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Beiträge zur Geschichte  








Manfred Behrend

Die Defensivlösung: Ulbrichts „schreckliche Mauer“


Die Mauer durch Berlin hatte westliche wie östliche Väter. Als Stalin 1948 die Verbindungswege nach Westdeutschland sperren ließ, schlug US-Militärgouverneur Clay vor, ein „bewaffnetes Geleit“ als Blockadebrecher durch die sowjetische Zone zu schicken. 1950 berichtete er darüber in einem Buch - und fügte eine Karte bei, die Westberlin von einer Mauer umgeben zeigt. 1952 gingen einer Ost-Instanz, der DDR-Führung, die von Berlin-West ausgehenden politisch-ideologischen Einflüsse und dortige Agentenzentralen so auf die Nerven, dass sie Stalin bat, die Grenze zu verriegeln. Der indes spekulierte auf eine Einigung mit den Alliierten, die ein neutrales Gesamtdeutschland, hierdurch Sicherheit und hohe Reparationsleistungen für die Sowjetunion bringen sollte, und winkte ab. Auch seine Amtsnachfolger hielten bis weit in die 50er Jahre hinein daran fest, den erstarkenden deutschen Imperialismus durch einen Friedensvertrag zu bändigen und damit gleichzeitig die Westberlinfrage zu lösen. Die Grenze an der Spree sollte bis dahin offen bleiben. Hierfür sprach im übrigen das Faktum, dass die DDR keinen Überseehafen hatte und auf Transporte via Hamburg angewiesen war; zudem stand ihr noch kein Außenring für Bahntransporte um Westberlin herum zur Verfügung. Die Grenze konnte kurzzeitig gesperrt werden, wie das am 17. 6. 1953 durch Sowjettruppen, am 13. 10. 1957 durch die Volkspolizei geschah, nicht jedoch auf Dauer.

Inzwischen stieg die Zahl von Wirtschafts-, aber auch politischen Flüchtlingen aus der DDR. 1956/57 erreichte sie mit 715 329 einen Rekordstand. In Moskau und Ostberlin wurde ein mehrgleisiger Kurs gesteuert, dem abzuhelfen und die deutschen Fragen zu lösen. Erstens wirkte die DDR, wie Walter Ulbricht das beim V. SED-Parteitag im Juli 1958 propagierte, mit sowjetischer Hilfe darauf hin, ihre Wirtschaft bis 1961 „so zu entwickeln, dass die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen der Pro-Kopf-Verbrauch unserer Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft“. Parallel dazu strebten die UdSSR und China danach, die USA bzw. Großbritannien zu überholen. In allen Fällen erwies sich das als Schlag ins Wasser. Zu den Ursachen für die Unlösbarkeit ihrer „ökonomischen Hauptaufgabe“ durch die DDR zählten der fortwährende Abfluss von Menschen und Konsumgütern nach Westen, Experimente mit dem durch Chruschtschow oktroyierten Maisanbau, mit Rinderoffenställen, einem eigenen Flugzeugbau, überhöhten Kohle- und Energieprogrammen.

Zweitens arbeitete die DDR mit Hochdruck am Rostocker Überseehafen und am Güteraussenring, um nicht mehr von der Bundesrepublik abhängig zu sein. In aller Stille wurde ein Plan zur Absperrung Westberlins entwickelt, den der US-Geheimdienst 1958 „Operation Chinese Wall“ titulierte.

Drittens wurde die Sowjetunion neuerlich in der Berlin- und Deutschlandfrage offensiv. Am 27. 10. 1958 forderte sie die Westmächte auf, binnen sechs Monaten Westberlin zu räumen und seine Umwandlung zur Freien Stadt als „selbständige politische Einheit“ zu dulden. Andernfalls werde Moskau einen Separatfrieden mit der DDR schließen und dieser alle aus der Besatzungszeit herrührenden Rechte übertragen, darunter die zur Kontrolle der Verbindungswege zwischen Berlin und der BRD. Am 10. 1. 1959 wurde die Attacke durch einen sowjetischen Friedensvertragsentwurf mit Deutschland fortgesetzt. Vor allem die USA, aber auch Frankreich lehnten die Aufgabe ihrer Rechte strikt ab.

Das sowjetische Ultimatum blieb folgenlos. Es wurde 1961 fallengelassen. Doch trugen seine Existenz bis dahin, die Propagandaschlachten und Auseinandersetzungen, die von der DDR mit einer Einschränkung westdeutscher Besucherzahlen in Ostberlin, von der Bundesrepublik mit zeitweiliger Kündigung des Interzonen-Handelsabkommens mitgeschürt wurden, zur Zuspitzung der Situation und zum erneuten Anschwellen des Flüchtlingsstroms aus Ostdeutschland (1960 = 202 734) bei. Im Kreml gab Chruschtschow Ulbricht zu bedenken, ob man die Westberlingrenze nicht schließen solle. Der war nicht dafür, erhoffte er sich doch von einem Friedensvertrag und der Übergabe der Kontrollrechte an sein Land mehr Souveränität und die internationale Anerkennung des „deutschen Friedensstaates“.

Unter diesem Aspekt ist auch der berühmte Ausspruch des Ersten Sekretärs des ZK der SED bei einer Pressekonferenz am 15. 6. 1961 zu verstehen. Auf die Frage, ob die DDR ihre Grenze am Brandenburger Tor errichten wolle, erwiderte er, dies so zu verstehen, „dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten... Wir sind für vertragliche Regelung der Beziehungen zwischen Westberlin und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik.“ Als Tonaufnahme hört sich das erlesen an. Es trug Ulbricht bald den Vorwurf infamer Heuchelei ein. Indes hatte nicht der erste Mann der DDR, sondern sein Amtsbruder Chruschtschow die Mauer-Vokabel ins Spiel gebracht. Er versicherte vor dem 15. 6. westlichen Vertretern: „Wir denken nicht im Traume daran, eine Mauer durch Berlin zu bauen“, und ließ das Zitat Ulbricht zukommen.

Der Offensivplan zur Lösung der Westberlinfrage hatte inzwischen Löcher bekommen. Beim Treffen mit USA-Präsident Kennedy am 3./4. 6. 1961 in Wien kündigte Chruschtschow an, definitiv zum Jahresende einen Friedensvertrag schließen zu wollen, notfalls allein mit dem ostdeutschen Staat, und diesem dann die alliierten Rechte zu übereignen. Kennedy bezeichnete das Projekt als kriegerischen Akt. Er drohte für den Fall, dass Berlin und mit ihm die US-Streitkräfte in Europa angegriffen würden, mit Gegenwehr unter Anwendung von Kernwaffen. Am 25. 7. verkündete er drei Essentials, die die Sowjetunion beachten müsse: Wahrung der amerikanischen, britischen und französischen Präsenzrechte in Westberlin, freier Zugang dorthin und gesicherte Lebensfähigkeit der Westsektoren. Ein anderer bekannter US-Politiker, der Vorsitzende des Außenpolitischen Senatsausschusses Fulbright, verdeutlichte am 30. 7., dass dies zugleich das Angebot eines gesicherten Status quo an den Osten war: Die Russen hätten die Macht, Westberlin als Fluchtweg zu sperren, wodurch sie keine Verträge verletzen würden. „Ich verstehe nicht, weshalb die DDR-Behörden ihre Grenze nicht schließen, denn ich meine, sie haben alles Recht, sie zu schließen.“

Die Westberlinfrage wurde zur Existenzfrage der DDR, nahm doch der Flüchtlingsstrom, auch infolge westlicher Abwerbung, mehr denn je zu. In knapp zwei Dritteln des Jahres 1961 flohen 236 000 Menschen aus dem „Arbeiter-und-Bauern-Staat“, vor allem Facharbeiter, Handwerker, Ärzte, Spezialisten. Im Juli waren es 1000, Anfang August 1500 pro Tag. In Produktion und Gesundheitswesen klafften Lücken. Westberliner und mit Westmark entlohnte Grenzgänger trugen durch Aufkauf für sie billiger Ostware zu leeren Regalen bei. Die UdSSR konnte die Verluste nicht ausgleichen. Die DDR lief Gefahr, auszubluten. Zugleich wuchs wieder Unzufriedenheit mit dem Ulbricht-Regime. Angesichts enormer Truppen- und Waffenpotentiale in Deutschland konnte das zur Explosion führen.

Ulbricht und Chruschtschow neigten nunmehr zur defensiven Lösung des Problems. Zwar bekräftigte Ersterer noch Ende Juli 1961, er würde auf die Grenzschließung gern verzichten, wenn die andere Seite „zu normalen Beziehungen übergeht“. Einen Monat zuvor aber lud er Sowjetbotschafter Perwuchin auf seine Datsche in der Schorfheide ein und machte dem die Hölle heiß. Zusätzlich zum wachsenden Flüchtlingsstrom, so Ulbricht, der das Leben in der DDR zunehmend desorganisiere, gebe es erste Anzeichen für eine bevorstehende Revolte. Anders als 1953 sei diesmal das Eingreifen der Bundeswehr zu befürchten. Bleibe die Situation an der offenen Grenze zu Westberlin so wie jetzt, sei der Zusammenbruch der DDR unvermeidlich. Er warne davor und lehne die Verantwortung ab.

Nach mehrwöchigem Schwanken und internen Beratungen billigte Chruschtschow die Grenzschließung. Am 5. 8. stimmten die Ersten Sekretäre kommunistischer Parteien der Warschauer Paktstaaten dem Plan zu, „an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um das ganze Gebiet Westberlins... eine verlässliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle gewährleistet wird“. Das SED-Politbüro fasste am 7., die Volkskammer am 11. und der DDR-Ministerrat am Abend des 12. 8. entsprechende Beschlüsse. Die Aktion wurde streng geheimgehalten und dem Parlament sehr undetailliert dargestellt. Den Kommandanten der Berliner Westsektoren – damit deren Regierungen – schenkten die Sowjetbehörden am 10. 8. reinen Wein ein.

Um 0.00 Uhr am 13. August 1961 übernahm der Verantwortliche für Sicherheit des SED-Zentralkomitees, Erich Honecker, die Leitung der „Aktion X“. Um 1.40 Uhr wurden Ostberlins Volkspolizei und Kampfgruppen in Alarmbereitschaft versetzt und an die Grenze beordert, um sie zu schließen. Mindestens 1000 Meter von der Demarkationslinie entfernt standen nördlich und südlich von Westberlin Einheiten einer NVA-Schützendivision zum Eingreifen bereit, das aber nicht nötig war.

Stasi-Chef Mielke hatte die Aktion zartfühlend „Rose“ genannt. Näheres über ihren Ablauf mitzuteilen, ist der Fülle einschlägiger Informationen in Presse, Funk und Fernsehen zum 40. Jahrestag wegen überflüssig. Einige Begleitumstände, die gern vergessen werden, sind es nicht. Zunächst die Tatsache, dass neben den Westmächten auch die Bundesregierung unterrichtet war und ebenfalls gelassen reagierte, da es sich um reine Defensivmaßnahmen auf östlichem Gebiet handelte. Kennedy äußerte: „So weit ich in Frage komme, ist die Krise ausgestanden. Wenn die Russen die Absicht gehabt hätten, uns anzugreifen,... würden sie keine Stacheldrahtbarrikaden errichten.“ Kanzler Adenauer bestand darauf, „nichts zu unternehmen, was die Lage nur erschweren, aber nicht verbessern kann“. Er nahm gleich den USA zur Sowjetunion Kontakt auf und versicherte ihr, von BRD-Seite werde nichts passieren. Verteidigungsminister Strauß war darüber erleichtert, dass die Sache glimpflich abgelaufen war, hatte ihn doch amerikanische Gesprächspartner beim USA-Besuch am 14. 7. aufgefordert, einen sowjetischen Truppenübungsplatz in der DDR zu nennen, den sie im Ernstfall atomar bombardieren könnten.

Uninformiert waren der Westberliner Senat und bis zum Vorabend des 13. 8. auch sein Regierender Bürgermeister, SPD-Kanzlerkandidat Brandt, geblieben. Sie reagierten hektisch mit dem vollen Vokabular des kalten Krieges auf „die widerrechtlichen und unmenschlichen Maßnahmen der Spalter Deutschlands, der Bedrücker Ostberlins und der Bedroher Westberlins“, die mitten durch die Stadt „die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen“ hätten.

Eine gleichfalls meist vergessene Äußerung jener Tage stammt von Ulbricht. Um die besonders bei Ostberlinern unpopuläre Trennung von ihren Verwandten und Freunden im Westen der Stadt als große Friedenstat hinzustellen, ersann er eine unmittelbar drohende BRD-Aggression, vor der die DDR die Welt gerettet habe. Er verlautbarte am 18. 8. über Funk und Fernsehen: Pläne der Bonner Regierung „liefen darauf hinaus, durch eine auf die Spitze getriebene Störtätigkeit solche Bedingungen zu schaffen, um nach den westdeutschen Wahlen mit dem offenen Angriff gegen die DDR, dem Bürgerkrieg und offenen militärischen Provokationen beginnen zu können.“ Der später in einer Zeitschrift unternommene Versuch, das glaubhaft zu machen, ist mangels Fakten gescheitert.

Die Befestigungen gegenüber Westberlin und der BRD-Grenze wurden mehr als zwei Jahrzehnte lang verstärkt. Noch 1961 sind die Stacheldrahtsperren in Berlin durch eine steinerne Behelfsmauer, dann diese durch 165,7 km „moderner Grenze“ aus rund vier Meter hohen Betonplatten mit Panzersperren und Beobachtungstürmen ersetzt worden. An der 1400 km langen „Staatsgrenze West“ wurden 1,4 Mill. Minen deponiert, ab 1970 auch sogenannte Selbstschussanlagen. Nach dem 13. 8. 1961 kamen an der Berliner Mauer 239, an der Grenze zur BRD 271 Menschen ums Leben, neben Flüchtigen DDR-Grenzsoldaten.

Dem britischen Geistlichen Oestreicher gegenüber hat Walter Ulbricht 1962 davon gesprochen, die Mauer sei „schrecklich“, doch würden ohne sie viele davonlaufen. Er bekannte sich insofern selbst als Kerkermeister. Zwar war das DDR-Regime keineswegs schlimmer als viele bürgerliche Regimes. Es ist aber ernstlich zu überlegen, ob sich der Mauerbau gelohnt hat. Unter Obhut des von DDR-Seite als „antifaschistischer Schutzwall“ schöngeredeten Monstrums wurden zeitweilig Versuche unternommen, mittels technokratischer Reformen, Auflockerung der Jugend- und Kulturpolitik, später durch umfassenden Wohnungsbau und andere soziale Zugeständnisse die Lebensbedingungen der Massen zu verbessern. Doch reichten die Lockerungsübungen nicht aus, wurden demokratisch-sozialistische Verhältnisse, welche die Bevölkerung mehrheitlich für den Staat hätten gewinnen können, sorgsam vermieden. Ausgerechnet zum Thomas-Münzer-Jahr 1989 verkündete Ulbricht-Nachfolger Honecker, die Mauer werde noch in 50 oder 100 Jahren bestehen bleiben, „wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind“. Monate später sorgten Politbüro und Zentralkomitee der SED selbst dafür, dass Breschen in das Bauwerk geschlagen wurden. Um Kritiker der bürokratischen Diktatur auszumanövrieren, öffneten deren Träger das Tor zur DDR-Übernahme durch den Klassenfeind.

© Manfred Behrend, Berlin 2001










 

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