen erst um Durchsetzung der Einheits- und Volksfrontlinie, dann um ihre Liquidation, Angaben über Aufklärungsarbeit unter Wehrmachtssoldaten nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion und über Vorbereitungen für die Nachkriegszeit sind teilweise  ausführlicher als anderswo. Fragwürdig erscheint die Mitteilung, das KPD-Politbüro habe im August 1931 beschlossen, den Vorsteher eines Berliner Polizeireviers "zu beseitigen". (90) Ein derartiger Wahnsinnsakt – formelle Beschlussfassung über ein politisches Verbrechen - wurde weder in der 70 Jahre dauernden Diskussion noch bei den vor einem Nazi- und einem BRD-Gericht geführten Prozessen  ruchbar. Unüberzeugend auch das Unterkapitel "Parteiverfahren gegen Ulbricht". Darin geht es nur gelegentlich um das von Willi Münzenberg wegen Intrigantentum und Sabotage am Volksfrontkurs beantragte Verfahren,  hauptsächlich um Materialsammlungen für einen von Stalin geplanten Prozess gegen Münzenberg. (137 ff.)

Die folgenden zwei Kapitel gelten Entwicklungen in Ostdeutschland und Ulbrichts politischer Karriere bis 1958. Beweise dafür, dass beginnend mit dem Aufbau deutscher Verwaltungen, dem moderaten Gründungsaufruf der KPD und dem forcierten Zusammenschluss von KPD und SPD, mit Bodenreform und Verstaatlichung von Industriebetrieben, sich fortsetzend mit  Parteisäuberungen und dem Neuen Kurs alle wesentlichen Vorgänge in SBZ und DDR von sowjetischen Entscheidungen abhingen, sind schon vorher geliefert worden. Der Verfasser vervollständigt sie. Hätte er außer im Moskauer Kominternarchiv auch im näher gelegenen Berliner SED-Archiv geforscht, wäre das Faktenmaterial reichhaltiger. Frank liegt daneben mit seinen Feststellungen, Stalin habe "die Grenze des sowjetischen Imperiums am Rhein" ziehen wollen und 1952 kein neutrales, also nicht in den Westpakt eingebundenes Deutschland angestrebt (206 und 233), bzw. der Kampf gegen den "Titoismus" sei ein "Sozialismus-Schub" gewesen. (211) Detailliert beschreibt er das Drängen des damaligen zweiten Mannes der SED, Karl Schirdewan, ab 1956 auf Entstalinisierungsmaßnahmen. Er stellt es aber fälschlich so dar, als hätten dieser und seine Mitstreiter Ulbricht öffentlich kritisiert. Wie vordem seitens Herrnstadt-Zaisser, geschah alles im stillen Kämmerlein, entwaffneten sich die Rebellen dadurch selbst.

Das Kapitel über den "Privatmann" Ulbricht ist wegen des traurigen Schicksals seiner Adoptivtochter Beate beachtenswert. Durch Verbotsmaßnahmen hat Vater Walter deren Ehe mit einem jungen italienischen Kommunisten zerstören und die Tochter durch administrative  Kaltherzigkeit in den Alkoholismus treiben helfen. Podewin meint, Frank habe sich hier "in die Niederungen der Sprache von Super-Illu" begeben. Es geht aber nicht um sprachliche Floskeln, sondern um Fakten.

Inhalt der nächsten zwei Kapitel sind die Jahre weitgehend uneingeschränkter Diktatur Ulbrichts 1958-1965 einerseits, des sich zuspitzenden Konflikts zwischen ihm, dem Apparat und der an KPdSU-Generalsekretär Breshnew orientierten Gruppe um "Kronprinz" Honecker bis 1971 andererseits. Berichtet hat hierüber vor allem Monika Kaiser in "Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker", Berlin 1997. (BzG 2/1999, 118 ff.) Gleich Podewin befaßt auch Frank sich mit der Rolle des Erstgenannten als Schloßeinreißer und Plattenbau-Baumeister, als  Kulturpolitiker auf dem "Bitterfelder Weg", Amateurjurist, Landesvater, Bereicherer der ML-Theorie, Initiator des Mauerbaus 1961 und des Neuen Ökonomischen Systems. Dass der Erste Sekretär zunehmend am Parteiapparat vorbeiregierte, zaghafte Schritte zur politischen Auflockerung wagte und hierauf von seinen Gegnern zu Rückzügen und zur Kapitulation gezwungen wurde, nachdem es ihm dank Moskaus Eingreifen nicht gelungen war, Honecker abzusetzen, hat Frank herausgearbeitet. Es fehlt auch hier die Erkenntnis: Ulbrichts Politik des Übergangs zur aufgeklärten Monarchie scheiterte nicht nur, weil die sowjetische Führung und der eigene Apparat dagegen waren, sondern vor allem wegen Mangels an Demokratie. Dieser machte es der Parteibasis und großen Teilen des Volkes unmöglich, richtige Ansätze in Ulbrichts technokratischem Reformwerk zu unterstützen. Die Demokratie wurde gerade durch ihn zuvor liquidiert.

Beim Schildern von Fällen, in denen Ulbrichts "junger Mann" Honecker während der 50er Jahre für den Alten Prügel bezog, aber auch von diesem gefördert und gedeckt wurde, geht Frank auf die Berliner Weltfestspiele 1951 ein. Er meint, Mängel bei Unterbringung und Versorgung der DDR-Jugendlichen hätten dazu geführt, dass viele von ihnen Westberlin besuchten. (410) Das trifft so nicht zu. Eher ließen Abenteuerlust, die Attraktivität des Westens und Einladungen führender westlicher Politiker die Mädchen und Jungen zu Grenzgängern werden. Honecker und die SED-Spitze versuchten – was der Verfasser außer acht lässt – den Spieß umzudrehen. Sie schickten am 15. August ganze Marschkolonnen ausgesuchter  Friedensfreunde im Blauhemd nach Westberlin. Die dortige Polizei schlug sie gnadenlos zusammen.

Im letzten Kapitel behandelt der Verfasser die Zeit bis zu Ulbrichts Tod am 1. 8. 1973. Er stellt die infamen Methoden dar, mit denen die Politbürokratie ihren einst hochgelobten, zuweilen kultisch verehrten früheren Führer abwrackte. Odios nimmt sich der Vorwurf des späteren Wirtschaftsdiktators Mittag auf die Klage seines ehemaligen Chefs über das gegen ihn gerichtete Kesseltreiben aus, Ulbricht arbeite intrigantenhaft mit Verdrehungen, Lügen und Verleumdungen. (436) Aufschlussreich sind Hinweise des Autors darauf, dass die sowjetische Führung zwar den Helden dieser Biografie zum Abschuss freigab, zugleich aber dafür sorgte, dass er Ehrenvorsitzender der SED wurde und als Staatsoberhaupt formell ein gewisses Maß Einfluss behielt. Nach seinem Tod setzte sie ein standesgemäßes Begräbnis durch. (445 f.)
Die neue Biographie steht in der Tradition Carola Sterns, welche 1964 in Köln die erste wissenschaftliche Lebensbeschreibung über Ulbricht veröffentlichte. Gleich Podewins Buch von 1995 ist das Franksche kein Meisterwerk, aber ein weiterführendes Gesellenstück. Zu Recht wurden dem Verfasser falsch geschriebene Namen und Nachlässigkeiten in der Bibliographie vorgeworfen.

Manfred Behrend, Berlin 2001








 

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