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Beiträge zur Geschichte  









Kurze Studie über einen Fall

Johannes Agnoli zur "Kanonischen Erklärung" von Horst Mahler

Vorspiel

Drei Verfasser, ehemals Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und aktive Teilnehmer an der 68er Revolte, ob seiner Intelligenz und seiner Vergangenheit berühmt der eine, Horst Mahler, und zwei mir gänzlich unbekannte andere (Maschke und Oberlercher) haben eine "Kanonische Erklärung zur Bewegung von 1968" veröffentlicht, in der sie voll Begeisterung den deutschen Idealismus, genauer: des späten Schelling theosophische Fassung desselbigen, fortsetzen und, von dem Willen beseelt, "die Welt von Gott her zu denken", eine neue Deutung der 68er liefern.

Das, in neun Artikeln wohlgesetzte Dokument erklärt uns etwas, was uns anderen Teilnehmern damals gänzlich unbekannt blieb: daß die 68er Revolte eine nationalrevolutionäre war und daß der Berliner Vietnam-Kongreß im Februar 1968 "die Aufgabe hatte, 'Keimformen einer europäischen Befreiungsfront zu legen, um die Großmächte und ihre Kollaborateure aus Zentraleuropa zu drängen'" (Rabehl dixit).

Beim Vietnam-Kongreß 1968 saß ich oben auf dem Podium - zwischen Peter Weiss und Erich Fried, die sich über Literaturfragen unterhielten. Von einem nationalrevolutionären Aufbruch hatten wir nicht gewußt. Kein Wunder, zwei Juden und ein Italiener dachten an alles Mögliche, nur nicht an die deutsche Nation.

Nach der großen Vietnam-Demonstration, bei der alle möglichen Parolen zu finden waren, nur keine einzige nationalrevolutionäre (das Wort "Zentraleuropa" war gänzlich unbekannt), hielt ich auch eine hoffentlich denkwürdige Rede. Deutschland, Nation, Gott und die Welt, geschweige denn Zentraleuropa, kamen dabei nicht vor. Wir wußten also alle nicht, was wir da in Wirklichkeit veranstalteten.

Hauptstück

"Deutsch sein, heißt Charakter haben". Fichte hatte zwar in seinen "Reden an die deutsche Nation" vergessen, näher zu bestimmen, ob der gemeinte Charakter ein guter oder ein schlechter sei. Das deutsche Wesen war aber allemal festgemacht. Wenn nun Horst Mahler die deutsche und internationale Weltrevolution verkündet, so muß gefragt werden, ob er genuiner Weise ein Deutscher ist. Also Charakter hat.

Charakter heißt: Standfestigkeit, entschiedene Überzeugung, das Stehen, zu dem, was man denkt und was man tut. Wie das Volk es formuliert: Charakter haben, heißt, bei der Stange bleiben. Nun sind Stangen geduldig. Daran wechseln häufig die wehenden Fahnen. Aber die Stange (frei nach Tucholsky) bleibt.

Dem Wechseln der Fahnen entsprechen die Wechselfälle des Lebens. Was Horst Mahler früher war, weiß ich nicht mehr genau. Ich kann mich dunkel erinnern, daß er Verbindungsstudent gewesen sei. Aber Irrtum ist nicht ausgeschlossen.

Als ich ihn kennenlernte, war er Mitglied des SDS und Teilnehmer der sogenannten Keulenriege, gebildet zum Behufe der Verhinderung linksradikaler Kinderkrankheiten im SDS. Bei den Keulenriegen war er der Entschiedenste und Überzeugteste.

Danach kam die Gründung der Novembergesellschaft (die Idee stammte sogar von ihm), in der andere Positionen vertreten wurden als die des SDS. Horst Mahler war einer der entschlossensten Vertreter dieser neuen Positionen. Die Novembergesellschaft gründete dann den Republikanischen Club, das zweite gesellschaftliche Bein der 68er Revolte. Grundgedanke (nicht von Gott her): Die Gesellschaft müsse gründlich verändert werden. Horst Mahler war wieder überzeugt und entschieden dabei. Die Nation? Im Republikanischen Club eine unbekannte Größe.

Der Wechselfall des Lebens führte Horst Mahler in die Rote Armee Fraktion (RAF). Auch hier nach wie vor fest entschieden und überzeugt. In einem mittelöstlichen Lager lernte er die Handhabung von Feuerwaffen, an deren unmittelbarem Gebrauch er zu seinem Glück und zum Glück der ganzen Nation rechtzeitig durch Verhaftung gehindert wurde.

In der Haftanstalt zu Berlin begann sich Sinnvolles zu entwickeln. Statt zu lamentieren (ich besuchte ihn in der Strafanstalt), widmete er sich philosophischen Studien. Er las Hegel, Hegel und noch mal Hegel. Dies führte zu einer wesentlichen Veränderung des Standpunktes.

Ich will nicht sagen, daß er Hegel verstanden, nicht verstanden, mißverstanden hätte. Er machte vielmehr das, was jeder von uns macht, wenn er sich mit Hegel beschäftigt: Er bastelte seinen eigenen Hegel, von dem er wiederum voll überzeugt war.

Nach der Haftentlassung entdeckte er zunächst Rohrmoser, dann Gott und schließlich die Nation. Bei jedem Schritt war Horst Mahler voll überzeugt. Und damit ist die Sache geklärt: die Stange blieb stehen, der Charakter war eindeutig vorhanden. Die Fahnen, also die Inhalte, wechselten zwar, aber der Charakter blieb durch alle Wechselfälle erhalten: immer jeweils voll überzeugt, immer jedesmal entschiedener Vertreter des neuen Standpunktes.

Horst Mahler bleibt immer bei der Stange, sein Charakter steht fest, er ist zur Aufrufung nationalrevolutionärer Bewegungen durchaus berechtigt. Ob seine Deutung der 68er Revolte nun stimmt oder nicht, ist genauso belanglos wie die flatternden Fahnen. Seine Charakterfestigkeit steht fest.

Aber das Leben geht weiter. Horst Mahler wird demnächst wieder etwas Neues einfallen, und er wird immer davon fest überzeugt sein.

Nachspiel

Im "Brei der Begeisterung" (Hegel) sind den Verfassern der "Kanonischen Erklärung", die "Hypochondrischen Winde" (Kant) losgegangen: teils nach oben, da erschien ihnen der Geist der Nation, teils nach unten - als ein in neun Artikeln wohlgegliedertes Dokument.



Quelle: Jungle World, 17.02.1999











 

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