|
Manfred Behrend
Rezension
34 Jahre nach dem Tode Heinrich Brandlers (1881-1967) liegt erstmals eine
umfassende Biographie vor. Sie basiert auf Material aus zahlreichen Archiven,
darunter dem Berliner Partei- und dem Moskauer Kominternarchiv, sowie ausÂ
zeitgenössischen und späteren Publikationen und ist solide gearbeitet.
Autor Becker will "einem wichtigen, besonders in der kommunistischen Bewegung
umstrittenen Akteur historische Gerechtigkeit widerfahren" lassen. (16) Als
erster befasst er sich ausführlich mit dem Weg des 1881 im nordböhmischen
Warnsdorf geborenen Proletariersohns bis 1918. Brandler trat zum frühestmöglichen
Termin Gewerkschaft und SPD bei. Der Maurer und Fliesenleger war nach Wanderungen
durch verschiedene Länder in Hamburg, Bremen, der Schweiz und Chemnitz tätig.
Als linksstehender Marxist stieß er mit rechten Sozialdemokraten wie August
Winnig und Gustav Noske zusammen. Zugleich freundete er sich mit Johann Knief,
Wilhelm Pieck und Robert Siewert, mit Schweizer Sozialisten und russischen
Emigranten der Lenin-Richtung an. Eines Arbeitsunfalls wegen nicht wehrdienstfähig,
brachte Brandler auch die Weltkriegszeit vorwiegend in Chemnitz zu. Er trug
dazu bei, dass das Büro des Deutschen Bauarbeiterverbands (DBV) zum Kern
des dortigen Spartakusbundes wurde.
1918 Repräsentant des örtlichen Arbeiter- und Soldatenrats, erduldete Brandler
die nach kurzem revolutionärem Aufschwung einsetzende, von rechten SPD-Führern
beförderte Konterrevolution. Der DBV schloss ihn mit 3000 weiteren Kollegen
aus, worauf sie zur KP-nahen Gewerkschaftszentrale gingen. Mit Friedrich
Heckert baute Brandler in Chemnitz den größten deutschen KPD-Bezirk auf.
Dem Kapp-Putsch begegnete er, anders als die Berliner Parteizentrale, mit
einem Aufruf zu sofortigem Streik. Beim Vereinigungsparteitag von KPD und
linker USPD Ende 1920 wirkte er in der Programmkommission und als Referent
mit.
Das längste Buchkapitel ist den Jahren 1921-1923 gewidmet. Es setzt mit Brandlers
Wahl zu einem der zwei Parteivorsitzenden ein. Im Folgemonat war er einer
ernsten Bewährungsprobe, der Märzaktion 1921, ausgesetzt, in der linksradikale
Arbeiter, durch den Einmarsch preußischer Polizei ins Hallenser und Mansfelder
Industrierevier provoziert, unter Führung von Offensivtheoretikern der KPD
und Komintern-Vertretern das fast erloschene Feuer der Revolution wieder
anzufachen suchten. Dies scheiterte, weil die Arbeitermehrheit nicht mitmachte.
Brandler war Becker zufolge einer der ersten, die auf Abbruch drängten. Beim
dritten KI-Kongreß im Juni/Juli 1921 in Moskau übten Lenin und Trotzki vernichtende
Kritik an der Offensivtheorie. Sie forderten Aktionen gemeinsam mit der Majorität
der Arbeiterklasse, um sie im Kampf um ihre Lebensinteressen voranzubringen.
In der KPD wurde die Einheitsfronttaktik nun besonders von Brandler und dem
früheren Offensivtheoretiker August Thalheimer verfochten.
Wegen Hochverrates durch die Märzaktion vor Gericht gestellt, verzichtete
Erstgenannter auf eine provokante Verteidigung, um sich nicht zum Rädelsführer
einer bewaffneten Erhebung abstempeln zu lassen. Er löste dadurch Zorn bei
Ultralinken aus und verlor den Parteivorsitz. Ende Oktober 1921 der Festung
Gollnow entronnen, war er in Moskau als Vizechef der Roten Gewerkschaftsinternationale
und Leiter der Budgetkommission der Komintern tätig. Er wirkte vergeblich
darauf hin, der russischen KI-Verwaltung den Bürokratismus auszutreiben.
Nach Deutschland zurückgekehrt, wurde Brandler am 9. 8. 1922 1. Sekretär
der KPD-Zentrale, d. h. erneut Vorsitzender. Ein Parteitag Ende Januar 1923
stimmte seinem Antrag zu, die Einheitsfronttaktik um ein wichtiges Moment
– Arbeiterregierungen gemeinsam mit Sozialdemokraten – zu bereichern. Diese
seien der Versuch, "im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen
Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen,
Arbeiterpolitik zu treiben". (187) Zu den Nahzielen gehörten die Verbesserung
der Lebenslage der Massen und Abwälzung aller durch Ruhrkampf und Inflation
entstehenden Lasten auf die Besitzenden. Die KPD verstärkte ihre Reihen und
machte linke Sozialdemokraten zu Bündnissen geneigt. In der Partei schrie
die Fischer-Maslow-Gruppe Zeter und Mordio wegen angeblich drohender Sozialdemokratisierung.
Die KPD-Zentrale bestätigte Anfang August das nicht auf sofortigen Bürgerkrieg
gerichtete "Minimalprogramm" und erweiterte es um den Punkt, im Kampf gegen
die aufgekommene faschistische Gefahr das Kleinbürgertum zu gewinnen oder
zu neutralisieren. Â
Ein schwerwiegendes Übel war, dass neben pseudolinken KPD-Führern auch die
der KP Russlands vom Fieber einer angeblich in Deutschland bevorstehenden
Revolution erfasst wurden und den Aufstand empfahlen. Vor Ort verliefen die
Vorbereitungen dilettantisch. In Moskau wurde Brandler unter Druck gesetzt,
bis er einem "deutschen Oktober" zustimmte. Er hat das später seinen größten
Fehler genannt. (226 und 377)
Auf Moskaus Drängen trat die KPD den linken SPD-Regierungen Sachsens und
Thüringens bei. Der erhoffte Zugang zu Polizeiwaffen, um einen faschistischen
Vorstoß von Süden oder die Reichsexekution vom Norden her abwehren zu können,
misslang. Mit dem Segen von Staatsoberhaupt Ebert rückte die Reichswehr in
Mitteldeutschland ein, um SPD-geführte Regionalregierungen zu liquidieren.
Die KPD allein konnte hiergegen nichts ausrichten. Ihre Führung kam überein,
der zum 21. 10. 1923 einberufenen Konferenz von Arbeitervertretern in Chemnitz
einen Generalstreik gegen den Einmarsch vorzuschlagen und das Abstimmungsergebnis
als Test anzusehen, ob der "Oktoberaufstand" möglich sei. Der Test fiel negativ
aus, worauf Brandler die Rebellion absagte. Der dennoch ausbrechende Hamburger
Aufstand demonstrierte, wie Becker feststellt, "was passiert wäre, wenn sich
die KPD anders als im Brandlerschen Sinne verhalten hätte". Der Vorsitzende
habe die Partei "vor einem politischen Totaldebakel" bewahrt. (237)Â Â Â
Der "Dank des Vaterlandes" wurde ihm zuteil, als die Oktoberschlappe zum
Streitobjekt im Kampf um Lenins Nachfolge in Sowjetrussland avancierte. Beginnend
mit Sinowjew machten Teile der KI-, KPR- und KPD-Spitze für die von ihnen
mitverursachte Niederlage Brandler zum Sündenbock. Sie bezichtigten ihn und
Thalheimer, den sowjetischen KPD-Berater Radek und mit ihm Trotzki, versagt
zu haben. Von der Mittelgruppe und Überläufern aus der Parteirechten wie
Heckert unterstützt, lösten Fischer, Maslow und Thälmann die bisherige Parteiführung
ab. Zusammen mit dem Ende der Einheitsfrontpolitik führte ihr Kreuzzug widerÂ
die "Rechte" zu schweren Verlusten an Mitgliedern, Attraktivität und Einfluss
der KPD.
1924-1928 waren Brandler/Thalheimer zwangsweise in Moskau interniert. Als
Mitglieder der KP Russlands erhielten sie wichtige Aufgaben, Brandler zeitweilig
im Obersten Volkswirtschaftsrat. Die beiden waren Verbannte, die sich in
KPD-Angelegenheiten "nicht einmischen" durften. Zugleich stellten sie kurzzeitig
Moskaus Kaderreserve für diese Partei dar, falls deren neue, pseudolinke
Führung eine nicht genehme Politik treiben sollte. Generalsekretär Stalin
bot Brandler freie Hand in Deutschland an, sofern ihn dieser in allen sowjetischen
Angelegenheiten unterstütze. (71) Die Unterstützung war unproblematisch:
Brandler war von der Richtigkeit der Stalinschen Innenpolitik überzeugt.
Er ging aber keinen Deal ein. Die neue KPD-Führung wünschte, die Verbannten
sollten möglichst lange in Moskau bleiben: Fischer/Maslow und Thälmann fürchteten
sie als potentielle Konkurrenz. Sie erwirkten ein Verfahren gegen Brandler,
Thalheimer und Radek wegen "Einmischung" und "rechter" Fraktionsbildung.
Ihre Anklage basierte wesentlich auf Kopien gestohlener Briefe und dem Denunziantenbericht
eines früheren Brandleristen. Der Verfasser geht auf interne Querelen wegen
der Ausreisewünsche beider Führer ein. Thalheimer erwirkte seine Ausreise
im Mai, Brandler im Oktober 1928.
Der Verfasser erörtert die Wittorf-Affäre, einen Fall der Unterschlagung
von Parteigeldern, den Thälmann vertuscht hatte. Die Mittelgruppe sogenannter
Versöhnler an der KPD-Spitze erwirkte die Abberufung des Parteivorsitzenden.
Stalin und die Kominternführung setzten ihn wieder ein. Sie gaben das Signal
zu neuer, verstärkter Hetze, in deren Ergebnis die "Versöhnler" unterworfen,
die "Rechten" ausgestoßen und, weil sie an der Forderung nach innerparteilicher
Demokratie festhielten (281), mundtot gemacht wurden. Ende 1928 gründeten
Brandler und seine Anhänger die KPD-Opposition – ein Ereignis, das der Verfasser
mit wenigen Zeilen abtut. (288) Ausführlich berichtet er dagegen über den
Versuch der KPDO, ihre Mutterpartei "zurückzuerobern". Zwar hatte sie die
besseren Argumente, drang aber nicht zu den KPD-Mitgliedern durch, weil der
Parteiapparat diese von äußeren Einflüssen abschirmte.
Die KPDO war keineswegs fehlerfrei. So stellte sie Trotzki, der Brandler
wegen dessen Unterstützung Stalinscher Innenpolitik bei gleichzeitiger Ablehnung
der Moskauer Intervention in andere Parteien des "nationalen Opportunismus"
bezichtigte, als Sowjetfeind hin. (310 f.) Zugleich war die KPDO-Mehrheit
derart auf Rückeroberung der KPD als Ziel fixiert, dass sie Möglichkeiten,
die sich 1931 durch Linksabspaltungen von der SPD für ein Bündnis mit sozialistischen
Kräften eröffneten, nicht nutzte. Paul Frölich und Jacob Walcher, die für
die Nutzung plädierten, wurden per "Körperschaftsdisziplin" aus der Führung
entfernt. Die KPDO verlor ein gutes Drittel der Mitglieder an die neu gegründete
SAP. Ihre Spitze repräsentierte Becker zufolge "einen Generalstab ohne Armee,
der, noch dazu verwickelt in aufreibende Nebenkriegsschauplätze, einen Mehrfrontenkampf
gegen übermächtige Gegner führte". (313)
Vor dem Zugriff der Nazis flüchteten Thalheimer und Brandler 1933 nach Straßburg,
dann nach Paris, schließlich über Südfrankreich nach Kuba. Ihr Tätigkeitsbereich
war anfangs die Internationale Vereinigung der Kommunistischen Opposition
(IVKO), zu der sich Gleichgesinnte mehrerer Länder vereinigt hatten. Nach
dem Zerfall der IVKO nahmen sie zu dem von Linkssozialisten dominierten "Londoner
Büro" Verbindung auf. Becker berichtet über den antifaschistischen Kampf
der KPDO, den Versuch des KPD-Zentralkomitees 1934/35, sie zu vereinnahmen,
über Konflikte, die veränderten Beziehungen Brandlers zu Maslow und seine
Freundschaft zu Isaac und Tamara Deutscher.
Erst allmählich löste sich Brandler, wie der Verfasser feststellt, von dem
Standpunkt, Stalins Repression in der UdSSR diene dem Kampf gegen bürokratische
"Verlotterung" und einer erneuerten proletarischen Diktatur. Noch nach dem
1. Moskauer Prozess war er überzeugt, Trotzki und Sinowjew hätten tatsächlich
Terrorakte organisiert. (332) Nach dem 2. Prozess und den Erfahrungen mit
dem NKWD im Spanischen Bürgerkrieg indes erklärte die IVKO Ende 1937, was
bisher nur "Trotzkisten" zu äußern wagten: Die Sowjetunion liefere "das tragische
Bild der Schändung und des Missbrauchs der proletarischen Diktatur durch
eine Bürokratenclique, die im Lande selbst die persönliche Diktatur ihres
Anführers durch eine blutige Verfolgung von Abertausenden von Kommunisten
zu befestigen sucht und die in den anderen Ländern Lakaiendienste für die
imperialistische Bourgeoisie... leistet". Der 3. Moskauer Prozess gegen ihren
einstigen Bundesgenossen Bucharin 1938 ließ Brandler/Thalheimer zu der Überzeugung
gelangen, Stalin werde nicht zu kommunistischen Grundsätzen zurückkehren.
Indem sein Terror die Grundlagen des Sowjetsystems destabilisiere, arbeite
er Hitler und Chamberlain in die Hände. (333 f.)
Becker stellt an Hand von Schriften Thalheimers dar, wie sich bei diesem
und Brandler die Ausgangslage nach dem zweiten Weltkrieg widerspiegelte.
Sie orientierten auf strikte Wahrung deutscher Arbeiterinteressen und Verzicht
auf Kooperation mit allen Besatzungsmächten. Im Bemühen um Rückkehr in ihre
Heimat stießen sie auf alliierten Widerstand. Brandler hatte erst 1949 damit
Erfolg. Thalheimer starb zuvor in Havanna.
Bis 1956 hat Brandler dem Autor nach gehofft, die Stuttgarter "Arbeiterpolitik"
könne Kern einer neuen kommunistischen Bewegung werden. (349) Das scheiterte
nicht nur an dem zur SPD neigenden Redakteur Hanke, sondern m. E. vor allem
an der generellen Entwicklung in Deutschland, die im Westen zum Wiederaufstieg
eines starken Imperialismus führte, während im Osten die Chance zu sozialistischen
Ansätzen vertan wurde. Becker stellt Brandlers Nachkriegshaltung zum Stalinismus
dar, in dem dieser trotz Bedenken weiter ein "Durchgangsstadium zur Überwindung
der Rückständigkeit" sah. (369) Unterdes wurden seine Anhänger in der DDR
verfolgt, sah er sich im Westen KPD-Attacken ausgesetzt. "Neues Deutschland"
verleumdete ihn als im Dienste der "Trotzkisten" und des USA-Imperialismus
stehend. Im Herbst 1956 versuchte sodann der SED-Apparat, mit dem "Parteifeind"
ins Reine zu kommen. Doch zerschlug sich das an Brandlers Bedingung, erst
die Anschuldigung zurückzunehmen, er sei US-Agent. (365 ff.)
Die letzten Lebensjahre des bedeutenden Kommunisten werden nur kurz wiedergegeben,
wohl deshalb, weil seine Aktivität alters- und krankheitsbedingt erheblich
nachließ. Zur Fertigstellung einer Studie über die UdSSR-Entwicklung kam
er nicht mehr, ebenso wenig zur jahrzehntelang geplanten Autobiographie.
Die Resultate des Buches fasst Becker dahin zusammen, dass Heinrich Brandler
sowohl Vorzüge – große organisatorische und rhetorische Fähigkeiten - als
auch Fehler zu eigen waren, so übertriebene Organisationsdisziplin und partielle
Intoleranz. Er sei nie Opportunist oder gar Karrierist gewesen, vielmehr
"ein selbständiger Marxist und Revolutionär und ein Ketzer im marxistisch-leninistischen
Kommunismus, der dafür die Exkommunikation auf sich nahm". (379 f.) Hinzugefügt
sei, dass er genau wie seine Klasse mehr Niederlagen als Triumphe erlebte
und dessen ungeachtet stets auf eine bessere Zukunft vertraute.
Manfred Behrend


|
|