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Buchveröffentlichungen  











Manfred Behrend

Rezension

Jens Becker: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie.
VSA-Verlag Hamburg 2001, 511 S

34 Jahre nach dem Tode Heinrich Brandlers (1881-1967) liegt erstmals eine umfassende Biographie vor. Sie basiert auf Material aus zahlreichen Archiven, darunter dem Berliner Partei- und dem Moskauer Kominternarchiv, sowie aus  zeitgenössischen und späteren Publikationen und ist solide gearbeitet.

Autor Becker will "einem wichtigen, besonders in der kommunistischen Bewegung umstrittenen Akteur historische Gerechtigkeit widerfahren" lassen. (16) Als erster befasst er sich ausführlich mit dem Weg des 1881 im nordböhmischen Warnsdorf geborenen Proletariersohns bis 1918. Brandler trat zum frühestmöglichen Termin Gewerkschaft und SPD bei. Der Maurer und Fliesenleger war nach Wanderungen durch verschiedene Länder in Hamburg, Bremen, der Schweiz und Chemnitz tätig. Als linksstehender Marxist stieß er mit rechten Sozialdemokraten wie August Winnig und Gustav Noske zusammen. Zugleich freundete er sich mit Johann Knief, Wilhelm Pieck und Robert Siewert, mit Schweizer Sozialisten und russischen Emigranten der Lenin-Richtung an. Eines Arbeitsunfalls wegen nicht wehrdienstfähig, brachte Brandler auch die Weltkriegszeit vorwiegend in Chemnitz zu. Er trug dazu bei, dass das Büro des Deutschen Bauarbeiterverbands (DBV) zum Kern des dortigen Spartakusbundes wurde.

1918 Repräsentant des örtlichen Arbeiter- und Soldatenrats, erduldete Brandler die nach kurzem revolutionärem Aufschwung einsetzende, von rechten SPD-Führern beförderte Konterrevolution. Der DBV schloss ihn mit 3000 weiteren Kollegen aus, worauf sie zur KP-nahen Gewerkschaftszentrale gingen. Mit Friedrich Heckert baute Brandler in Chemnitz den größten deutschen KPD-Bezirk auf. Dem Kapp-Putsch begegnete er, anders als die Berliner Parteizentrale, mit einem Aufruf zu sofortigem Streik. Beim Vereinigungsparteitag von KPD und linker USPD Ende 1920 wirkte er in der Programmkommission und als Referent mit.

Das längste Buchkapitel ist den Jahren 1921-1923 gewidmet. Es setzt mit Brandlers Wahl zu einem der zwei Parteivorsitzenden ein. Im Folgemonat war er einer ernsten Bewährungsprobe, der Märzaktion 1921, ausgesetzt, in der linksradikale Arbeiter, durch den Einmarsch preußischer Polizei ins Hallenser und Mansfelder Industrierevier provoziert, unter Führung von Offensivtheoretikern der KPD und Komintern-Vertretern das fast erloschene Feuer der Revolution wieder anzufachen suchten. Dies scheiterte, weil die Arbeitermehrheit nicht mitmachte. Brandler war Becker zufolge einer der ersten, die auf Abbruch drängten. Beim dritten KI-Kongreß im Juni/Juli 1921 in Moskau übten Lenin und Trotzki vernichtende Kritik an der Offensivtheorie. Sie forderten Aktionen gemeinsam mit der Majorität der Arbeiterklasse, um sie im Kampf um ihre Lebensinteressen voranzubringen. In der KPD wurde die Einheitsfronttaktik nun besonders von Brandler und dem früheren Offensivtheoretiker August Thalheimer verfochten.

Wegen Hochverrates durch die Märzaktion vor Gericht gestellt, verzichtete Erstgenannter auf eine provokante Verteidigung, um sich nicht zum Rädelsführer einer bewaffneten Erhebung abstempeln zu lassen. Er löste dadurch Zorn bei Ultralinken aus und verlor den Parteivorsitz. Ende Oktober 1921 der Festung Gollnow entronnen, war er in Moskau als Vizechef der Roten Gewerkschaftsinternationale und Leiter der Budgetkommission der Komintern tätig. Er wirkte vergeblich darauf hin, der russischen KI-Verwaltung den Bürokratismus auszutreiben.

Nach Deutschland zurückgekehrt, wurde Brandler am 9. 8. 1922 1. Sekretär der KPD-Zentrale, d. h. erneut Vorsitzender. Ein Parteitag Ende Januar 1923 stimmte seinem Antrag zu, die Einheitsfronttaktik um ein wichtiges Moment – Arbeiterregierungen gemeinsam mit Sozialdemokraten – zu bereichern. Diese seien der Versuch, "im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben". (187) Zu den Nahzielen gehörten die Verbesserung der Lebenslage der Massen und Abwälzung aller durch Ruhrkampf und  Inflation entstehenden Lasten auf die Besitzenden. Die KPD verstärkte ihre Reihen und machte linke Sozialdemokraten zu Bündnissen geneigt. In der Partei schrie die Fischer-Maslow-Gruppe Zeter und Mordio wegen angeblich drohender Sozialdemokratisierung. Die KPD-Zentrale bestätigte Anfang August das nicht auf sofortigen Bürgerkrieg gerichtete "Minimalprogramm" und erweiterte es um den Punkt, im Kampf gegen die aufgekommene faschistische Gefahr das Kleinbürgertum zu gewinnen oder zu neutralisieren.  

Ein schwerwiegendes Übel war, dass neben pseudolinken KPD-Führern auch die der KP Russlands vom Fieber einer angeblich in Deutschland bevorstehenden Revolution erfasst wurden und den Aufstand empfahlen. Vor Ort verliefen die Vorbereitungen dilettantisch. In Moskau wurde Brandler unter Druck gesetzt, bis er einem "deutschen Oktober" zustimmte. Er hat das später seinen größten Fehler genannt. (226 und 377)

Auf Moskaus Drängen trat die KPD den linken SPD-Regierungen Sachsens und Thüringens bei. Der erhoffte Zugang zu Polizeiwaffen, um einen faschistischen Vorstoß von Süden oder die Reichsexekution vom Norden her abwehren zu können, misslang. Mit dem Segen von Staatsoberhaupt Ebert rückte die Reichswehr in Mitteldeutschland ein, um SPD-geführte Regionalregierungen zu liquidieren. Die KPD allein konnte hiergegen nichts ausrichten. Ihre Führung kam überein, der zum 21. 10. 1923 einberufenen Konferenz von Arbeitervertretern in Chemnitz einen Generalstreik gegen den Einmarsch vorzuschlagen und das Abstimmungsergebnis als Test anzusehen, ob der "Oktoberaufstand" möglich sei. Der Test fiel negativ aus, worauf Brandler die Rebellion absagte. Der dennoch ausbrechende Hamburger Aufstand demonstrierte, wie Becker feststellt, "was passiert wäre, wenn sich die KPD anders als im Brandlerschen Sinne verhalten hätte". Der Vorsitzende habe die Partei "vor einem politischen Totaldebakel" bewahrt. (237)    

Der "Dank des Vaterlandes" wurde ihm zuteil, als die Oktoberschlappe zum Streitobjekt im Kampf um Lenins Nachfolge in Sowjetrussland avancierte. Beginnend mit Sinowjew machten Teile der KI-, KPR- und KPD-Spitze für die von ihnen mitverursachte Niederlage Brandler zum Sündenbock. Sie bezichtigten ihn und Thalheimer, den sowjetischen KPD-Berater Radek und mit ihm Trotzki, versagt zu haben. Von der Mittelgruppe und Überläufern aus der Parteirechten wie Heckert unterstützt, lösten Fischer, Maslow und Thälmann die bisherige Parteiführung ab. Zusammen mit dem Ende der Einheitsfrontpolitik führte ihr Kreuzzug wider  die "Rechte" zu schweren Verlusten an Mitgliedern, Attraktivität und Einfluss der KPD.

1924-1928 waren Brandler/Thalheimer zwangsweise in Moskau interniert. Als Mitglieder der  KP Russlands erhielten sie wichtige Aufgaben, Brandler zeitweilig im Obersten Volkswirtschaftsrat. Die beiden waren Verbannte, die sich in KPD-Angelegenheiten "nicht einmischen" durften. Zugleich stellten sie kurzzeitig Moskaus Kaderreserve für diese Partei  dar, falls deren neue, pseudolinke Führung eine nicht genehme Politik treiben sollte. Generalsekretär Stalin bot Brandler freie Hand in Deutschland an, sofern ihn dieser in allen sowjetischen Angelegenheiten unterstütze. (71) Die Unterstützung war unproblematisch: Brandler war von der Richtigkeit der Stalinschen Innenpolitik überzeugt. Er ging aber keinen Deal ein. Die neue KPD-Führung wünschte, die Verbannten sollten möglichst lange in Moskau bleiben: Fischer/Maslow und Thälmann fürchteten sie als potentielle Konkurrenz. Sie erwirkten ein Verfahren gegen Brandler, Thalheimer und Radek wegen "Einmischung" und "rechter" Fraktionsbildung. Ihre Anklage basierte wesentlich auf Kopien gestohlener Briefe und dem Denunziantenbericht eines früheren Brandleristen. Der Verfasser geht auf interne Querelen wegen der Ausreisewünsche beider Führer ein. Thalheimer erwirkte seine Ausreise im Mai, Brandler im Oktober 1928.

Der Verfasser erörtert die Wittorf-Affäre, einen Fall der Unterschlagung von Parteigeldern, den Thälmann vertuscht hatte. Die Mittelgruppe sogenannter Versöhnler an der KPD-Spitze erwirkte die Abberufung des Parteivorsitzenden. Stalin und die Kominternführung setzten ihn wieder ein. Sie gaben das Signal zu neuer, verstärkter Hetze, in deren Ergebnis die "Versöhnler" unterworfen, die "Rechten" ausgestoßen und, weil sie an der Forderung nach  innerparteilicher Demokratie festhielten (281), mundtot gemacht wurden. Ende 1928 gründeten Brandler und seine Anhänger die KPD-Opposition – ein Ereignis, das der Verfasser mit wenigen Zeilen abtut. (288) Ausführlich berichtet er dagegen über den Versuch der KPDO, ihre Mutterpartei "zurückzuerobern". Zwar hatte sie die besseren Argumente, drang aber nicht zu den KPD-Mitgliedern durch, weil der Parteiapparat diese von äußeren Einflüssen abschirmte.

Die KPDO war keineswegs fehlerfrei. So stellte sie Trotzki, der Brandler wegen dessen Unterstützung Stalinscher Innenpolitik bei gleichzeitiger Ablehnung der Moskauer Intervention in andere Parteien des "nationalen Opportunismus" bezichtigte, als Sowjetfeind hin. (310 f.) Zugleich war die KPDO-Mehrheit derart auf  Rückeroberung der KPD als Ziel fixiert, dass sie Möglichkeiten, die sich 1931 durch Linksabspaltungen von der SPD für ein Bündnis mit sozialistischen Kräften eröffneten, nicht nutzte. Paul Frölich und Jacob Walcher, die für die Nutzung plädierten, wurden per "Körperschaftsdisziplin" aus der Führung entfernt. Die KPDO verlor ein gutes Drittel der Mitglieder an die neu gegründete SAP. Ihre Spitze repräsentierte Becker zufolge "einen Generalstab ohne Armee, der, noch dazu verwickelt in aufreibende Nebenkriegsschauplätze, einen Mehrfrontenkampf gegen übermächtige Gegner führte". (313)

Vor dem Zugriff der Nazis flüchteten Thalheimer und Brandler 1933 nach Straßburg, dann nach Paris, schließlich über Südfrankreich nach Kuba. Ihr Tätigkeitsbereich war anfangs die Internationale Vereinigung der Kommunistischen Opposition (IVKO), zu der sich Gleichgesinnte mehrerer Länder vereinigt hatten. Nach dem Zerfall der IVKO nahmen sie zu dem von Linkssozialisten dominierten "Londoner Büro" Verbindung auf. Becker berichtet über den antifaschistischen Kampf der KPDO, den Versuch des KPD-Zentralkomitees 1934/35, sie zu vereinnahmen, über Konflikte, die veränderten Beziehungen Brandlers zu  Maslow und seine Freundschaft zu Isaac und Tamara Deutscher.

Erst allmählich löste sich Brandler, wie der Verfasser feststellt, von dem Standpunkt, Stalins Repression in der UdSSR diene dem Kampf gegen bürokratische "Verlotterung" und einer erneuerten proletarischen Diktatur. Noch nach dem 1. Moskauer Prozess war er überzeugt, Trotzki und Sinowjew hätten tatsächlich Terrorakte organisiert. (332) Nach dem 2. Prozess und den Erfahrungen mit dem NKWD im Spanischen Bürgerkrieg indes erklärte die IVKO Ende 1937, was bisher nur "Trotzkisten" zu äußern wagten: Die Sowjetunion liefere "das tragische Bild der Schändung und des Missbrauchs der proletarischen Diktatur durch eine Bürokratenclique, die im Lande selbst die persönliche Diktatur ihres Anführers durch eine blutige Verfolgung von Abertausenden von Kommunisten zu befestigen sucht und die in den anderen Ländern Lakaiendienste für die imperialistische Bourgeoisie... leistet". Der 3. Moskauer Prozess gegen ihren einstigen Bundesgenossen Bucharin 1938 ließ Brandler/Thalheimer zu der Überzeugung gelangen, Stalin werde nicht zu  kommunistischen Grundsätzen zurückkehren. Indem sein Terror die Grundlagen des Sowjetsystems destabilisiere, arbeite er Hitler und Chamberlain in die Hände. (333 f.)

Becker stellt an Hand von Schriften Thalheimers dar, wie sich bei diesem und Brandler die Ausgangslage nach dem zweiten Weltkrieg widerspiegelte. Sie orientierten auf strikte Wahrung deutscher Arbeiterinteressen und Verzicht auf Kooperation mit allen Besatzungsmächten. Im Bemühen um Rückkehr in ihre Heimat stießen sie auf alliierten Widerstand. Brandler hatte erst 1949 damit Erfolg. Thalheimer starb zuvor in Havanna.

Bis 1956 hat Brandler dem Autor nach gehofft, die Stuttgarter "Arbeiterpolitik" könne Kern einer neuen kommunistischen Bewegung werden. (349) Das scheiterte nicht nur an dem zur SPD neigenden Redakteur Hanke, sondern m. E. vor allem an der generellen Entwicklung in Deutschland, die im Westen zum Wiederaufstieg eines starken Imperialismus führte, während im Osten die Chance zu sozialistischen Ansätzen vertan wurde. Becker stellt  Brandlers Nachkriegshaltung zum Stalinismus dar, in dem dieser trotz Bedenken weiter ein "Durchgangsstadium zur Überwindung der Rückständigkeit" sah. (369) Unterdes wurden seine Anhänger in der DDR verfolgt, sah er sich im Westen KPD-Attacken ausgesetzt. "Neues Deutschland" verleumdete ihn als im Dienste der "Trotzkisten" und des USA-Imperialismus stehend. Im Herbst 1956 versuchte sodann der SED-Apparat, mit dem "Parteifeind" ins Reine zu kommen. Doch zerschlug sich das an Brandlers Bedingung, erst die Anschuldigung zurückzunehmen, er sei US-Agent. (365 ff.)

Die letzten Lebensjahre des bedeutenden Kommunisten werden nur kurz wiedergegeben, wohl deshalb, weil seine Aktivität alters- und krankheitsbedingt erheblich nachließ. Zur Fertigstellung einer Studie über die UdSSR-Entwicklung kam er nicht mehr, ebenso wenig zur jahrzehntelang geplanten Autobiographie.

Die Resultate des Buches fasst Becker dahin zusammen, dass Heinrich Brandler sowohl Vorzüge – große organisatorische und rhetorische Fähigkeiten - als auch Fehler zu eigen waren, so übertriebene Organisationsdisziplin und partielle Intoleranz. Er sei nie Opportunist oder gar Karrierist gewesen, vielmehr "ein selbständiger Marxist und Revolutionär und ein Ketzer im marxistisch-leninistischen Kommunismus, der dafür die Exkommunikation auf sich nahm". (379 f.) Hinzugefügt sei, dass er genau wie seine Klasse mehr Niederlagen als Triumphe erlebte und dessen ungeachtet stets auf eine bessere Zukunft vertraute.

Manfred Behrend








 

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